Entwicklungsland Deutschland – Wer gewinnt bei Fachkräfteanwerbung?

Fachkräfteanwerbung
Alltag in einem Kinderkrankenhaus in Chihuahua. Foto: Ezequiel Angeloni

(Berlin, 13. Dezember 2024, npla).- Deutschland ist auf Werbetour. Top qualifizierte Fachkräfte sollen dafür begeistert werden, in Deutschland zu arbeiten – und die Regierungen anderer Länder dafür, mit Deutschland entsprechende Anwerbeabkommen zu schließen. Das Versprechen heißt: Bei Fachkräfteanwerbung gewinnen alle, Deutschland, die Herkunftsländer und die Fachkräfte selbst. Stimmt das? Wir haben den Check gemacht.

Entwicklungsland Deutschland

Sie heißen „hand in hand for international talents“, „partnerschaftliche Ansätze für entwicklungsorientierte Arbeitsmigration“ oder einfach nur „Pflegekräfte aus Mexiko“ – Anwerbeprogramme für ausgebildete Fachkräfte aus Lateinamerika. Es sind vor allem kleine Pilotprojekte, die im Auftrag der Bundesregierung von der Bundesagentur für Arbeit (BA) durchgeführt werden, oft in Zusammenarbeit mit der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ). Die meisten sind lokal begrenzt und rekrutieren nur wenige Dutzend Leute pro Jahr. Angeworben werden Menschen in Mexiko, El Salvador, Kolumbien, Ecuador und Brasilien für die Arbeit in Hotellerie und Gastgewerbe, im Garten- und Landschaftsbau, in Handwerk, Elektronik und IT sowie im Gesundheitswesen.

Gewinnt Deutschland?

532.000 Stellen konnten im Jahresdurchschnitt 2023/24 nicht mit „passend qualifizierten Fachkräften“ besetzt werden. Es fehlt an Personal, das ist offensichtlich. Vor allem im Gesundheitswesen ist der Mangel eklatant. Im Oktober veröffentlichte das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung eine Studie, die zeigt, dass ausländische Pflegekräfte immer mehr dazu beitragen, das deutsche Gesundheitssystem am Laufen zu halten. Ohne ausländische Beschäftigte würde es wohl schon heute kollabieren. Der ehemalige Gesundheitsminister Jens Spahn von der CDU sagte, man könne den riesigen Bedarf nicht mehr allein durch mehr Ausbildung decken. Anwerbung aus dem Ausland sei alternativlos.

Dabei hatte eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung aus dem Jahr 2022 das Gegenteil gezeigt: Viele ehemalige Pflegekräfte sind bereit, wieder in ihren Job zurückzukehren, wenn sich die Bedingungen deutlich verbessern. Das bedeutet konkret mehr Personal, bessere Bezahlung und verlässliche Arbeitszeiten. Hochgerechnet könnten so 300.000 bis 600.000 Vollzeitäquivalente wieder besetzt werden, rechneten die Studienautor*innen vor. Das könnte die erwartete Pflegekräftelücke im deutschen Gesundheitssystem von 500.000 Vollzeitkräften bis 2030 schließen.

Die Plattform für Globale Gesundheit kritisiert, dass die Anwerbung von Pflegekräften aus anderen Ländern – in denen die Arbeitsbedingungen teilweise noch prekärer sind – die bestehenden Strukturen in Deutschland stütze. Reformen könnten verschleppt werden, Bezahlung und Pflegeschlüssel dauerhaft niedrig bleiben. Migrationsexperte Romin Khan von der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di sagt im Interview, dass es deshalb wichtig sei, dass Beschäftigte mit deutscher und anderen Staatsangehörigkeiten sich zusammentun. Menschen, die zum Arbeiten nach Deutschland kommen, seien keine Opfer der Systeme, „sondern Menschen, die genauso Interesse daran haben, ihre Arbeitsbedingungen zu verbessern“.

