Die Volkszählung und der Streik in Santa Cruz

(La Paz, 17. November 2022, alai.info).- Bis zu einem gewissen Grad könnte man die Geschichte Boliviens anhand seiner Volkszählungen erzählen. Nicht nur wegen der demographischen Ergebnisse, sondern auch wegen der politischen Auseinandersetzungen, von denen sie jedesmal begleitet sind.

Streit um das Datum der nächsten Volkszählung

Im Hinblick auf die Machtverteilung innerhalb des Landes ist die Volkszählung vor allem für die Gewichtung der parlamentarischen Vertretung im Kongress sowie für die Vergabe der Finanzen von Bedeutung. Das Departamento Santa Cruz (mit der gleichnamigen Hauptstadt) ist das mit dem bisher höchsten Bevölkerungswachstum in Bolivien im 21. Jahrhundert. Vor 10 Jahren wurde prognostiziert, dass es bis zur zwölften Volkszählung im Jahr 2022 das Bevölkerungsreichste sein werde. Die Volkszählung konnte aufgrund der Pandemie nicht durchgeführt werden, mit der Folge, dass die Regierung von Santa Cruz und die nationale Regierung sich derzeit in einem Streit über die Festlegung des endgültigen Datums für die Volkszählung befinden. Sollte die Zählung im nächsten Jahr erfolgen, wie von Luis Fernando Camacho, dem Gouverneur von Santa Cruz, gefordert, hätten die Ergebnisse Auswirkungen auf die Wahlen im Jahr 2025. Für Santa Cruz wäre das günstig, da die Ergebnisse aller Voraussicht nach vorteilhaft für das Departamento ausfallen werden. Dies wäre anders, wenn die Volkszählung im Jahr 2024 stattfände, wie Präsident Luis Arce vorschlägt.  Der Nutzen der Volkszählung für die Wahlen ist jedoch nicht so wichtig und der Disput um das Datum eigentlich nur ein Aufhänger. Vor allem geht es hier um einen politischen Machtkampf, der die Geschichte des Wandels in Bolivien einmal mehr auf den Prüfstand stellt: Welcher der Akteure beweist die größeren politischen Kapazitäten, und welche Auswirkungen hat das Resultat?

Der Chaco-Krieg und die „Wiederentdeckung“ des Landes

Bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts bestand Bolivien aus der Andenhochebene des Altiplano und den angrenzenden Tälern. Die Quechua und Aymara, die ursprüngliche Mehrheitsbevölkerung, siedelten in diesem Gebiet. Die spanische Krone förderte dort den Bergbau und profitierte von den reichlich vorhandenen Arbeitskräften. Folglich wurden die wichtigsten Städte auch in den Anden gegründet. Die oligarchische Republik behielt die ausschließlich auf das Altiplano konzentrierte Struktur der bolivianischen Bevölkerung, Politik und Wirtschaft bei. So behauptete Jaime Mendoza im Jahr 1925 in seinem Buch El factor geográfico en la nacionalidad boliviana („Der geografische Faktor Boliviens“), dass der Kern der Nation die Hochebene sei. Der geographische Nachteil sei der fehlende Zugang zur Küste, der im Salpeterkrieg gegen Chile verloren wurde. Das östliche Tiefland war für Mendoza nur eine „Verlängerung“ des Gebirges. Insofern ging der Chaco-Krieg (1932-1935) als die Wiederentdeckung des Landes in die bolivianische Geschichte ein, denn im Kampf um die Chaco-Gebiete gegen Paraguay wurden zahlreiche Menschen aus dem Altiplano in die unwirtlichen, abgelegenen und nahezu unbesiedelten Gebiete im Osten des Landes vertrieben. Die endgültige Niederlage hatte viel mit dem großen Ungleichgewicht zwischen den beiden Regionen zu tun.

Warum Santa Cruz?

