Hoffnung in Puente Nayera

„Man konnte nicht einmal bis ans Meer gehen“

Der Frieden ist nach Puente Nayera zurückgekehrt. Drei Frauen sitzen an einem Tisch und spielen Würfeln, ein paar Fischer laden ihren Fang aus, ein Jugendlicher übt auf seinem Xylofon. Auch Mercy Caisero verkauft wieder ihre gebratenen Würste mit Kartoffeln. Daran war lange Zeit nicht zu denken.

Denn bis April letzten Jahres kontrollierten kriminelle Banden das Viertel in der kolumbianischen Hafenstadt Buenaventura. Jeder Schritt war lebensgefährlich. „Man konnte nicht einmal bis ans Meer gehen. Sie waren bewaffnet und hatten die Straßen besetzt“, berichtet Caisero. So hätten die Verbrecher alle eingeschüchtert, von den Kindern bis zu den Alten. „Niemand ging mehr raus. Jetzt ist es ruhiger und das Schlachthaus wurde abgerissen“, sagt die 36-Jährige.

Puente Nayera zur humanitären Zone erklärt

Jeder in ihrem Viertel wusste vom Schlachthaus. Jener Hütte, in der die Killer Menschen bei lebendigem Leib zerstückelten. Wer kein Schutzgeld zahlte oder sich gegen die Kriminellen stellte, endete dort. Heute erinnert nur noch eine Lücke zwischen den Holzhäusern an diesen grausamen Ort. Gleich nebenan lebt Orlando Castillo. Der junge Mann erinnert sich noch genau daran, wie er nachts die Schreie hörte. Doch mittlerweile hat das Morden ein Ende.

Mit der Hilfe des Bischofs Hector Epalza hätten die Bewohner*innen den Stadtteil im April letzten Jahres offiziell zur humanitären Zone erklärt. „So entstand internationaler Druck und die Verbrecher mussten Puente Nayera verlassen“, erklärt Castillo. Bis heute sei niemand mehr ermordet worden.

Außerhalb des Schutzraumes regieren die Kriminellen

Einige der Kriminellen wurden von der Polizei verhaftet, manche zogen sich in andere Viertel zurück. Keine der Banden sollte mehr nach Puente Nayera kommen. Die afrokolumbianischen Bewohner*innen bauten Zäune und ein Tor. Wer eine Waffe trägt, muss den Ort verlassen. So sieht es das Konzept der humanitären Zonen vor, das von der Interamerikanischen Menschenrechtskommission unterstützt wird.

Außerhalb des Schutzraumes regieren die Kriminellen, erklärt Pfarrer John Reyna: „In Buenaventura hat die Angst die Menschen fest im Griff. Alle fürchten sich davor, jemanden anzuzeigen oder auf die Straße zu gehen und zu protestieren. Wenn ein sozialer Aktivist seine Stimme erhebt, wird er bedroht, muss die Stadt verlassen oder stirbt.“

„Schlachthäuser“ gibt es weiterhin

Seit Präsident Juan Manuel Santos im März 2014 Polizisten und Soldaten in die Stadt schickte, hat sich die Lage ein wenig beruhigt. Dennoch gehen die Entführungen, Morde und Vertreibungen weiter. 6.900 Menschen mussten nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HWR) seither ihre Zuhause verlassen, weil sie direkt von Kriminellen bedroht wurden, und allein zwischen April und Dezember 2014 seien offiziell 96 Morde registriert worden.

Auch einige Schlachthäuser existieren weiterhin. „Die Maßnahmen der Regierung haben zwar dazu beigetragen, dass die Gewalt zurückgegangen ist, die brutale Kontrolle der Banden in den Vierteln ist aber weitgehend intakt geblieben“, erklärte der für den amerikanischen Kontinent zuständige HRW-Direktor José Miguel Vivanco im März dieses Jahres.

Afrokolumbianer*innen besonders von Gewalt betroffen

Vor allem trifft es Afrokolumbianer*innen. Sie stellen 80 Prozent der Bevölkerung. Viele von ihnen haben sich in den armen Stadtteilen am Meer vor langer Zeit als Fischerfamilien auf Pfahlbauten niedergelassen. Diese Lage mache Orte wie Puente Nayera für die Kriminellen attraktiv, meint Buenaventuras Polizeikommandant José Correa Hernández. „Von hier aus ist es sehr einfach, Drogen auf Schnellbooten in andere Kontinente zu bringen“, erklärt er. Die Hintermänner schickten ihre Leute in die am Meer gelegenen Stadtteile, um die Transportrouten abzusichern. „Dort bekämpfen sich Angehörige verschiedener Banden und bringen sich gegenseitig um“, sagt der Polizist.