Tatsächlich belegen auch Studien nicht, dass es eine generelle Tendenz zur Verschlechterung von Arbeitsbedingungen gibt. Wirtschaftswissenschaftler Andreas Steinmayr von der Universität Innsbruck untersucht die wirtschaftlichen Effekte von Arbeitsmigration. Über verschiedene Studien hinweg lasse sich zeigen, dass Arbeitsmigration einen eher positiven wirtschaftlichen Effekt auf die Arbeitsbedingungen in den Zielländern habe. Das treffe allerdings vor allem auf hochqualifizierte Tätigkeiten zu. Im Niedriglohnsektor könnten die Effekte eher negativ sein. Das allgemein zu beurteilen, ist aber kaum möglich. Solche Effekte sind komplex und kontextabhängig, und für den spezifischen Fall von angeworbenen Fachkräften aus Lateinamerika gibt es keine Studien.

Was aber die Untersuchungen von Steinmayr zeigen: Fiskalpolitisch hat Arbeitsmigration vor allem dann positive Effekte, wenn die Migrant*innen jung sind und wenn sie schnell in Beschäftigungsverhältnisse kommen, die ihrer Qualifikation entsprechen. Also, wenn sie sich nicht unter Wert verkaufen müssen. Dann verdienen sie besser, zahlen mehr Steuern und bringen dem deutschen Fiskus mehr, als sie ihn kosten. Außerdem zeigen Studien, dass sich Arbeitsmigration auch positiv auf das Wachstum der Zielländer auswirken kann – zum Beispiel lässt sich das an der Anzahl von Patenten zeigen, die Hochqualifizierte im Zielland anmelden.

Fachkräfteanwerbung ist also aus den meisten Blickwinkeln tatsächlich ein „Gewinn für Deutschland“: für den deutschen Staat, die Unternehmen und für hochqualifizierte Fachkräfte mit deutschem Pass. Einwanderung in den Niedriglohnsektor ist eine andere Geschichte.

Gewinnen die Herkunftsländer?

Mit Patenten von hochqualifizierten Migrant*innen beschäftigt sich auch die Forschung der mexikanischen Ökonomin Mónica Chávez Elorza. Sie untersucht seit vielen Jahren, wie sich akademische Arbeitsmigration aus Mexiko in die USA wirtschaftlich auswirkt. Für sie ist klar: Die Migrant*innen tragen mehr zur wirtschaftlichen Entwicklung der USA als Mexikos bei.

Die staatlichen Rekrutierungsprogramme versprechen, dass sie Brain Drain verhindern wollen und dort rekrutieren, wo junge Erwachsene sonst keine Jobs finden. Die Programme sollen auch in den Herkunftsländern einen positiven Effekt haben: „Geldsendungen der Migrant*innen und langfristiger Know-How-Transfer stoßen entwicklungspolitische Impulse an“, heißt es in einer Broschüre zu Pflegekräfteanwerbung der Bundesagentur für Arbeit und der GIZ. Die Forschung zu Rücküberweisungen zeigt jedoch seit vielen Jahren deutlich, dass diese Geldzahlungen überwiegend in den privaten Konsum fließen. Sie werden nicht investiert, und es fließt davon wenig an den Fiskus, sagt Chávez Elorza: „Die Familien können sich den Zahnarztbesuch leisten oder Fleisch kaufen. Die Lebensqualität steigt. Aber auf der Ebene von staatlicher Entwicklung machen diese Rücküberweisungen kaum einen Unterschied.”

Und ob die Programme dazu führen, dass langfristig Wissen zurück in die Herkunftsländer fließt, bleibt abzuwarten. Eine Möglichkeit wäre, in den Herkunftsländern in Ausbildungsprogramme zu investieren. Das fordert zum Beispiel der Weltbund der Krankenpfleger*innen. Eine strukturelle Finanzierung über einzelne kleine Projekte hinaus gibt es bisher vom deutschen Staat nicht. Und dass die Migrant*innen nach einer Zeit in ihre Heimatländer zurückkehren und dort ihr in Deutschland gewonnenes Wissen in den lokalen Arbeitsmarkt einbringen, ist zumindest unwahrscheinlich. Chávez Elorza konnte über die Jahre beobachten, dass nur ein kleiner Teil der Migrant*innen in einem arbeitsfähigen Alter aus den USA nach Mexiko zurückkehrt.

