„Reale Gefahr eines Anschlags“

(São Paulo, 20. September 2022, taz).- Am 24. August verlässt der linke Politiker Rodrigo Mondego gegen 14 Uhr ein Wahlkampfbüro im Zentrum von Rio de Janeiro. Plötzlich schneidet ihm ein Auto den Weg ab. Am Steuer sitzt ein Mann, öffnet das Fenster. „Er richtete eine Pistole auf mich und schrie Beleidigungen“, erzählt Mondego der taz. Der Menschenrechtsanwalt, der in diesem Jahr für die Arbeiterpartei PT in den Stadtrat einziehen will, kommt mit dem Schrecken davon. Der Mann zieht ab, Mondego erstattet Anzeige.

Am 2. Oktober findet in Brasilien die erste Runde der Präsidentschaftswahl statt. Alles läuft auf einen Showdown zwischen dem rechtsradikalen Amtsinhaber Jair Bolsonaro und Ex-Präsident Luiz Inácio „Lula“ da Silva hinaus. Die brasilianische Gesellschaft ist extrem polarisiert, die Anspannung wegen der näherrückenden Wahl ist im Land zu spüren. Unlängst zeigte eine Studie des Meinungsforschungsinstituts Datafolha, dass 67,5 Prozent der Brasilianer*innen Aggressionen wegen ihrer politischen Entscheidungen fürchten. Und die Episode aus Rio de Janeiro ist kein Einzelfall.

Bolsonaro für Angriffe mitverantwortlich gemacht

Besonders hohe Wellen schlug der Fall von Marcelo Arruda. Der Lokalpolitiker der Arbeiterpartei PT wurde Mitte Juli auf seiner Geburtstagsparty von einem Bolsonaro-Anhänger ermordet. Im Bundesstaat Mato Grosso tötete am 7. September ein Bolsonaro-Fan einen Anhänger von Ex-Präsident Lula nach einer politischen Diskussion. Laut Polizeiangaben soll der Täter versucht haben, sein Opfer zu enthaupten.

Viele machen Bolsonaro für die Angriffe mitverantwortlich. Regelmäßig ruft der Rechtsradikale ganz offen zu Gewalt auf. Bei einer Wahlkampfveranstaltung 2018 schnappte sich Bolsonaro einen Mikrofonständer, imitierte damit ein Gewehr und brüllte in das Mikrofon: „Wir werden die Petralhada (abwertende Bezeichnung für Anhänger*innen der PT, die Red.) erschießen.“ Der Präsident weist jede Verantwortung für die Gewalt von sich.

Gewalt könnte noch weiter eskalieren

Auch hochrangige Politiker*innen berichten von Drohungen. Sowohl der linke Politiker Guilherme Boulos als auch Ciro Gomes, Präsidentschaftskandidat der Mitte-links-Partei PDT, wurden bei Wahlkampfveranstaltungen von bewaffneten Männern bedroht. Besonders die Sicherheit von Lula bereitet Mitarbeiter*innen der PT große Sorgen.

„Es gibt die reale Gefahr eines Anschlags“, meint Mondego, der seit 2005 Mitglied der Partei ist und mehrere Wahlkämpfe unterstützt hat. Nach Störungen am Rand von Wahlkampfveranstaltungen hat der Ex-Gewerkschafter begonnen, eine kugelsichere Weste zu tragen. Außerdem musste er aus Sicherheitsgründen umziehen.

Bereits im Jahr 2018 kam es im Wahlkampf zu gewaltsamen Episoden. Mehrere Menschen starben, fast alles Linke und Unterstützer*innen der PT. Doch auch Bolsonaro wurde Opfer eines Anschlags: Ein Mann stach den damaligen Kandidaten während eines Wahlkampfauftritts nieder und verletzte ihn schwer. Die Polizei erklärte allerdings später, der Täter sei geistig verwirrt gewesen und habe keine politische Motivation gehabt.

In diesem Jahr könnte sich die Situation noch weiter zuspitzen. Denn Bolsonaro attackiert die demokratischen Institutionen und verbreitet seit Monaten Lügen über das elektronische Wahlsystem. „Nur Gott“ könne ihm die Präsidentschaft entziehen.

Bolsonaro mobilisiert radikale Wählerbasis

Bolsonaro mobilisiert außerdem regelmäßig seine radikale Wählerbasis. Am 7. September, dem Nationalfeiertag, gingen Hunderttausende Rechte für „ihren Präsidenten“ auf die Straße. Obwohl im Vorfeld mit Gewalt gerechnet wurde, blieben die Proteste weitestgehend friedlich.

In den letzten Tagen ließ Bolsonaro überraschend gemäßigtere Töne anklingen und deutete in einem Interview an, auch eine Wahlniederlage zu akzeptieren. Die moderateren Töne dürften aber vor allem eine Wahlkampftaktik sein. Bolsonaro liegt klar hinter Lula, die Ablehnung gegen ihn ist groß und der Rechtsradikale ist auf die Stimmen der politischen Mitte angewiesen.

PT-Politiker Mondego glaubt, dass Bolsonaro versuchen wird, sich mit allen Mitteln an der Macht zu halten. Droht gar ein Staatsstreich, wie es derzeit vielerorts diskutiert wird? Mondego hält die Wahrscheinlichkeit eines Putsches durch Sicherheitskräfte derzeit für nicht groß. „Aber komplett ausschließen kann man es leider trotzdem nicht.“

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