(Rio de Janeiro, 4. September 2016, npl).- Brasilien am Tag eins nach dem Putsch. „Marcela Temer wird Sozialprogramm für arme Kinder repräsentieren“, titelte die Zeitung „O Globo“ in ihren Sonderseiten zur Absetzung von Dilma Rousseff, mit der gut 13 Jahre Regierung der Arbeiterpartei PT definitiv zu Ende gingen. Die Botschaft ist unmissverständlich. Sozialpolitik wird unter der neuen Regierung von Michel Temer ungefähr den gleichen Stellenwert haben wie die Erste Dame im Staat. Die ehemalige Schönheitskönigin ist 42 Jahre jünger als ihr Ehemann, dem sie demnächst ein zweites Kind, sein insgesamt sechstes gebären wird. „Criança Feliz – Glückliches Kind“ heißt das Programm, das neu geschaffen wird, um den unzähligen Sozialmaßnahmen aus PT-Zeiten etwas entgegen zu setzen. Von der konservativen Elite, zu der sich die Temers zählen, wurden diese gern als „Wahlkampfgeschenke“ diffamiert. „Sie sorgt sich sehr um die soziale Frage, sie wird hart arbeiten“, lobte der neue Präsident seine Frau.
Diejenigen, die die Amtsenthebung als Putsch bezeichnen, seien die eigentlichen Putschisten, polterte Temer nach seiner Vereidigung am Mittwoch (31.8.). „Sie haben die Verfassung missachtet und die Wirtschaft ruiniert“, rechtfertigt er das Votum von 61 Senator*innen, mehr als die notwendige Zweidrittelmehrheit, die für Rousseffs Absetzung stimmten. Die geschasste erste Frau im höchstens Staatsamt Brasiliens gibt aber nicht auf. Sie hält den Vorwurf illegaler Haushaltstricks für einen Vorwand und bezeichnet ihren früheren Vize Temer als „Verräter und Usurpator“ Noch am Donnerstag reichte sie beim Obersten Gerichtshof Berufung gegen die Entscheidung ein. „Sie glauben, dass sie gewonnen haben. Doch sie irren“, erklärte die bisherige Präsidentin an die Adresse ihrer Widersacher. Die Putschregierung müsse sich auf eine energische und unermüdliche Opposition einstellen, drohte Rousseff.
Rousseff kündigt energische Opposition an
Temer ist ähnlich unbeliebt wie Rousseff. Für die heftige Wirtschaftskrise in Brasilien wird die PT-Regierung verantwortlich gemacht, in Sachen Korruption haben beide, die Arbeiterpartei und Temers PMDB einen miserablen Ruf. Nur Wenige trauen dem 75-jährigen, der kaum Charisma hat aber als begnadeter Strippenzieher gilt, zu, die verkündete „neue Ära“ einzuleiten. Probleme wie Arbeitslosigkeit, Inflation, Defizit und Wachstumsschwäche sind konstant und geben keinen Anlass für kurzfristigen Optimismus.
Temers Aufgabe für die knapp zwei Jahre Restmandat ist klar. Er soll all die unpopulären Maßnahmen durchboxen, die seine konservativ-liberale Koalition für richtig hält, sich aber vor den Kosten und befürchteten Stimmenverlusten scheut. Vorsorglich kündigte Temer bereits an, er werde 2018 nicht kandidieren. Dass ihm ein Gericht wegen illegaler Wahlkampfspenden kürzlich für acht Jahre das Recht auf jedliche Kandidatur absprach, hat ihm diese Entscheidung bestimmt erleichtert.
Bereits Mitte Mai, als er seine Übergangsregierung bildete, stellte der neue starke Mann die Weichen für den Rechtsruck. Er präsentierte ein ausschließlich weißes Männerkabinett und schaffte die Ministerien für Kultur und Menschenrechte ab. Die angekündigte Sparpolitik kam aber noch nicht richtig in Gang, da viele Klientelgruppen zuerst mit großzügigen Abfindungen – meist in Form von parlamentarisch abgesegneten Lohnerhöhungen – belohnt werden musste. Die PMDB ist unbestrittener Meister in dieser Politik des Gebens und Nehmens. Doch schon drohen Kommentator*innen im „Globo“, die „Geduld des Marktes“ sei nicht endlos, und fordern eine konsequente Ausgabenkürzung.