Es ist zu früh, um zu sagen, wie sich die lateinamerikanische Migration nach Deutschland entwickelt. Aber Chávez Elorzas Forschung kann ein Hinweis sein, in welche Richtung es eher geht: bleiben statt zurückkehren. Dass migrierte Fachkräfte sich später wieder einen Job im Heimatland suchen, kommt vor, ist aber zumindest selten. Wenn die Lateinamerikaner*innen irgendwann massenhaft zurück in ihre Heimatländer gehen, dürfte das eher ein schlechtes Zeichen sein – dafür, dass sich der Zeitgeist in Deutschland noch weiter nach rechts bewegt hat.

Die „entwicklungspolitischen Impulse“ in den Herkunftsländern könnten zwar theoretisch realisiert werden – aber zahlreiche Studien aus anderen Kontexten weisen in eine andere Richtung.

Gewinnen die Menschen, die migrieren?

Die Zwischenbilanz zeigt: Deutschland profitiert überwiegend von den Abkommen. Die Herkunftsländer hingegen nicht, höchstens indirekt. Denn Fachkräfteanwerbeprogramme sind häufig Teil eines Bündels von Abmachungen. Deutschland schließt sie mit Staaten, mit denen es ohnehin enge wirtschaftliche Verbindungen unterhält und wo andere Interessen auf Seiten der Partnerländer eine Rolle spielen können.

Bleibt die Frage, ob die Migrant*innen selbst profitieren. Darauf gibt es so viele Antworten wie Menschen. Während manche das Arbeiten in Deutschland als Abenteuer und Chance sehen, klagen andere über miese Arbeitsbedingungen, bürokratische Hürden und Diskriminierung. Und oft geht beides zusammen. Eine im Oktober veröffentlichte Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung zeigt, dass über die Hälfte der ausländischen Fachkräfte schon mal Diskriminierung in Deutschland erfahren hat.

Bei staatlichen Programmen werden vor allem gut ausgebildete Lateinamerikaner*innen angeworben. Sie haben zumindest technische Schulen abgeschlossen, meistens aber ein etwa fünfjähriges Studium, und sie bringen Berufserfahrung mit. Die Programme begleiten sie bei den – trotzdem noch oft hürdenreichen – bürokratischen Prozessen und legen Wert darauf, dass sie gut betreut werden und schnell ihre Anerkennung schaffen. Doch über die staatliche Programme wird nur eine verschwindend kleine Zahl an Menschen angeworben. Die allermeisten kommen auf Eigeninitiative oder mit privaten Vermittlungsagenturen – und da gehen die Standards weit auseinander. Forscher*innen von der Universität Frankfurt gehen davon aus, dass die staatlichen Anwerbeprogramme nur ein Anschub sind: Sie sollen in den Ländern Vertrauen schaffen, um so den privaten – weniger regulierten – Markt zu stärken.

Bleibt viel zu tun – in Deutschland und global gesehen. Die aktuellen Programme zur Anwerbung von Fachkräften sind keine Entwicklungsprojekte. Damit sie diesen Namen verdienen, bräuchte es von deutscher Seite umfassende Investionen in den Herkunftsländern, vor allem in der Ausbildung. Dadurch könnten sie vielleicht tatsächlich zum Gewinn für alle werden. So, wie sie jetzt aufgestellt sind, helfen die Programme vor allem einem: dem Entwicklungsland Deutschland.

Im onda-Info haben wir zu diesem Thema einen spannenden Audiobeitrag. Der Einzelbeitrag ist hier:

CC BY-SA 4.0 Entwicklungsland Deutschland – Wer gewinnt bei Fachkräfteanwerbung? von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.

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