Im Zuge der „nationalen Revolution“ von 1952 sowie der Entdeckung und Förderung von Erdöl im Osten Boliviens wurde dieser in die bolivianische Wirtschaft integriert. Die führende Bewegung der Revolution, der Movimiento Nacionalista Revolucionario (MNR), setzte im Altiplano und den angrenzenden Tälern eine Landreform durch und investierte im Verbund mit den USA in die Entwicklung der Landwirtschaft im Osten. Damit begann der landwirtschaftliche Großhandel im Tiefland, insbesondere im Chaco und um Santa Cruz, der damals noch provinziellen, aber bedeutendsten Stadt im Osten. Der Anstieg des Drogenhandels ab den 1970er Jahren war eine weitere Quelle des wirtschaftlichen Wachstums der Region, in der Drogen produziert und nach Brasilien und Argentinien vertrieben wurden. Dieser wirtschaftliche Aufschwung verstärkte sich weiter: Im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts entwickelte sich Santa Cruz neben La Paz und Cochabamba zu einem der drei wichtigsten Departamentos des Landes. Wie in anderen lateinamerikanischen Ländern führte die Größe des Landes zu großen Entfernungen zwischen den einzelnen Siedlungen, was zur Folge hatte, dass die regionale Politik wichtiger wurde. Auch Santa Cruz war Teil dieser Entwicklung. Die heutige politische Dynamik ist jedoch in hohem Maße auf die wirtschaftliche Entwicklung des Departamentos im 20. Jahrhundert zurückzuführen: Sie resultiert aus dem Machtvakuum des Staates, das durch die indigen-populären Aufstandsbewegungen  in Bolivien zwischen 2000 und 2005 entstanden ist. Ein entscheidendes Jahr war 2003, als Sánchez de Lozada sein Präsidentenamt aufgab und sich das politische Gleichgewicht zu Gunsten der Aufständischen verlagerte. Die bisherige Angleichung der Interessen  der neoliberalen Zentralregierung an die der wirtschaftlichen Oligarchie von Santa Cruz war einer der Auslöser für den Aufstand der Bevölkerung. Weit entfernt vom Aufstand im Altiplano und in den Tälern entwickelte die Oligarchie von Santa Cruz über das Comité Cívico Pro Santa Cruz („Bürgerkomitee ‚Pro Santa Cruz“) bald ein neoliberales, auf regionale Unabhängigkeit ausgerichtetes politisches Projekt.

Der Putsch von 2019: ein Sieg der Oligarchie

Der Wahlsieg der Aufständischen unter der Führung von Evo Morales führte zu einer direkten Konfrontation zwischen der regionalistischen Politik der Oligarchen von Santa Cruz und dem neugebildeten Machtfaktor der indigenen Volksbewegung mit seiner nationalen Ausrichtung. Seit dem Jahr 2006 gab es in diesem Konflikt mehrere Höhepunkte wie den verfassungsgebenden Prozess, den Staatsstreich von 2019 und den aktuellen Konflikt um die Volkszählung. Der verfassungsgebende Prozess gipfelte in einem bedeutenden Sieg des progressiven Lagers. Andere Ereignisse wie das Referendum von 2016, das Evo Morales verlor, endeten in einer Art Patt der Parteien. Der Putsch von 2019 hingegen war ein Sieg der wirtschaftlichen Oligarchie, mit dem Comité Cívico Pro Santa Cruz als Hochburg des Widerstands und Ausgangspunkt ihrer Operationen. Zwar konnten sie ihre Macht angesichts des Drucks des indigenen Bevölkerungsteils – der im Jahr 2020 die progressive Regierung zurück an die Spitze wählte – nicht aufrechterhalten. Aber das löscht den Erfolg von 2019 nicht aus dem Gedächtnis der Oligarchie. Jetzt stellen sie ihre politischen Kapazitäten im Konflikt um die zwölfte Volkszählung gegen die neue Regierung.

Wo steht das Militär?