Brasiliens Sozialstaat steht auf dem Spiel
Die Pläne für den Umbau des Sozialstaates liegen in der Schublade. Als erstes soll das Rentensystem reformiert werden. Die geplante Einführung eines Mindestalters für den Rentenbezug bedeutet für diejenigen, die früh mit Erwerbsarbeit anfangen mussten, dass sie in Zukunft länger arbeiten müssen, um ihre Rente zu bekommen. Auch eine eventuelle Beitragserhöhung würde vor allem die Ärmeren treffen.
Dann will sich die Temer-Regierung das Arbeitsrecht vorknöpfen, das unter der gewerkschaftsnahen Arbeiterpartei halbwegs einem sozialdemokratischen Standard angeglichen worden ist. Der Wirtschaftsminister dachte schon mal laut darüber nach, die Wochenarbeitszeit zu verlängern. Als sicher gilt, dass die von Industrieverbänden geforderte Flexibilisierung der Outsourcing-Regeln durchgesetzt wird. Der Boom sozialversicherter Jobs, der nach dem ersten Wahlsieg des Ex-Gewerkschafters Lula da Silva im Jahr 2002 die Arbeitslosigkeit auf ein Rekordtief drückte und zu beträchtlichen Einkommenszuwächsen in allen Schichten führte, wird sich sobald nicht wiederholen.
Mit Veränderungen in der Sozialpolitik soll das meiste Geld eingespart und zugleich die Umverteilungspolitik beendet werden. Per Verfassungszusatz will der Kongress die Ausgaben für Bildung und Gesundheit in den nächsten 20 Jahren einfrieren. Steigerungen sollen nur in Höhe der Vorjahresinflation erlaubt sein. Kritiker*innen bezeichnen dies als Konservierung der extremen sozialen Ungleichheit in Brasilien und fordern, zumindest die erwarteten Wachstumsraten auch in den Sozialbereich weiterzuleiten. Außerdem ist eine deutliche Kürzung bei Sozialprogrammen geplant, auch wenn offiziell meist von einer anderen Schwerpunktsetzung die Rede ist. Unter anderem sind Einschnitte beim sozialen Wohnungsbau, bei Universitätsstipendien und bei der Sozialhilfe vorgesehen.
Privatisierungen wie in den 90ern
Das Credo ‚weniger Staat mehr Markt‘ will das Wirtschaftsteam Temers vor allem mit Privatisierungen erfüllen. Neben Infrastrukturprojekten und Verkehrswegen geht es dabei auch um den größten Konzern des Landes, das halbstaatliche Ölunternehmen Petrobras. Als Hort des riesigen Korruptionsskandals, der als Ausgangspunkt der PT-Krise gilt, wird es dem Unternehmen und den gut organisierten Arbeiter*innen schwerfallen, sich gegen die Entstaatlichung zu wehren. Schon jetzt gelten andere Regeln bei der Vergabe von Förderkonzessionen. Festgeschriebene Mindestbeteiligungen von Petrobras bei Förderungen in tiefen Salzschichten auf hoher See sollen ganz gekippt werden.
Der neue Petrobras-Chef Pedro Parente hat vor, einzelne Bereiche des Konzerns abzutrennen und dort mehr Privatkapital zuzulassen. Kritiker*innen befürchten, dass so die lukrativsten Teile verschleudert werden und der Staat auf den Problembereichen sitzen bleibt. Dies war schon bei der Privatisierungswelle Ende der 1990er Jahre so, als Parente mehrere Ministerämter nacheinander bekleidete. Negativbeispiel aus dieser Zeit ist der Telekommunikationsbereich: In kaum einem Land sind Handy-Gespräche so teuer wie in Brasilien, während Service und Netzgeschwindigkeit miserabel sind.
Es ist nicht zu erwarten, dass Temer und die Interessensgruppen, die hinter ihm stehen, diese ganze Agenda werden durchsetzen können. Aber sie werden es versuchen, das hat schon ihre Hartnäckigkeit bei der Amtsenthebung gezeigt. Statt Neuanfang stehen die Zeichen auf Konfrontation. Gewerkschaften und soziale Bewegungen kündigten Mobilisierungen gegen die neuen Machthaber an. „Auf allen Ebenen werden wir die Demokratie gegen diesen Willkürakt verteidigen“, erklärte Vagner Freitas, Präsident des größten Gewerkschaftsdachverbands CUT. Ziel der Mobilisierung sei es, die „Umverteilung des Reichtums, soziale Gerechtigkeit und die Arbeitsrechte zu verteidigen“, so Freitas. Die fehlende Legitimität der Regierung Temer wird dabei eine wichtige Rolle spielen.
Konfrontation statt Neuanfang von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
Schreibe einen Kommentar