Von Andreas Behn
(Rio de Janeiro, 19. März 2016, npl).- Der politische Machtkampf in Brasilien geht in eine neue Runde. Die angeschlagene Präsidentin Dilma Rousseff kürte ihren Vorgänger Lula da Silva zum neuen Kabinettschef. Sofort gab es neue Proteste im ganzen Land, die Stimmung auf den Straßen wird rauer und die Polarisierung nimmt zu. Der Chefermittler in Sachen Korruptionsaffäre gießt weiter Öl ins Feuer: Er veröffentlichte ein abgehörtes Telefonat zwischen Rousseff und Lula. Zudem blockierte der Richter am Obersten Gericht, Gilmar Mendes, am Freitag Lulas Amtsantritt und ordnete die Wiederaufnahme von Korruptionsermittlungen an. Die endgültige Entscheidung trifft das Oberste Gericht.
Lula hat jetzt den zweitwichtigsten politischen Posten inne, er amtiert als eine Art Premierminister. Zurecht spotten Kommentator*innen, dass Rousseff „sich selbst zu einer Königin von England“ degradiert hat. Lula hat das Charisma und das politische Fingerspitzengefühl, das Rousseff, die er selbst gegen den erklärten Willen seiner Arbeiterpartei PT zu seiner Nachfolgerin kürte, vermissen lässt. Er regierte von 2003 bis 2010 und gilt als Architekt der erfolgreichen Sozialpolitik, mit der das größte Land Lateinamerikas jahrelang erfolgreich die Armut bekämpft hat.
Ex-Präsident plädiert für Abkehr von Sparpolitik
Kaum jemand zweifelt daran, dass Lula jetzt mehr oder weniger alleine das Ruder übernehmen wird. Vor allem in der Wirtschaftspolitik. Im Gegensatz zu der Sparpolitik von Rousseff fordert er „die Wiederaufnahme eines Wachstumskurses“ durch staatliche Regulierung. Innerhalb der PT und seitens der Gewerkschaften wird Rousseff seit längerem wegen ihrer Austeritätspolitik und einem Entgegenkommen an die marktorientierte Politik der konservative Opposition kritisiert.
„Lula als Minister bedeutet eine Stärkung meiner Regierung“. Er werde „mit den nötigen Vollmachten ausgestattet, um dem Land zu helfen“, erklärte Rousseff nach der Ernennung am Mittwoch. Doch es ist unklar, ob diese Machtrochade die PT-Regierung retten kann. Kurze Zeit später gingen Tausende in zahlreichen Städten auf die Straße und forderten den Rücktritt von Rousseff und jetzt auch von Lula. In wohlhabenden Vierteln von São Paulo, Rio de Janeiro und der Hauptstadt Brasília war Topf-schlagen als Zeichen des Protests zu hören, als eine Rousseff-Ansprache im Fernsehen gezeigt wurde.
Proteste und Polarisierung nehmen zu
Im Gegensatz zu den friedlichen Massendemos am Sonntag, 13. März kam es auch zu Auseinandersetzungen mit der Polizei und vereinzelt zu Handgreiflichkeiten zwischen Kritiker*innen und Anhänger*innen der PT. Auch Tausende Unterstützer*innen der Regierung demonstrierten unter dem Motto „Es wird keinen Staatsstreich geben“. Gewerkschaften und soziale Bewegungen riefen für Freitag, 18. März zu landesweiten Demonstrationen auf.
Aufgrund der mutmaßlichen Verwicklung in den Korruptionsskandal um den halbstaatlichen Ölkonzern Petrobras und einer dramatischen Wirtschaftskrise steht Rousseff mächtig unter Druck. Ihre Beliebtheit beträgt zumindest in Umfragen kaum noch zehn Prozent. Im Kongress, wo die Regierung aufgrund der Spaltung ihrer Koalitionspartner in pro- und contra Rousseff-Fraktionen kaum noch Mehrheiten zusammen bringt, hat die konservative Opposition ein Amtsenthebungsverfahren auf den Weg gebracht.
Untersuchungsrichter Sergio Moro, der auf den Demonstrationen aufgrund seiner spektakulären und medial aufgebauschten Ermittlungen im Korruptionsskandal als Held gefeiert wird, steht ein weiteres mal im Mittelpunkt der erregten Diskussionen. Den Telefonmitschnitt, den er am Mittwoch Nachmittag veröffentlichte, werten er und die Opposition als Beweis dafür, dass Lula nur zum Minister ernannt wurde, um ihn vor einem Strafprozess in Schutz zu nehmen. Die Regierung bezeichnete die Veröffentlichung in einer Erklärung hingegen als „gesetzeswidrig und Verstoß gegen die Verfassung“. Sie kündigte aufgrund des Vorgangs juristische Schritte an. In linken Kreisen wird Moro vorgeworfen, er habe durch politisch gefärbte Ermittlungen einen Ausnahmezustand im Land geschaffen.
Putschgefahr
Es ist ein Ding der Unmöglichkeit, die Regierung von Präsidentin Dilma Rousseff und die Arbeiterpartei in Brasilien zu verteidigen. Beide stecken bis zum Hals in einem Korruptionsskandal. Gemeinsam mit korrupten Bauunternehmen haben sie Milliarden öffentlicher Gelder veruntreut und zum Kauf von politischen Gefälligkeiten von noch dubioseren Politiker*innen verwendet, mit denen eine einst fortschrittliche Partei wie die PT niemals eine Koalition hätte eingehen dürfen. Und es ist schon der zweite Skandal dieser Art. Schon damals, im Jahr 2005, wandten sich viele Linke von der Partei ab, die sie alle gemeinsam in 20 Jahren Aktivismus aufgebaut haben. Hinzu kommt, dass Rousseff auf den Druck der konservativen Opposition mit Entgegenkommen beispielsweise in der Wirtschaftspolitik reagiert und damit auch noch die ihr verbliebene Basis gegen sich aufbringt.
Doch heute muss diese PT-Regierung gegen einen Umsturzversuch verteidigt werden. Die konservative Opposition und wenig durchsichtige rechte Seilschaften blasen mit kräftiger Unterstützung der Massenmedien nicht nur zum Sturz auf eine demokratisch gewählte Regierung, sondern stellen den Rechtsstaat überhaupt in Frage. Dass der Korruptionsermittler Stunden nach der umstrittenen Ernennung von Ex-Präsident Lula zum Kabinettschef ein abgehörtes Telefonat zwischen ihm und Rousseff veröffentlichte, ist eine Provokation, die die aufgeheizte Stimmung im Land zum überkochen bringen kann. Der bislang friedliche Protest von Hunderttausenden gegen eine unbeliebte Regierung beginnt, in handgreifliche Auseinandersetzungen umzuschlagen. Zurecht warnen Jurist*innen, Intellektuelle und Aktivist*innen davor, dass die Stimmung für einen Staatsstreich geschaffen werde.
Lula soll es richten von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
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