Curuguaty: Das Schweigen wird sein wie ein weiterer Tod

von Irene Ayuso Morillo

(Paraguay, 11. Februar 2013, otramerica).- Am 15. Juni 2012 kam es in Paraguay zu einem tödlichen Zusammenstoß von Landbesetzer*innen und der Polizei. Die Bilanz des so genannten Massakers von Curuguaty: 17 Tote und ein parlamentarischer Staatsstreich. Organisationen von Bäuerinnen und Bauern werden seither zunehmend kriminalisiert, während einem Geschäftsmodell, das mit unbewohntem Land den meisten Profit macht, der Rücken gestärkt wird. Die derzeitige Regierung und die Justiz ergreifen ganz offen Partei – jedoch nicht für die Bauernverbände.

„Was geschah in Curuguaty?“ Mit diesen Worten fordert die paraguayische Gesellschaft die Aufklärung der Ereignisse, die den Tod von 17 Menschen, die größte politische Krise des Landes seit über 20 Jahren und den Sturz einer demokratisch gewählten Regierung zur Folge hatte. Seit Beginn der Demokratie in Paraguay hat kein Vorfall im Umfeld der Landbesetzungen so viele Todesopfer gefordert.

Am 15. Juni 2012 kam es zu einer polizeilichen Intervention bei einer Landbesetzung in Curuguaty im Departement Canindeyú. Bei den Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Besetzer*innen kamen elf Bauern und sieben Polizeikräfte ums Leben; zahlreiche Menschen wurden durch Schüsse verletzt. Diesem Vorfall folgten ein parlamentarischer Staatsstreich und die Absetzung des verfassungsmäßig gewählten Präsidenten Fernando Lugo in einem Verfahren, das nicht länger als 24 Stunden dauerte. Mit der Amtsübernahme durch den bisherigen Vizepräsidenten Federico Franco wurde zu einem weiteren vernichtenden Schlag gegen das demokratische System ausgeholt.

Soweit zu den unmittelbaren Folgen. Was jedoch keinesfalls unerwähnt bleiben darf, sind die Kriminalisierung der Überlebenden, die Parteilichkeit, mit der die Ermittlungen durchgeführt werden, und nicht zuletzt der Mord vom 2. Dezember an dem Bauern Vidal Vega, einem wichtigen Zeugen des Massakers von Curuguaty. Vega starb durch die Hand von Auftragskillern. Dies ist die Geschichte von der Straflosigkeit im Dienste der Landbesitzer.

Landbesitz in Paraguay

Die ungerechte Verteilung des Eigentums an Grund und Boden hat in Paraguay eine lange Tradition. Das wichtigste aller Produktionsgüter ist im Besitz einiger weniger Großgrundbesitzer, in Zahlen: Etwa zwei Prozent der Bevölkerung besitzen ungefähr 90 Prozent des Landes. Nach einem Bericht der International Land Coalition aus dem Jahr 2011 ist Paraguay das Land mit der stärksten Landbesitzkonzentration in ganz Lateinamerika, auf den Plätzen zwei bis vier folgen Brasilien, Uruguay und Panama.

Diese starke Konzentration des Eigentums an Grund und Boden hat von jeher zu sozialen Spannungen geführt. Immer wieder kam es zu Landbesetzungen, Straßensperrungen und Mobilisierungen durch die Landlosenbewegung, immer mit dem Ziel, Anrecht auf wenigstens ein Stück eigenes Land zu bekommen. Auf diese Bemühungen reagiert der Staat gewöhnlich mit Verfolgung, Kriminalisierung der Bauernproteste, Schuldsprüchen und Haftstrafen.

Von 1989 bis 2012 wurden um die 120 Bauern und Bäuerinnen ermordet; keins der Verbrechen wurde jemals aufgeklärt.

Was geschah in Curuguaty?

Man muss sich darüber bewusst sein, dass der Zugang zu eigenem Land nicht nur Großgrundbesitzer, Bauern und Bäuerinnen betrifft. Paraguay ist ein Land, das schon immer auf den Export von Agrargütern angewiesen war und im Weltmaßstab einen sehr hohen Ungleichheitsindex hinsichtlich der Verteilung seines Grundbesitzes aufweist. Beide Faktoren bringen ein großes Konfliktpotential mit sich. In diesem Spannungsfeld positionieren sich die verschiedenen politischen, sozialen, wirtschaftlichen und religiösen Fraktionen entsprechend ihren jeweiligen Interessen.

