Vier Jahre nach dem Beben – und nichts hat sich geändert

von Marsílea Gombata

(Fortaleza, 11. August 2014, adital).- Port-au-Prince. Es gibt keinen Wiederaufbau nach der Tragödie, bei der im Jahr 2010 insgesamt 240.000 Menschen ums Leben kamen. Gewalt und das Fehlen von Trinkwasser und Strom erschweren das Leben in den Notlagern noch zusätzlich. Alle zwei Tage verlässt Florence Porisaint ihre Notunterkunft im Lager Icare in der Nähe des Armenviertels Fort National in Port-au-Prince auf der Suche nach Wasser.

Ein Eimer Wasser am Tag für drei Personen

Als Lohn für einen Weg von 40 Minuten gibt es einen gefüllten Eimer, der etwas mehr als einem Tag lang für die Bedürfnisse ihrer Enkelin und ihrer Tochter ausreicht, mit denen sie zusammen wohnt. Das Leiden von Florence ist zur Routine geworden für sie und weitere 137.000 Haitianer*innen, die immer noch in Notlagern wohnen, nachdem sie ihre Häuser bei dem Erdbeben von 2010 verloren haben.

Vier Jahre nach der Tragödie, bei der 240.000 Menschen starben und 1,5 Millionen obdachlos wurden, ist der Wiederaufbau sowohl des Landes als auch der des Lebens der Menschen, die ihre Häuser verloren hatten, quasi nicht existent. Es sieht so aus, als seien die Hilfsleistungen in der Anfangsphase steckengeblieben, in der humanitäre Hilfe geleistet und der Schutt beseitigt wurde. Ein Postkartenmotiv von Haiti, der Präsidentenpalast, wurde zerstört und wartet auf seinen Wiederaufbau. Der obere Teil der Kathedrale Notre Dame ist nach wie vor eingestürzt. Im Zentrum der Stadt sind vom Beben zerstörte Häuser und Unterkünfte auch weiterhin Ruinen geblieben und verstärken so den Eindruck, dass in Port-au-Prince die Armut und das chronische Verlassensein regieren.

„Wir leben wie Tiere“

„Wir dachten, dass wir hier nur für eine kurze Zeit bleiben würden, aber seit dem Erdbeben steht niemand aus der Regierung für uns ein“, erzählt Florence, die mit ihrer Tochter und ihrer Enkelin in einem zwei Quadratmeter großen Zelt wohnt. „Wir haben weder Wasser noch Nahrung. Wir leben wie Tiere“.

Ihre Nachbar*innen durchleben die gleiche Unsicherheit. In Icare drängen sich 500 Menschen in Minihäusern aus Zinkblechen, Plastik und Holzteilen. Der Platz am Eingang des Lagers ist hart umkämpft. Lokale Bewohner*innen, die Früchte und Essen auf dem Boden verkaufen, haben dort einen Platz neben dem aufgehäuften Müll und dem Abwasser gefunden, das sich unter freiem Himmel seinen Weg bahnt.

Notdürftig improvisiert beherbergen die „Häuser“ bis zu zehn Personen. Die Bewohner*innen, die weder über Strom noch über einen Zugang zu sanitären Anlagen verfügen, können schwerlich mehr als eine Mahlzeit pro Tag zubereiten. Erzählungen von Erwachsenen und Kindern, die sogar eine Woche nichts zu essen hatten, sind nicht selten.

Zunahme von Raub und Gewalt in den Zeltgassen

Improvisieren ist Teil des täglichen Lebens. Um zu überleben und die Unterkunft von drei Quadratmetern Größe, in der er mit seiner Frau und seinen fünf Kindern lebt, zu behalten, arbeitet der 39-Jährige Lindor Cherisnord als Träger von Reis- oder Zementsäcken, was ihm etwa zwei Dollar pro Tag einbringt.

„Auf diese Weise gelingt es mir, mich zu verteidigen. Hier bekommen wir keine Hilfe der Regierung, sie geben uns weder Essen noch Wasser“, sagt er, und unterstreicht die Zunahme von sexueller Gewalt und anderen Straftaten, wie Raub und Diebstahl, in den Gassen, die die Hütten voneinander trennen. „Vielleicht ist es unser Schicksal, hier zu bleiben bis zum Tod“.

Hungrige alte Menschen und Kinder ohne Kleidung

Der 34jährige Charles Robiou, der aufgrund einer Behinderung auf den Rollstuhl angewiesen ist, wohnt seit vier Jahren mit seiner Mutter, zwei Schwestern und zwei Nichten an demselben Ort, an dem sie auch Huhn, Schmalz, Süßigkeiten und Kräuter verkaufen. Alles ohne Kühlung, offen und mit Fliegen bedeckt.

