(Rio de Janeiro, 9. April 2018, taz).- Die Verhaftung von Ex-Präsident Luiz Inácio Lula da Silva treibt die politische und institutionelle Krise in Brasilien auf den Höhepunkt. Die Spaltung in zwei diffuse politische Lager vertieft sich. Für die einen ist das vorläufige politische Aus von Lula ein Sieg des Rechtsstaats gegen Straflosigkeit von korrupten Politiker*innen. Für die anderen ist es das genaue Gegenteil: Der Sieg einer politischen Strömung, die mit Hilfe einer willfährigen Justiz den Rechtsstaat und demokratische Wahlen aushebelt. Beide Seiten eint die Überzeugung, gegen Korruption zu sein. Doch scheint es just das Thema Korruption zu sein, das Brasilien immer weiter in Richtung Abgrund schiebt.
Korruption ist keineswegs ein besonders lateinamerikanisches Phänomen, sondern ein weltweites Problem – das wissen die Menschen beispielsweise in Südkorea ebenso wie die Kundschaft von Volkswagen oder der deutschen Bank. Genauso wenig haben korrupte Umtriebe Brasilien erst seit dem Amtsantritt von Lulas Arbeiterpartei PT im Griff. Allerdings hat der illegale Tausch von Geld gegen Gefälligkeiten in Brasilien ein Ausmaß erreicht, dass er inzwischen als Teil des politischen und wirtschaftlichen Systems verstanden werden muss.
Im Grunde handelt es sich bei der in Brasilien üblichen Korruption um eine klassische Win-Win-Situation für die Beteiligten: Unternehmer*innen oder andere Interessierte zahlen eine begrenzte Summe Geld, um im Gegenzug Verträge oder Leistungen zu bekommen, die dem Geschäftsbetrieb später eine wesentlich höhere Einnahme ermöglichen. Die Geldnehmer*innen oder „Korrumpierten“ sind diejenigen, die aufgrund öffentlicher Ämter oder Machtposition in der Lage sind, andere zu bevorteilen. Sie stecken die illegalen Geldgeschenke entweder in die eigene Tasche oder – wie in Brasilien Gang und Gäbe – in die chronisch knappen Kassen politischer Parteien. Da dieses Tauschgeschäft sehr gut funktioniert, solange Staat und Justiz wegschauen, und oft von vielen Beteiligten geradezu als Selbstverständlichkeit eingefordert wird, ist es nicht nur ein Problem von korrupten Individuen sondern auch des Systems als Ganzem.
Statt Korruption zu bekämpfen werden Institutionen wie die Justiz politisch instrumentalisiert
Der aktuelle Korruptionsskandal in Brasiliens – allgemein als „Lava Jato“, also Autowaschanlage bekannt, da die Ermittlungen auf einer Tankstelle begannen – funktionierte genau nach diesem Schema. Vor allem große Bauunternehmen, aber auch der weltgrößte Rindfleischproduzent JBS und andere Unternehmen schmierten Politiker*innen aller Couleur, um überteuerte Aufträge von Staatsunternehmen wie dem Ölkonzern Petrobras zu ergattern oder um per Dekret oder Gesetzesinitiative Vorteile zu erheischen. Nicht nur der Odebrecht-Baukonzern, der in über zehn Ländern Politiker*innen schmierte, unterhielt eigene Abteilungen, um über Jahre hinweg die mehrere Milliarden Euro Bestechungsgeld so breit zu verteilen, dass die Bevorzugung seitens der Politik nicht von einem Regierungswechsel beeinträchtigt werden konnte. Ähnlich offen wurde innerhalb der Parteien mit dem Geldsegen umgegangen. Es gibt viele Zeugenaussagen über Spitzenpolitiker*innen, die beisammen saßen und über die Verteilung der Pfründe an Koalitionspartner*innen und andere Verbündete beratschlagten.
Das Lava Jato-System funktioniert zumindest seit den 90er Jahren und wird erst seit vier Jahren juristisch verfolgt. Zeitgleich wurde der sogenannte Zelotes-Skandal aufgedeckt, bei dem Beamte von Steuerbehörden und des Finanzministeriums bestochen werden, damit sie Steuerschulden von Unternehmen unter den Tisch fallen lassen. Die Summen, die dabei veruntreut werden, sind ungleich höher als bei Lava Jato, doch weder die Öffentlichkeit noch die Justiz zeigt großes Interesse an einer Aufklärung.