Beim Konflikt in Curuguaty geht es um ein Stück Land von 2.000 Hektar Größe. Seit 2004 versuchen Bauernverbände, ein Recht auf dieses Land zu bekommen, das ursprünglich von dem Unternehmen La Industrial Paraguaya SA –LIPSA für die Landreform zur Verfügung gestellt wurde. Auf der anderen Seite hat der Unternehmer und Politiker der Colorado-Partei, Blas N. Riquelme den Eigentumstitel beantragt. Seinen Anspruch auf das Land begründet er mit dem Argument, er sei mit seinem Unternehmen Campos Morombí bereits seit 20 Jahren kontinuierlicher Nutzer dieses Gebiets.

Das Unternehmen Campos Morombí erhob gegen die Besetzung des Gebiets Klage wegen illegaler Besetzung einer fremden unbeweglichen Sache, und so kam es am 15 Juni 2012 in Curuguaty zur gewaltsamen Räumung. Fast alle gesellschaftlichen Akteure waren davon ausgegangen, dass der Eigentümer des Gebiets Blas N. Riquelme heißt und dass eine schriftliche Anordnung vorliegt, die „Eindringlinge“ zu vertreiben. So lautet die offizielle Version der Ereignisse, die in den Medien zur Unterstützung der Staatsanwaltschaft verbreitet wurde. Diese setzt ihre parteilich geführten Ermittlungen fort, obwohl im Nachhinein nachgewiesen werden konnte, dass das Unternehmen Campos Morombí gar nicht die Legitimation hatte, eine Besetzung anzuzeigen, da sie nicht über den notwendigen Eigentumstitel verfügte.

Zur Räumung der etwa 60 Bäuerinnen und Bauern waren insgesamt 324 Polizeikräfte angetreten. Die vermeintlichen Besetzer*innen wurden von zwei Seiten von der Polizei eingekesselt. Das Aufgebot der Polizei bestand aus mit Schlagstöcken und Schildern ausgestatteten Anti-Aufruhr-Einheiten, Angehörigen der Nationalpolizei mit Pistolen sowie weiteren, schwer bewaffneten Polizisten, die sich in der hinteren Reihe befanden. Beim Betreten des Geländes trafen sie auf etwa 30 Bäuerinnen und Bauern mit einigen Kindern. Mitten in den Verhandlungen entstand eine Schießerei, die mit sechs toten Polizisten, elf toten Bauern und zahlreichen Verwundeten endete.

Die Situation der Gefangenen und Verwundeten

Bereits unmittelbar nach dem Massaker wurde die Ungleichheit im Umgang mit den Opfern deutlich. Während die verwundeten Polizisten unmittelbar medizinische Hilfe bekamen, wurden Verletzte auf Seiten der Bauernbewegung zum Teil erst noch von den Polizisten gefoltert. Ohne Rücksicht auf die Glaubensriten der paraguayischen Bauern wurden die Toten wie Vieh auf einen alten LKW geworfen und zu ihren Familien gefahren.

Nicht wenige der zivilen Opfer starben erst, nachdem die eigentliche Schießerei vorbei war. Zahlreiche Aussagen deuten darauf hin, dass einige Bauern Opfer von außergerichtlichen Hinrichtungen wurden, nachdem sie der Polizeigewalt überstellt worden waren.

Die Anordnung der Staatsanwaltschaft lautete, alle Menschen, die sich auf dem Gelände befanden zu verhaften, ebenso alle, deren Namen auf einer Liste vermerkt waren, die man auf dem Gelände gefunden hatte, sowie alle, die sich ins Krankenhaus aufgemacht hatten, um ihre Verwandten zu besuchen. Für alle diese Personen wurde Untersuchungshaft verhängt.

Insgesamt 63 Personen werden Straftaten vorgeworfen, elf davon befinden sich in Haft, darunter zwei Frauen. Neun Gefangene traten aus Protest in den Hungerstreik. Mittlerweile befinden sich noch fünf Gefangene im Strafgefängnis Coronel Oviedo, vier weitere konnten die Haft in Hausarrest umwandeln. Zwei Gefangene beschlossen, den Hungerstreik fortzusetzen. Einer ist der Aktivist Rubén Villaba, den die Staatsanwaltschaft als Rädelsführer des Massakers betrachtet. Seine Angehörigen dürfen ihn nicht im Gefängnis besuchen.

Bisher hat die Staatsanwaltschaft noch kein Verfahren zur Untersuchung der Polizeigewalt eröffnet, um dem Vorwurf des Verbrechens gegen die Menschheit nachzugehen. Dieser Vorwurf steht nicht nur wegen des brutalen Vorgehens der Polizeikräfte im Raum, sondern auch wegen der anschließenden Straflosigkeit, auf die besonders ein Bericht der Menschenrechtsorganisation PEICC (Plataforma de Estudios e Investigación de Conflictos Campesinos) hinweist.

