von Luis Hernández Navarro
(Mexiko-Stadt, 30. Oktober 2012, la jornada-poonal).- Michoacán 2012 ist wie Oaxaca im Jahr 2006. Vor wenig mehr als sechs Jahren ordnete der damalige Gouverneur Ulises Ruiz auf dem Grund ehemaligen mexikanischen Präsidenten und Reformers Benito Juárez Repressionsmaßnahmen gegen die Demokrat*innen der Lehrergewerkschaft Sektion 22 an – und setzte damit den ganzen Bundesstaat Oaxaca in Brand.
Knüppel statt Gespräche
Im Morgengrauen des vergangenen 15. Oktober provozierte die Regierung, dass der Protest der Bevölkerung aus den Fugen geriet, als Angehörige der Bundespolizei und der Polizei von Michoacán brutal auf 176 Lehramtsstudent*innen aus Tiripetío, Cherán und Arteaga einschlugen.
Die jungen Student*innen hatten Gespräche mit dem Gouverneur gefordert, um einen Vorschlag zu präsentieren, der die LehrerInnenausbildung des Bundesstaates verbessern sollte. Sie forderten die Suspendierung eines Lehrplans, der nicht mit den Betroffenen diskutiert worden war sowie die Aufstockung der Zahl von Dozent*innen. Eine wirkliche Antwort der Behörden erhielten sie nie. Im Gegenteil, Gouverneur Fausto Vallejo erklärte, auf Druck hin werde er nicht in Verhandlungen treten.
Besetzungen als bewährtes Mittel des Protests
Bereits zwei Monate zuvor hatten an den acht Lehramtsschulen Streiks begonnen. Um den Dialog zu erzwingen, hatten Student*innen Autobusse gekapert und die pädagogischen Einrichtungen besetzt – Praktiken, die bei den sozialen Bewegungen des Bundesstaates seit vielen Jahren Usus sind.
Die Antwort der Bevölkerung auf die Repression gegen die Student*innen war beeindruckend. Tausende Lehrer*innen der Sektion 18 „nahmen“ die Stadt Morelia bei einer Mobilisierung, wie es sie seit Jahren zahlen- und kräftemäßig nicht gegeben hatte, regelrecht ein. Viele indigene Gemeinden der Region Meseta Purépecha erklärten sich solidarisch mit den inhaftierten jungen Menschen.
Die Bewohner*innen der Ortschaft Tiripetío, wo sich die LehrerInnenschule Escuela Normal Rural Vasco de Quiroga befindet, bedeckten die Fenster und Vorhallen ihrer Häuser, bedeckten Pfosten und Autos mit Aufklebern, Kartons und Plakaten, auf denen Slogans zur Unterstützung der Student*innen zu lesen waren. Dabei wurde vor allem eines geäußert: Die Empörung der Bevölkerung angesichts der Brutalität von Bundespolizist*innen und Landespolizist*innen gegenüber den Lehramtsstudent*innen. Die Proteste in Michoacán hielten mehrere Tage ununterbrochen an.
Landesweite Solidarität
Gleichzeitig begannen auch Dozent*innen, Lehrer*innen und Student*innen in anderen Regionen Mexikos ihre Entrüstung zu äußern. Ungeachtet einer Medienkampagne gegen die Inhaftierten weiteten sich die Proteste auf andere Bundesstaaten aus. In Mexiko-Stadt blockierten studentische Kollektive die zentrale Hauptstraße „Avenida de Insurgentes“ (Allee der Aufständischen) und besetzten die Vertretung der Regierung des Bundessstaates Michoacán in der mexikanischen Hauptstadt. In Morelos, Guanajuato, Oaxaca, Chihuahua und Nuevo León gab es Demonstrationen, mehrere Maut-Stellen wurden besetzt.
Die Repression der PRI-Regierung von Fausto Vallejo gegenüber den Lehramtsstudent*innen war schließlich der Tropfen, der das Fass der sozialen Unzufriedenheit zum Überlaufen brachte. Gleichzeitig wurde die Repression zum Katalysator jenes Unmuts, der in ganz Mexiko in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft herrscht.
Gouverneur Vallejo bricht Dialog ab
Die Zusammenstöße sind nichts Neues. Seitdem Vallejo im Februar dieses Jahres die Regierungsgeschäfte des Bundesstaates Michoacán übernahm, haben sich die Auseinandersetzungen verschärft. Sein Entschluss, den bisher über die letzten Dekade hinweg existenten informellen Sozialpakt im Bundesstaat aufzukündigen und den Weg für Verhandlungen mit Vertreter*innen der sozialen Bewegungen zu verschließen, haben einen enormen Unmut ausgelöst. Viele dieser Konflikte habe bereits lange vor Vallejos Amtsantritt bestanden, doch in den neun Monaten seiner Regierung ist dieser Unmut merklich angewachsen.