Der erste Höhepunkt der Korruptionsbekämpfung war allerdings der sogenannte Mensalão am Ende der ersten Amtszeit von Lula da Silva 2006. Dabei ging es um den Kauf von Stimmen im Kongress, um Gesetzesvorhaben durchzubringen. Hintergrund war, dass die PT-Regierung nicht genug Parlamentarier*innen hatte und auf die Unterstützung durch dubiose Politiker*innen und Kleinstparteien angewiesen war. Der Stimmenkauf innerhalb von Regierungskoalitionen ist in Brasilien seit langem üblich und zum Teil dem präsidentiellen Wahlsystem geschuldet. Mehrere PT-Minister und Spitzenpolitiker*innen wurden zu Haftstrafen verurteilt. Auch damals schon klagte die PT wie viele ihrer Unterstützer*innen – unter ihnen auch diejenigen, die der Partei aus Enttäuschung über den Mensalão den Rücken kehrten – über das selektive Vorgehen von Justiz und Ermittlungsbehörden. Ein identischer Skandal im Bundesstaat Minas Gerais, in dem die konservative PSDB, der wichtigste Gegenspieler der PT in den letzten 25 Jahren, die Strippen zog, war schon lange zuvor aktenkundig. Trotz mehrerer Prozesse sitzt bis heute kein Beteiligter hinter Gitter.
Korruptionsermittlungen werden politisch instrumentalisiert
Der Vorwurf, dass die Korruptionsermittlungen politisch instrumentalisiert werden, ist kaum von der Hand zu weisen. Jahrzehntelang wurde über korrupte Machenschaften nur geklagt. Als 2003 erstmals seit der Militärdiktatur eine fortschrittliche, sozial ausgerichtete Regierung in Brasilien an die Macht kam, kommt es plötzlich zu Ermittlungen, die auch bis zur letzten Konsequenz durchgezogen werden. Korruptionsrichter Sérgio Moro, heute der große Held der rechten Anti-PT-Bewegung, trieb gezielt Prozesse gegen PT-Politiker*innen voran, ließ Lula einmal vor versammelter Presse mittels eines martialischen Polizeieinsatzes zum Verhör abführen und veröffentlichte ungestraft einen illegalen Telefonmitschnitt der damaligen Präsidentin Dilma Rousseff mit Lula. Seine Verurteilung Lulas wegen der angeblichen Überlassung eines Apartments durch einen Baukonzern aufgrund einer Kronzeugenaussage und ohne materielle Beweise wird auch international stark in Zweifel gezogen.
Während viele PT-ler*innen hinter Gittern sitzen, endete noch kein Korruptionsprozess gegen die zahlreichen verdächtigten PDSB-Politiker*innen mit einer rechtsgültigen Haftstrafe. Dass Mitglieder der jetzigen konservativen Regierung teilweise juristisch verfolgt werden ist in erster Linie darauf zurückzuführen, dass sie zuvor Teil der PT-Regierungskoalition waren und just deswegen in das Visier von Moro und seinen Ermittler*innen gerieten.
Das Problem des selektiven Vorgehens der Strafverfolger*innen ist nicht nur Ungerechtigkeit, sondern vor allem die politischen Konsequenzen. Jenseits der Schuldfrage von Lula da Silva nimmt der angebliche Kampf gegen Korruption direkt Einfluss auf die kommende Wahl. Während Umfrageführer Lula im Knast sitzt, darf sich der vielfach verdächtigte PSDB-Mann Geraldo Alckmin in Stellung bringen. Schon die umstrittene Amtsenthebung von Rousseff im Kontext einer breiten Anti-Korruptionsstimmung hat keinenfalls den Rechtsstaat geschützt, sondern nur eine rechtskonservative Regierung an die Macht gebracht, die an den Urnen keine Chance hatte. Institutionen wie Staatsanwaltschaft, Justiz und Polizei werden heute in Brasilien im Namen der Korruptionsbekämpfung mehr für ideologische Zwecke missbraucht als dass sie dem Übel an die Wurzel gehen.
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