Die offizielle Untersuchung

„Sie haben behauptet, ich sei ein Heckenschütze, dabei hatte ich nur eine Machete in der Hand.“ Die Aussage eines Bauern lässt die Serie von Missverhältnissen und Ungereimtheiten erahnen, die die Untersuchung des Vorfalls bestimmen.

Es fängt schon damit an, dass die beiden Einsatzleiter der Räumung, Ninfa Aguilar und Diosnel Giménez, an den anschließenden Ermittlungen beteiligt waren. Dann wird am 20. Juni der Fall dem Richter Jalil Rachid übertragen, der Beziehungen zur Familie des Unternehmers und Colorado-Politikers Blas N. Riquelme hat. Als ob das nicht schon genug wäre, werden wir dann noch in Kenntnis gesetzt, dass Rachid sich nicht in der Lage sieht, den Grad der Beteiligung jedes einzelnen Angeklagten einzuschätzen.

Dennoch zieht er sich nicht zurück, und die Staatsanwaltschaft wird ihre Klage wegen krimineller Zusammenrottung, illegaler Besetzung und vorsätzlicher Tötung problemlos erheben können. „Die Staatsanwaltschaft ist in der Lage nachzuweisen, dass diese Menschen das Feuer eröffnet haben“, tönt Richter Rachid und stützt sich dabei nach eigenen Aussagen auf die Äußerungen einer Person, die sich am Tag des Massakers auf dem Gelände befand. Dass 50 weitere Augenzeugen das genaue Gegenteil aussagen, stört ihn offensichtlich nicht. Selbiges gab die Agentur Nova Paraguay am 11. Februar bekannt.

Der offiziellen Version zufolge wurde die Polizei von den Bäuerinnen und Bauern in einen Hinterhalt gelockt. Auch von sechs Jagdgewehren ist die Rede. Obwohl die tatsächlichen Ereignisse mit diesen Angaben wenig zu tun haben, hält die Staatsanwaltschaft ungebrochen an dieser Version fest. Entgegen ihrem Rechtsauftrag und der üblichen Vorgehensweise hatte die Staatsanwalt zuerst die Schuldfrage geklärt und anschließend die Beweise für ihre Theorie gesucht. In Reaktion auf dieses unsachgemäße Vorgehen veröffentlichte PEICC ihren Alternativbericht, der die fehlenden Garantien einer unparteilichen Ermittlung genauso beim Namen nennt wie die Manipulation von Beweismitteln, die falschen Anschuldigungen und die Kriminalisierung der Bauernbewegung. Zu guter Letzt wirft sie der Staatsanwaltschaft vor, kein einziges Gutachten in der Hand zu haben, das ihre Theorien stützen könnte.

Im Rahmen einer von dem Solidaritätskollektiv Paraguay Resiste organisierten Konferenz wurde der PEICC-Bericht auch in Madrid vorgestellt. Dem Bericht zufolge sind in einem Video, mit dem die Räumung des Geländes gefilmt wurde, Schüsse von automatischen M16-Gewehren zu hören, die in Kriegsgefechten eingesetzt werden. Bei der Auflistung der sichergestellten Beweismittel sind die automatischen Waffen jedoch nicht erwähnt. Man vermutet daher, dass eingeschleuste Heckenschützen auf die Polizisten geschossen haben. Alles in allem scheint es doch mehr als unwahrscheinlich, dass die Bäuerinnen und Bauern ernsthaft vorgehabt haben sollen, sich einem Aufgebot von mehr als 300 Polizisten in den Weg zu stellen, zumal sie auch noch Kinder dabei hatten. Auf dem Video ist die Schießerei zu sehen.

Trotz der erdrückenden Beweislage sträubt sich die Staatsanwaltschaft systematisch, dieser Version zu folgen, denn das würde bedeuten, das ganze abgekartete Spiel auffliegen zu lassen, das dazu diente, die Landlosenbewegung zu stigmatisieren und so einen Präsidenten loszuwerden, der den Basisbewegungen nahe steht. Opfer gibt es nur auf einer Seite: „Die Polizei wird für ihr Vorgehen nicht belangt, aber die Bauern schon. Wir werden regelrecht verfolgt!“ Mario Ferreiro, Präsidentschaftskandidat der Partei Avanza País, erklärte: „Man braucht nur bei Rafael Barret nachzulesen, um zu wissen, wer die Geschichte schreibt und wer die Zukunft gestaltet: Diejenigen, die sterben, sind immer die Söhne des Volkes.“

Presse und Medien sind parteiisch und beschränken sich auf die Verbreitung der offiziellen Version der Staatsanwaltschaft. Die Bauern und Bäuerinnen bekommen überhaupt keine Stimme sondern werden als die bösen Besetzer*innen stigmatisiert, die Polizisten hingegen sind die Opfer. Gegen die Bauern und Bäuerinnen wird Anklage wegen vorsätzlichen Mordes, versuchten vorsätzlichen Mordes, schwerer Körperverletzung, krimineller Zusammenrottung, Nötigung und schwerer Nötigung erhoben.