Und das Zinkdach macht es noch schlimmer: Die grausame Hitze von 40 Grad draußen fühlt sich unter dem Dach wie 50 Grad an. „Wir bauten das kleine Geschäft mit dem Geld auf, welches wir von einer Nichtregierungsorganisation für die Hilfeleistung beim Wegräumen des Schutts erhalten haben. Aber hier ist es menschenunwürdig – es gibt keine sanitären Anlagen, kein Wasser. Und wenn es regnet, steigt das Schmutzwasser an und überschwemmt unser Haus.“

Häuser mit Lehmböden, an Stangen aufgehängten Kleidern über Betten und Türen aus Blech mischen sich mit einer Landschaft aus Kindern ohne Kleidung, hungrigen alten Menschen und wenig, mit einfachen Mitteln zubereitetem Essen. Ein Ort, an dem die Öffentlichkeit nicht verkehrt und die Stabilisierungsmission der Vereinten Nationen in Haiti MINUSTAH nicht patrouilliert.

„Es gibt hier keinen einfachen Tag“

„Es gibt hier keinen einfachen Tag. Und, was alles noch schlimmer macht, wir leben täglich mit der Gewalt, mit Abrechnungen von Rivalen untereinander und mit Schändungen“, erzählt Thermidores Terméus, 22 Jahre, der mit seiner 19-Jährigen Frau Immanuelle und dem zweijährigen Baby Estessy zusammenwohnt.

In den Lagern wird auch der Konkurrenzkampf unter Banden zur Routine für die Haitianer*innen. Ohne öffentliche Beleuchtung traut sich niemand bei Einbruch der Nacht noch in die Gassen zwischen den Zelten. Hier wächst die Anzahl der Tötungsdelikte, fernab von den Augen der Sicherheitskräfte.

Nur fünf Prozent der versprochenen Hilfen kamen an

Die Regierung Haitis leidet ebenfalls unter dem nicht existenten Wiederaufbau des Landes. Von den ca. 10 Milliarden US-Dollar, die dem Land im Januar 2010 versprochenen worden waren, sind weniger als fünf Prozent bei staatlichen Institutionen oder zivilgesellschaftlichen Organisationen angekommen.

Man schätzt, dass die Hälfte des Geldes noch bei internationalen Organisationen liegt oder dass man das Geld für humanitäre Hilfe ausgegeben hat – für kurzzeitige Arbeitsplätze, Herbergen und die Beseitigung von Schutt. Ein dem Präsidenten Michel Martelly und dem Premierminister Laurent Lamothe nahe stehender Berater erinnert daran, dass im Jahr 2010 zwar alle als Spender*innen auftreten wollten, aber nur die Hälfte des versprochenen Geldes ausgezahlt wurde.

Der Berater begrüßt die seit zehn Jahren dauernde Anwesenheit der MINUSTAH im Land und betet dafür, dass sie noch zehn Jahre länger dauern möge.

Aber er kritisiert auch Brasilien, das Land, welches es nicht geschafft hat, einen Schritt weiter zu gehen als für die öffentliche Sicherheit zu sorgen.

„Es macht mich nicht traurig, dass Brasilien in Kuba und anderen Ländern investiert. Es macht mich nur traurig, dass nicht in unserem Land investiert wurde“, sagt er.

UN-Außenstelle für langfristigen Wiederaufbau 2012 geschlossen

Die Stelle der UNO, die den langfristigen Wiederaufbau koordinieren sollte, wurde 2012 geschlossen. Heute kommt die größte finanzielle Absicherung des Landes von Petrocaribe, einem Abkommen mit Venezuela, welches Haiti 400 Millionen US-Dollar pro Jahr garantiert. Doch auch dieser Plan ist für die nächsten Jahrzehnte ungewiss.

Nach dem Erdbeben, das die ohnehin kaum vorhandenen Strukturen des Landes zerstörte, muss Haiti nun zusehen, wie sich seine Wirklichkeit noch weiter verschlechterte. Ende 2010 breitete sich die Cholera aus und forderte 8.300 Menschenleben, 650.000 Personen wurden infiziert. Am August 2012 verursachte der tropische Wirbelsturm ‚Isaac‘ landwirtschaftliche Verluste in Höhe von 254 Millionen US-Dollar und ließ 1,6 Millionen Haitianer*innen in einer Notsituation zurück.

„Wenn es keine Sicherheit gibt – wie werden wir Frieden bekommen?

„Haiti war immer ein armes Land und voller Überraschungen. Wie die Haitianer selbst sagen, lebt man ‘Vivrel’inesperé’ – ein Leben mit dem Unverhofften“, erinnert sich der brasilianische Konsul Vitor Hugo Irigaray. Nach den Worten des Diplomaten, der zum ersten Mal vor 25 Jahren in Haiti arbeitete, ist der Fluch des Landes die fehlende Infrastruktur.

Das Land werde unter dem Abzug der ausländischen Truppen leiden. „An dem Tag, an dem die Truppen abgezogen werden, wird das Chaos ausbrechen. Das Land ist nicht vorbereitet, es gibt keine Streitkräfte, die für Sicherheit sorgen könnten. Und wenn es keine Sicherheit gibt – wie werden wir Frieden bekommen?“ fragt Irigaray.

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