Von Orlando Delgado Selley
(Mexiko-Stadt, 29. Juni 2017, la jornada).- Die Ungleichheit steht im Zentrum der Sorge um eine nachhaltige Entwicklung. Die lateinamerikanische Wirtschaftskommission Cepal (Comisión Económica para América Latina y el Caribe) hat, wie schon oft zuvor, unterstrichen, dass jedes Entwicklungsprogramm verringerte Ungleichheit zum Ziel haben muss. Ungleichheit, die sich nicht auf die Ökonomie beschränkt, sondern die ebenfalls das Thema der Gleichheit bei der Ausübung der Rechte umfasst. Deshalb muss es nicht nur um die Einkommensumverteilung gehen, sondern um die Verteilung von Vermögenswerten, Ressourcen und Gelegenheiten, Macht und Einfluss. Die Cepal macht deutlich, dass Ungleichheit nicht losgelöst vorkommt, sie ist eng verknüpft mit den Machtbeziehungen sowohl auf individueller wie auf kollektiver Ebene.
US-Akteure fordern höhere Löhne in Mexiko
Dabei steht jedoch die ökonomische Dimension der Ungleichheit, die sich auf die Verteilung von Einkommen, funktionalem Einkommen von Kapital und Arbeit, sowie von finanziellen und nicht finanziellen Vermögenswerten bezieht, absolut im Zentrum. Darum ist die Antwort, die einige mexikanische Unternehmergruppen auf Forderungen verschiedener wirtschaftlicher US-Akteure gegeben haben, enorm erhellend. Letztere verlangen, dass bei einer Überprüfung des Nordamerikanischen Freihandelsvertrages NAFTA (North American Free Trade Agreement) die mexikanischen Arbeitsgesetze einbezogen werden. Industrielle und US-Gewerkschaften wollen höhere Löhne in Mexiko, um Wettbewerbsvorteile zu verhindern.
Die International Brotherhood of Teamsters, in der die US-amerikanischen LKW-Fahrer*innen zusammengeschlossen sind, erklärten, es sei „dringlich, dass in einem neuen NAFTA die fundamentalen Arbeitsrechte gestärkt und die Löhne der Arbeiter erhöht werden müssen, damit der im Handelsabkommen versprochene Wohlstand breiter verteilt wird”. Eine mexikanische Unternehmerinstanz, der Strategische Beirat für Internationale Verhandlungen, antwortete mit dieser alten Litanei: „Beim Arbeitsthema wäre jeder Punkt, der den freien Markt in Mexiko manipulieren könnte, etwas, was nicht akzeptiert werden würde…“. Dabei wird darauf bestanden, dass „die Marktpräferenzen offen bleiben, damit das Abkommen seinen Zielen auf die beste Art dienen kann“ (Tageszeitung Reforma, Teil Negocios, 27.06.17, S.1). Die Position ist deutlich: keine Lohnerhöhungen für die mexikanischen Arbeiter*innen.
Niedriglöhne – Mexikanischer Mindestlohn reicht zum Leben nicht aus
Die Antwort zeigt die vorherrschende Denkweise unter den in Mexiko ansässigen Unternehmer*innen. Angesichts von Arbeitskräften im Überfluss war es möglich und natürlich förderlich, niedrige Löhne zu zahlen. Trotz der gesetzlichen Bestimmungen, die einen Mindestlohn verlangen, der es einer mexikanischen Durchschnittsfamilie erlaubt, ein anständiges Auskommen zu haben, reicht die reale Kaufkraft des Mindestlohns dafür nicht aus. Wenn wir uns die funktionale Verteilung des Einkommens anschauen, das heißt, den Anteil von Löhnen und Gewinnen am Bruttoinlandsprodukt (BIP), so hebt sich Mexiko zusammen mit Panama in Lateinamerika dadurch hervor, mit gerade einmal 28 Prozent den geringsten Lohnanteil am BIP zu haben. Der lateinamerikanische Durchschnitt liegt bei 40 Prozent, in Brasilien, Honduras und Costa Rica beträgt der Anteil über 50 Prozent.
Diese Situation besteht in Mexiko schon seit langer Zeit. Die letzte Regierungsperiode, während der der BIP-Anteil der Löhne anstieg, war unter Präsident López Portillo (1976-1982). Seitdem, also seit 35 Jahren, verloren die Löhne zuerst rapide an Bedeutung und blieben dann unter einem Anteil von 30 Prozent. NAFTA wurde angeblich mit dem Ziel beworben, die Wohlstandsniveaus der drei Handelspartner anzugleichen. Genau das, was die Teamster vorschlagen. Die in Mexiko produzierenden Unternehmer*innen, viele davon Ausländer*innen, wollen genau das Gegenteil. Bestimmte Investor*innen finden tatsächlich einen Faktor vor, der die Investitionen in unser Land attraktiv macht: das mexikanische Lohnniveau macht einen Bruchteil der Löhne in Kanada und den USA aus. Dies lässt sich zu einem Gutteil mit der vorsätzlichen Entscheidung der verschiedenen mexikanischen Regierungen erklären.
NAFTA-Neuverhandlung als Chance?
Die von der Trump-Regierung erzwungene NAFTA-Verhandlung kann für die mexikanische Wirtschaft sehr negative Auswirkungen haben. Aber es gibt Aspekte, bei denen sie ausgenutzt werden kann, indem versucht wird, Dinge zu verbessern, die in ihrer aktuellen Form dem Wohlstand mexikanischer Arbeiter*innen und Produzent*innen eindeutig entgegenstehen. Darum ist es unabdingbar, eine Befragungsperiode einzurichten, in der unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen ihre Bedürfnisse vorstellen. So könnte eine nationale Strategie entwickelt werden, die dem nationalen Wohlstand und nicht nur Einzelinteressen den Vorrang gibt.
NAFTA: Ungleichheit und Neuverhandlung von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
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