Es reicht jedoch nicht zu sagen, wer die Schuldigen sind, sondern die Beteiligung muss im Fall jeder einzelnen Person benannt und ihre Schuld nachgewiesen werden. Auch wenn mittlerweile feststeht, dass Blas N. Riquelme überhaupt keinen Eigentumstitel für das Gelände hatte, müssen sich die Angeklagten wegen Besetzung einer fremden Immobilie verantworten, ohne dass der Eigentumsfrage überhaupt weiter nachgegangen worden wäre. Den Angeklagten wird das Recht auf Verteidigung und das Recht auf einen fairen unparteiischen Prozess vorenthalten. Stattdessen läuft gegen sie ein inquisitorisches Verfahren, das mit dem paraguayischen Strafrecht nicht vereinbar ist.

Zivile Proteste

Nach Einschätzung von Menschenrechtsanwalt Orlando Castillo fragen sich etwa 70 Prozent der Bevölkerung, was genau in Curuguaty passiert ist. Daher ist ein Teil der paraguayischen Gesellschaft auch schon mehrfach auf die Straße gegangen, um Gerechtigkeit zu fordern. Am 20. November wurde aus Protest gegen die schlechten Haftbedingungen gegenüber dem Gebäude der Generalstaatsanwaltschaft ein Camp eingerichtet. Am 1. Dezember fand nach der Ermordung von Vidal Vega vor der Staatsanwaltschaft eine Kundgebung statt. Am 10. Dezember, dem Internationalen Tag der Menschenrechte, startete eine Demonstration von der Plaza Uruguaya, und am 15. Januar fand gegenüber dem Pantheon eine Aktion statt, die Kritik an der bereits siebenmonatigen Straflosigkeit seit dem Massaker zum Ausdruck bringen sollte.

Großgrundbesitzer und ihr Business – der Traum eines jeden Agroexporteurs

Die Mächtigen im Staat berücksichtigen weiterhin ausschließlich die Interessen der Großgrundbesitzer und der Agroexporteure. Im Jahr 2000 erlebt der Agrokapitalismus eine neue Blütezeit, angestoßen vom Konzern Monsanto und seiner Wunderwaffe, der genmanipulierten Sojapflanze. Ohne sich um Land- und Menschenrechte zu scheren, breitet sich die genmanipulierte Sojapflanze immer weiter über die Länder der Bauern und die Indígena-Territorien aus.

Wie der spanische Anthropologe Bartomeu Meliá nachweist, wurden zwischen 1997 und 2006 jedes Jahr um die 9.000 Bauernfamilien von ihren Ländern vertrieben und sahen sich gezwungen, sich ihren Platz in den Armenvierteln an den Rändern der großen Städte zu suchen. Paraguay werde damit immer mehr zu einem Land der Entwurzelten. Mit der Ernennung Francos zum neuen Präsidenten im Juni 2012 konnten sich die Konzerne ihre Interessen sichern und die Legalisierung genmanipulierter Pflanzen vorantreiben, um so ihr Agroexport-Modell zu konsolidieren.

Das Land produziert jährlich etwa 15 Millionen Tonnen Getreide, die zum Export bestimmt sind. Dabei gibt es kaum Nahrungsmittel für die Bewohner*innen. Diese wiederum werden aus den Nachbarländern importiert. Paraguay ernährt sich nicht mehr selbst. Dieses widersprüchliche Modell führe über kurz oder lang in den Untergang, so Meliá. Angesichts der widerstreitenden Interessen würden Bauerbewegungen kriminalisiert mit dem Ziel, sie letztendlich von ihrem Land zu vertreiben, um die verlassenen Gebiete besser ausbeuten zu können.

Die große Angst besteht darin, dass bei all dem letztendlich nur das herauskommt, was die Paraguayer*innen auf Guaraní als „oparei”(als nichts von nichts) bezeichnen. Lilian Soto, Präsidentschaftskandidatin für Kuña Pyrenda, erklärte dazu: „Das Schweigen wird für die Opfer von Curuguaty sein wie ein weiterer Tod”.

 

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