Tränengaseinsatz ist „Lebensgefahr für Demonstrierende“

(Santiago de Chile, 20. Dezember 2020, pressenza).- Die Plaza de la Dignidad – der Platz der Würde“, wie ihn die Demonstrierenden nennen – steht seit dem Beginn der Proteste gegen die chilenische Verfassung und die aktuelle Regierung unter Sebastián Piñera im Mittelpunkt des Geschehens. So kommt es, dass der Platz auch zum Schauplatz von Polizeigewalt und exzessivem Gebrauch chemischer Reizstoffe wie Tränengas gegen Demonstrierende und Passant*innen geworden ist. Eine internationale Untersuchung von Forensic Architecture ergab nun, dass die Polizei allein am 20. Dezember 2019 hunderte Tränengaskartuschen eingesetzt hat. Knapp ein Jahr später, als die Demonstrierenden nach Ende des Lockdowns im Oktober auf die Straßen zurückkehrten, wurden die gleichen Taktiken angewandt.

Die chilenische Kommission für Menschenrechte (CCHDH) hat wegen illegalen Gebrauchs chemischer Reizstoffe nun Anklage gegen Teile der Polizei erhoben. Bereits vorher waren der Institution medizinische Berichte über Infektionen und Hautentzündungen vorgelegt worden. Daraufhin hatte die Bewegung No+lacrimógenas, eine Gruppe von Wissenschaftler*innen und betroffenen Anwohner*innen, eine Untersuchung der Recherchegruppe Forensic Architecture von der Universität London angeregt. Diese sollte mit Bildmaterial, einer Erfassungssoftware und Simulationen das Ausmaß des Reizgaseinsatzes an einem einzelnen Tag der Proteste erfassen. Ziel war es, das Ausmaß der gesundheitlichen Bedrohung der Demonstrierenden zu ermitteln.

Knapp 600 Tränengaskartuschen an nur einem Tag

Die Untersuchung ergab, dass am Tag und in der Nacht des 20. Dezember 2019 mindestens 594 Tränengaskartuschen gegen Zivilpersonen eingesetzt wurden, die in der Umgebung der Plaza de la Dignidad friedlich protestierten. Darüber hinaus seien weitere chemische und tränengasähnliche Reizstoffe nachgewiesen worden.

Vereinzelt seien Konzentrationen von 54 Milligram Tränengas pro Kubikmeter gemessen worden – 135 Mal mehr als der Grenzwert, der in den Vorschriften der Carabineros für den Einsatz dieser Stoffe vorgesehen sei: 0,4 Milligram pro Kubikmeter. Der Wert sei zudem 27 Mal höher als jener, den US-amerikanische Sicherheitsbehörden als „unmittelbar gefährlich für das Leben und die Gesundheit“ bezeichneten. „Das Leben der Demonstrierenden wurde in Gefahr gebracht“, schlussfolgern die Forscher*innen von Forensic Architecture.

Außerdem seien je nach Windrichtung Gaspartikel von der Plaza de la Dignidad fortgetragen worden und im benachbarten Río Mapocho gelandet, heißt es in der Untersuchung weiter. Der Fluss diene als Bewässerungsquelle für landwirtschaftliche Flächen südlich von Santiago, der Einsatz von Tränengas schädige deshalb auch die Umwelt.

„Brutale Wirkung“ – Forscher*innen fordern Verbot von Tränengas

Obwohl es Vorschriften für den Einsatz von Tränengas gebe, könnten diese „in der Praxis und vor Ort einfach nicht umgesetzt und überprüft werden“, so Martyna Marciniak von Forensic Architecture. Neben der unmittelbaren Wirkung auf die Demonstrierenden sei die Konzentration der Reizstoffe in der Luft gefährlich und verursache „sehr wahrscheinlich“ bleibende Schäden für Gesundheit und Umwelt. „Deshalb sollte Tränengas verboten werden“, sagte Marciniak.

Wie in Hongkong und dem Libanon habe der urbane Raum in den chilenischen Protesten eine Schlüsselfunktion eingenommen, sagte Dr. Samaneh Moafi, ebenfalls von Forensic Architecture. Die Menschen hätten Straßen und Plätze genutzt, um ihrer Unzufriedenheit kollektiv Ausdruck zu verleihen und seien mit Reizgasen unterdrückt worden. „Die medizinischen Untersuchungen beweisen deren brutale Wirkung“.

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