Die Liste von Konflikten und Problemen, die einer Lösung bedürfen, ist lang: Die Auseinandersetzung um die Universität Nicolaíta, um das Landesweite Ausbildungskolleg für technische Berufsbildung CONALEP (Colegio Nacional de Educación Profesional Técnica), um die Gemeinden Salvador Escalante und Aquila, um die indigenen Gemeinden Capácuaro, Urapicho und Cherán, sind nur einige dieser Fälle.
Der soziale Unmut und die Konfrontationen mit den Mächtigen haben in Michoacán eine lange und blutige Geschichte. Allein zwischen 1988 und 1990 wurden in diesem Bundesstaat 250 Führungspersonen sozialer Bewegungen und der Neocardenistischen Bewegung umgebracht, die für die Demokratie gekämpft hatten. Michoacán wandelte sich aufgrund der Hitze, welche die Kämpfe von Neocardentist*innen und sozialen Bewegungen entwickelten.
Dieser Prozess begann jedoch lange bevor Lázaro Cárdenas Batel 2002 zum Gouverneur wurde. Und den Lehrer*innen der Sektion 18 der Gewerkschaft kam dabei damals eine zentrale Rolle zu, sei es durch ihre eigenen Kämpfe oder als Mittler*innen zwischen verschiedenen sozialen Gruppen und der Regierung des Bundesstaates.
Teilen und spalten
Als Teil dieser Wandlungsprozesse in der Regierung und der Form des Regierens, öffneten die verschiedenen Behörden Räume für Gespräche und Verhandlungen mit Organisationen der Zivilgesellschaft – deren Spaltung sie sofort betrieben und deren Agenda sie übernahmen, ebenso, wie sie die Kooptation einiger ihrer Leiter*innen erreichten. Aus der Regierung heraus wurde der soziale Protest gesteuert, in dem man ihn zersplitterte und Teile daraus wieder aufgriff, jedoch als Teil des eigenen Diskurses. Das hat jedoch nicht verhindern können, dass es gewalttätige Ausbrüche des Unmuts und der Unzufriedenheit gab, wie im Fall der Minenarbeiter*innen von Ciudad Lázaro Cárdenas im Jahr 2006, im Fall der Bewohner*innen von Cherán oder der Lehramtsstudent*innen von Tiripetío dieses Jahr und im Jahr 2008. Doch es hat die Regierbarkeit erleichtert.
Die Enttäuschung über die Regierungen der Partei der Demokratischen Revolution PRD (Partido de la Revolución Democrática), die Krise und das Überleben von Kernen der nichtinstitutionalisierten Linken im Bundesstaat erleichterten in der Folge das Wiederaufleben radikaler Organisationen.
Die Situation wandelte sich grundlegend mit der Machtübernahme von Fausto Vallejo. Er legt ein Gebaren an den Tag, dass stark an die Diktatur von Porfirio Díaz erinnert, indem er die Gefühle der am meisten rückwärtsgerichteten Machtgruppen des Bundesstaates aufnahm und das Schlechteste des autoritären Stils der Partei der Institutionalisierten Revolution PRI (Partido Revolucionario Institucional), wollte der neue Machthaber mit der Kultur und der lokalen Art und Weise, Politik zu betreiben, brechen. Er lehnte Verhandlungsgespräche ab und entschied sich für die Repression gegen die sozialen Bewegungen, die seiner Vision einer neuen Ordnung nicht entsprechen.
Regierung muss nach „Explosion“ einlenken
Am vergangenen 15. Oktober ist das Modell der autoritären Restauration von Fausto Vallejo explodiert. Angesichts des Schreckgespenstes der Ereignisse in der ländlichen Lehrerbildungsstätte Ayotzinapa von vor einem Jahr, am 12. Dezember 2011, angesichts der Verheerungen der Wirtschaftskrise, der öffentlichen Unsicherheit und der angehäuften Beleidigungen durch die neue Regierung provozierte die Repression gegen die Lehramtsstudent*innen einen „Michoacanazo“. Die Krankheit des Regierungschefs und die Gouverneurswahlen haben die Lage noch weiter verkompliziert.
Der lokale Protest traf auf ein landesweit von großer Solidarität geprägtes Klima. Entsprechend positionierten sich die Initiativen #YoSoy132, die Streikenden der Autonomen Universität von Mexiko UACM (Universidad Autónoma de la Ciudad de México), der erfolgreiche Ausstand des Nationalen Polytechnischen Instituts IPN (Instituto Politécnico Nacional) und die erstarkte Landesweite Gewerkschaft der Angestellten im Bildungssektor CNTE (Coordinadora Nacional de Trabajadores de la Educación).
Angesichts dieser Stimmung musste die Regierung des Bundesstaates einlenken, die Verhafteten freilassen und die Lehrplanreform aussetzen. Wäre dies nicht geschehen, hätte es in Michoacán höchstwahrscheinlich einen Flächenbrand gegeben, der den Amtsantritt von Enrique Peña Nieto als neuen Präsidenten Mexikos überschattet hätte. Die ländlichen Lehrerbildungsstätten und die sozialen Bewegungen in Michoacán haben einen Sieg davongetragen.
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