Es geht um den Kokainschmuggel – und um die Kontrolle des Hafens. Denn die vielen Frachter, die aus China, den USA oder Südkorea hier anlegen, bringen auch andere illegale Waren ins Land: gefälschte Markenjeans, unverzollte Fernsehgeräte, Waffen.

Baupläne für Containerhafen, Hotels und Hochhäuser

Zwei Drittel des legalen kolumbianischen Frachtverkehrs werden hier abgewickelt. Schon jetzt ist der Hafen der bedeutendste des Landes. Seit Jahren vergrößern Speditionsfirmen ihr Gelände, auf jeder Freifläche lagern Container. Wie sich die Stadtplaner die Zukunft Buenaventuras vorstellen, verdeutlicht eine Wandtafel im Rathaus. Sie zeigt neue Hochhäuser, einen modernen Containerhafen und Hotelanlagen. Wo heute noch die Pfahlhütten der Armen aus dem Meer ragen, soll eine Hafenpromenade entstehen.

Was aber soll mit jenen geschehen, die dort leben? Jährlich flüchten etwa 15.000 Menschen wegen des Bandenterrors, seit April 2014 haben knapp 30.000 ihr Zuhause verlassen. Sollen die Kriminellen den Platz vielleicht auch für eine ungezügelte Modernisierung frei räumen? Bischof Epalza schließt das nicht aus: „Da agieren im Hintergrund mächtige Personen, die die Menschen mit Gewalt oder durch Betrug vertreiben wollen. Die Leute sollen ihre Häuser verlassen, um die geplanten Bauarbeiten durchführen zu können. Anstatt die afrokolumbianischen Gemeinden zu respektieren, werden diese schon lange von einer unheilvollen und heuchlerischen Politik in die Ecke gedrängt.“

Vertreibung von Bewohner*innen als Strategie

Dieses Vorgehen hat in Kolumbien Tradition. In anderen Regionen vertrieben Paramilitärs Kleinbauern im Auftrag von Unternehmern. Wenig später siedelten sich agrarindustrielle Firmen auf dem frei gewordenen Land an. Auch die Banden in Buenaventura sind aus paramilitärischen Einheiten entstanden.

Orlando Castillo geht fest davon aus, dass ein Zusammenhang besteht zwischen dem Hafenausbau und der Gewalt: „Es ist seltsam. Immer, wenn man an einem Ort nicht mehr leben kann und die Leute geflüchtet sind, beginnen einige Monate später die Arbeiten an diesem Megaprojekt.“

Systematische und strukturelle Gewalt

Ein paar Straßen von Castillos Haus entfernt hat die Pfarrgemeinde San Pedro ein soziales Zentrum eingerichtet. Drei Jugendliche nehmen gerade in einem Studio einen Rap auf. Nebenan lernen einige Frauen nähen, einmal die Woche treffen sich hier Angehörige von Gewaltopfern. Das Zentrum ist einer der wenigen Orte in der 400.000-Einwohner-Stadt, wo Arme Hilfe erwarten können.

Für Pfarrer Reyna ist das ein unerträglicher Zustand. Der Hafen erwirtschafte hohe Steuereinnahmen, doch weniger als ein Prozent bleibe in Buenaventura. Dabei lebten hier vier von fünf Menschen in Armut. „Das Problem ist die systematische, strukturelle Gewalt. Grundlegende Bedürfnisse werden nicht befriedigt“, kritisiert der Geistliche. „Es gibt kein Trinkwasser, keine vernünftige Stromversorgung, keine guten Wohnungen. Bildungssystem und Gesundheitswesen funktionieren nicht. Der Boden für die Mafia ist also gut gedüngt.“

Arbeit und Bildung

Auch die Humanitäre Zone ist keine sichere Insel. Immer wieder erhält Aktivist Castillo Morddrohungen, und vor dem Tor geht der Krieg der Banden weiter. Der Soziologe zweifelt nicht daran, dass seine Stadt neue Wege gehen muss: „Wir wehren uns nicht gegen die Entwicklung von Buenaventura, aber wir müssen einbezogen werden. Bislang sind die Menschen in den Vierteln am Meer nicht eingeplant.“

Mercy Caisero hätte gar nichts dagegen, wenn die Hafenpromenade gebaut wird. Vorausgesetzt, sie kann weiterhin in Puente Nayera leben. Dann würde die 36-jährige Mutter ihre gebratenen Würste auf der Promenade verkaufen. Und vielleicht könnte sie dann sogar den Traum ihrer Tochter erfüllen: Die Zwölfjährige will Ärztin werden. Caisero: „Wenn wir es schaffen würden, dass alle Arbeit haben oder lernen können, wäre Schluss mit der Gewalt. Denn dann hätten alle etwas, von dem sie leben könnten.“

Dieser Artikel ist Teil unseres diesjährigen Themenschwerpunkts „Fokus Menschenrechte 2015„.

Dazu gibt es es auch einen Radiobeitrag der hier angehört werden kann.

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