San Quintín: Die Revolte der Wegwerfbaren

von Luis Hernández Navarro

(Mexico-Stadt, 24. März 2015, la jornada).- Der Aufstand der landwirtschaftlichen Tagelöhner*innen im Tal von San Quintín könnte sehr gut ein neues Kapitel im Buch „Barbarisches Mexiko“ sein. Die von den Tagelöhner*innen erlittenen Arbeitsbedingungen und ihr Streik sowie die Straßenblockaden mit ihnen als Protagonisten, stehen den dramatischen Erzählungen der Veröffentlichung von John Kenneth Turner in nichts nach. Dieser dokumentierte in seinem Buch die grausame Ausbeutung und die Sklaverei, der Kleinbauern und Kleinbäuerinnen und Indigene im Mexiko von Porfirio Díaz unterworfen waren. Er berichtete über die Arbeiterstreiks.

„Kampf um die Würde der Tagelöhner!“

Die Proteste in San Quintín begannen um drei Uhr morgens am 17. März. In den Bezirken, die zum Tal gehören, ertönten die Rufe „Kampf um die Würde der Tagelöhner!“ und „Das geeinte Volk wird niemals besiegt werden!“ Tausende von Landarbeiter*innen, an der Spitze ihre örtlichen Anführer*innen, strömten auf die Fernverkehrsstraße, die die Halbinsel von Baja California durchquert.

Mehr als zwanzig ins Netz gestellte Videos erzählen bruchstückhaft von den langen und schnellen Märschen, die Männer und Frauen, zusammengerufen vom Bündnis der Organisationen für Soziale Gerechtigkeit, über weite Teilstücke der Bundesstraße unternahmen. Wie sie kleine Straßensperren mit brennenden Autoreifen und Ästen errichteten.

26 Stunden Straßenblockade auf 120 Kilometern Länge

Diese von den Streikenden selbst aufgenommene Geschichte zeigt ebenfalls, wie einige Jugendliche entlang des Wegstückes Steine auf die Fensterscheiben von Leihhäusern und großen Kaufhallen werfen. Andere stürzen Schilder mit den Namen der Großfarmen um. Und wieder andere – mehrere von ihnen fast noch Kinder – plündern Geschäfte, während die Führer*innen der Bewegung die Ausschreitungen verurteilen. „Wir sind arm“, so einer von ihnen, „aber wir wissen, was Respekt ist. Wir sind hier, um unseren Kampf zu gewinnen, nicht um zu raufen. Wir sind nicht hier, um Zerstörungen anzurichten“.

Schließlich sind Szenen zu sehen, in denen die Polizei, teilweise mit motorisierter Unterstützung, Gummigeschosse auf die Demonstrant*innen abfeuert, die Blockade durchbricht, auf die Tagelöhner*innen einprügelt und sie festnimmt. Die Streikenden – so berichtete Olga Alicia Aragón in La Jornada – hielten die Straßenblockade 26 lange Stunden auf 120 Kilometern aufrecht.

Sieben Tage die Woche 14 Stunden schuften für einen Hungerlohn

Die Tagelöhner*innen von San Quintín arbeiten unter erniedrigenden Bedingungen auf Landgütern, die Gemüse, Erdbeeren, Tomaten und Brombeeren für den Export anbauen. Für Hungerlöhne schuften sie bis zu 14 Stunden am Tag. Einen Ruhetag gibt es nicht, von Urlaub oder einer Sozialversicherung ganz zu schweigen. Die Vorarbeiter üben sexuelle Gewalt gegen die dort arbeitenden Frauen aus. Letztere werden zudem gezwungen, ihre Kinder mit auf die Felder zu bringen, damit sie dort Arbeiten verrichten.

Die Landarbeiter*innen leben normalerweise in Provisorien, die zu ständigen Unterkünften werden. Dort sind sie zusammengepfercht, ohne Grundversorgung, in Behausungen mit Wellblechdächern und einem Boden aus Erde. Viele sind indigene Migrant*innen aus Oaxaca (Mixtek*innen und Triqui), Guerrero, Puebla und Veracruz. Sie haben in San Quintín ihre zweite Gemeinschaft aufgebaut. Bereits drei Generationen von „oaxacacalifornian@s“ leben dort. Ein einziges Krankenhaus der mexikanischen Sozialversicherungsbehörde gibt es dort für sie.