Wenn es eine Gemeinsamkeit in der Art und Weise gibt, wie in diesen Konflikten gehandelt wird, dann die, dass sich alle an der partizipativen und repräsentativen Demokratie orientieren. Das Ziel ist die Eroberung des Staatsapparats, der mit zwei Grundkonflikten zu kämpfen hat: Föderalismus versus Zentralismus und den Auseinandersetzungen zwischen den sozialen Schichten. Und als ob Konflikte durch ihre Rechtmäßigkeit legitimiert würden, werden alle begleitet von einem eigenen juristischen Diskurs. Was das Militär anbelangt, so bewegt sich die die Realpolitik im Verborgenen, im Reich der Verschwörungen. Zwar ist es der Regierungspartei Movimiento al Socialismo (MAS) nicht gelungen, ein neues Militärkorps zu schaffen, doch hat sie es zumindest geschafft, die Streitkräfte und die Polizei in Schlachtfelder zu verwandeln, die intern durch hierarchische, symbolische oder klientelistische Loyalitäten gespalten sind. Nichtsdestotrotz ist das Bild der Streitkräfte dauerhaft mit dem repressiven und blutigen Vorgehen gegen das bolivianische Volk verknüpft: Beim Staatsstreich 2019 hatte das Militär mehrheitlich die Oligarchie unterstützt. Damals waren beide jedoch schwach, und letztlich konnte sich die indigene Volksbewegung durchsetzen. Derzeit hält sich das Militär zurück und wartet möglicherweise auf ein eindeutiges Signal von Seiten der Oligarchie, was die Regierung um jeden Preis vermeiden muss. In der Zwischenzeit wird bei der Anwendung von Gewalt Wert darauf gelegt, den Boden der Legalität nicht zu verlassen, und mit Vorsicht und sogar Diskretion vorgegangen. Es hat den Anschein, als sei der regelmäßige Rückgriff auf Gewalt nicht vereinbar mit dem Ethos der Regierung.

Die „Armee der Zivilgesellschaft“

Die Gewalt im klassischen Sinne scheint fürs Erste ausgedient zu haben. Wenn es in Bolivien eine bestehende Armee gibt, die bereitsteht und kämpft, dann ist es die der Zivilgesellschaft. Da ist einerseits das einflussreiche Comité Pro Santa Cruz, aber auch die starken sozialen Bewegungen, die in enger Allianz mit der Regierung die Macht der indigenen Repräsentation aufrechterhalten haben. Dabei ist es wenig überraschend, dass die Beziehung zwischen dem Staat und den sozialen Bewegungen – die der MAS zulässt und unterstützt – asymmetrisch und sogar hierarchisch ist. Das letzte Wort hat die Regierung, immerhin steht die Verteidigung der bisherigen Errungenschaften auf dem Spiel. In diesem dichten Netz ziviler Strukturen wird auch die Geopolitik zu einem Faktor innerhalb der regionalen Unterschiede: Die Präsenz, die Reichweite, die politische Zugehörigkeit und die Widerstandskraft der sozialen Bewegungen im Hochland sind unvergleichlich größer als im Tiefland. Das bedeutet, dass in Santa Cruz aufgrund der geschichtlichen Tradition und des derzeitigen Machtverhältnisses die Oligarchie die Oberhand im politischen Kampf hat. Es gibt jedoch eine geopolitische Lehre der indigenen Völker des Tieflands: Ihre wichtigsten Siege haben sie mit einem Marsch nach La Paz errungen, als wäre dies der Kern des Staates.

Demokratische Gewalt

Die jüngsten Nachrichten berichteten über die endgültige Entscheidung des technischen Verhandlungstischs unter der Schirmherrschaft der Regierung. Demnach wird die Volkszählung im Jahr 2024 stattfinden. Noch vor dem Ergebnis zog sich die Vertretung aus Santa Cruz vom Verhandlungstisch zurück, bei dessen Zusammensetzung von vornherein wahrscheinlich war, dass die Entscheidung dem Vorschlag des MAS folgen würde. Was tun, wenn die einen auf den Pazifismus der Demokratie setzen, während andere ihre gewaltsame Seite ausnutzen? Jede demokratische Ordnung beruht auf einem initialen besonderen Moment, weshalb der Ausnahmezustand Teil ihrer Geschichte ist. Sie muss in ihrer Form nicht unbedingt militärisch oder bewaffnet sein, aber sie ist gewalttätig oder diktatorisch. Die Oligarchie hat mit ihrer Herrschaftstradition in bestimmten Sedimenten der Gesellschaft an diese ungute Seite der Demokratie zu appellieren gewusst, mit beachtlichem Erfolg im Jahr 2019. Wird die indigene Bewegung in der Lage sein, die besondere Situation, die sie 2005 an die Macht gebracht hat, zu wiederholen, wenn der Moment es erfordert? In der Zwischenzeit kündigt Santa Cruz Gouverneur Camacho an, den Streik fortzusetzen und den Druck zu erhöhen.

 

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