Billige, im Überfluss vorhandene, leicht austauschbare Arbeitskraft

Die Güter, auf denen sie arbeiten, verfügen über Bewässerungssysteme und Spitzentechnologie. Sie erzeugen vier Fünftel des Wertes der landwirtschaftlichen Produktion im Bundesstaat. Mehrheitlich gehören die Güter 15 Familien und multinationalen Konzernen. Die Eigentümer*innen bilden einen Teil der Regierung des Bundesstaates.

Diese Agrarunternehmen beuten die billige, im Überfluss vorhandene, leicht austauschbare und daher wegwerfbare Arbeitskraft intensiv aus. Es gibt keine Notwendigkeit, würdige Bedingungen für ihre Reproduktion zu garantieren. Erkrankt ein*e Arbeiter*in, stirbt er oder sie oder ist ausgebrannt, kann der oder die Arbeiter*in kostenlos durch eine andere Person ersetzt werden. Sie pressen die Tagelöhner*innen aus wie Apfelsinen, denen der Saft entzogen wird, bis sie nur noch Schale sind.

Die Unternehmen respektieren die Arbeitsgesetzgebung nicht. Sie können auf die Gefälligkeit der Arbeitsbehörden und der (Unternehmer-)Schutzgewerkschaften zählen, die den Dachverbänden CTM (La Confederación de Trabajadores de México) und CROM (La Confederación Regional Obrera Mexicana) angeschlossen sind. Um sich verteidigen zu können, haben sich die Landarbeiter*innen in Gruppierungen wie dem Binationalen Oaxacaqueñischen Indígenabündnis FIOB (Frente Indígena de Organizaciones Binacionales) und anderen ethnisch-politischen Vereinigungen organisiert.

Warnung vor Revolten in den Wind geschlagen

Die Revolte der Tagelöhner*innen zeigt, dass dieses Modell der Arbeitsausbeutung unhaltbar ist. Die sesshaft gewordenen Migrant*innen in der Region, sich entwickelnde Widerstandsformen und ein völlig neues Klassenbewusstsein, sowie der Überdruss angesichts der unternehmerischen Übergriffe, kündigen einen neuen Klassenkampf in der Region an. Vorbote war der Agrarstreik 1996/97. Damals waren drei Wochenlöhne nicht ausgezahlt worden.

Das Bündnis der Organisationen für Soziale Gerechtigkeit warnte Arbeitgeber*innen und Regierende auf alle erdenklichen Weisen vor der bevorstehenden sozialen Explosion. Seit dem vergangenen Oktober wies die Allianz auf einen notwendigen Dialog hin. Arrogant und unsensibel, lehnte die Regierung des Bundesstaates dies immer wieder ab.

Statt zu begreifen, dass dieses Ausbeutungsmodell in der Würde und Kraft der Tagelöhner*innen bereits seine Grenze gefunden hat, versuchen die Mächtigen, die Streikbewegung zu diskreditieren. Es werden die absurdesten Erklärungen über deren Ursprünge verbreitet. Ohne geringsten Beweis wird gesagt, dass der Drogenhandel den Protest anspornt, dass dieser von Agitator*innen aus anderen Bundesstaaten organisiert wird, um politische Instabilität zu schaffen. Dass es darum geht, dem Gouverneur kurz vor den anstehenden Wahlen Probleme zu bereiten.

Gemüseproduzent*innen von Baja California zeigen sich alarmiert

Weiter südlich hat der Aufstand der Landarbeiter*innen aus Baja California die Alarmglocken der Gemüseanbauer*innen im Bundesstaat Sinaloa schrillen lassen. Der Präsident der Landwirtevereinigung von Río Culiacán, Guillermo Gastélum Bon Bustamante, warnt vor der Bedrohung. Er nennt sie „eine Art Virus“, der sich im Tal von Culiacán „reproduzieren kann“.

Die Landarbeiter*innen von San Quintín haben entgegen der Auffassung von Unternehmer*innen und Politiker*innen im Lauf dieser Woche gezeigt, dass sie keine Wegwerfprodukte sind. Sie sind – so versichern sie – Menschen aus Fleisch und Blut, Arbeiter*innen mit Bewusstsein und Indigene, die stolz auf ihre Herkunft sind.

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