(Santiago de Chile, 27. Januar 2020, Cosecha Roja).- Am Abend des 18. Oktober erhielt Claudio Chávez (23), Krankenpflegeschüler im vierten Studienjahr an der Universidad de los Andes, einen Anruf. Eine Freundin braucht seine Hilfe: In ihrer Wohnung saß jemand mit einer schweren Verletzung am Auge. Als Claudio dann auf die Straße trat, schockierte ihn, was er da sah.
„Die Demonstration war heftig. Es gab viel Gewalt auf der Straße“, erinnert er sich. An diesem Morgen hatte er nur einen Erste-Hilfe-Koffer mit den üblichen Utensilien, die man darin normal vorfindet, dabei. Auf dem Weg aus der Innenstadt Santiagos heraus wusste er, dass die Zahl der Verwundeten jetzt täglich steigen würde. Er schwor sich noch mehr zu helfen: Er konnte nicht Zuhause sitzen bleiben und zusehen, wie Menschen ihre Augen verloren oder auf andere Art verletzt wurden.
Nach über 40 Tagen Freiwilligenarbeit steht er vor dem Hauptgebäude der Brigade des Blauen Kreuzes auf der Corwne-Plaza-Galerie. Andere Freiwillige malen dort breite Kreuze auf das schwarze Tor. Nur wenige Meter weiter befindet sich jener Ort, der zur zentralen Ikone der seit mehr als drei Monaten stattfindenden Demonstrationen geworden ist: der Baquedano-Platz oder – wie die Demonstrant*innen ihn umbenannt haben – der Platz der Würde.
Neben der Brigade des Blauen Kreuzes (so nennt man sie wegen des Kreuzes auf ihrer Tür und um sie vom Roten Kreuz zu unterscheiden) gibt es mindestens ein Dutzend weiterer Organisationen. Jede Brigade setzt sich aus medizinischem Personal, Studierenden der Krankenpflege, Medizinstudent*innen, Kinesiologie-Student*innen und auch aus Personen aus der Tourismusbranche oder mit Technikkenntnissen zusammen. Alle tragen sie weiße Schutzanzüge, Schutzbrillen und Atemschutzmasken. Sie schlängeln sich durch das Getümmel und retten die Verletzten. Das alles ist nötig, weil es seit dem 18. Oktober eine Verletzungskrise gibt. Diese Krise hat bis heute insgesamt 29 Tote hinterlassen.
Gemäß den Daten des Nationalen Instituts für Menschenrechte (INDH) vom 30. Dezember 2019 befanden sich 3.583 Verletzte in Krankenhäusern, 359 davon mit einer Augenverletzung. 2.050 von ihnen wurden von einem Schuss nicht zu identifizierender Patronenkugeln oder Projektilen getroffen. Das sind 27 Verletzte pro Tag in den 74 Protesttagen des Jahres 2019.
Die trügerische Ruhe danach
Es ist Dienstag, 18 Uhr, Mitte Dezember: Patricio Acosta (51) betritt das Hauptquartier des Roten Kreuzes in der Avenida Santa Maria im Stadtteil Providencia. Er ist Geschäftsführer des Roten Kreuzes in Chile. Er trägt ein weißes Polohemd mit einem Streifen auf der Brust und einem Kreuz auf dem linken Ärmel. Das ist derselbe Mann, der im November in Chiles Medien mit seinem dringenden Aufruf zur medizinischen Versorgung ein Echo ausgelöst hat. Das tat er, weil Erste-Hilfe-Material fehlte, denn es gab so viele Verletzte, die die Freiwilligen in den ersten Wochen der Proteste unterstützt hatten. Er ist es auch, der Zweifel an den Zahlen des Nationalen Instituts für Menschenrechte erhob und meinte, dass sie viel zu wenige Verletzte gezählt hätten.
Das Gesicht des Sohnes einer Dozentin und des jüngeren Bruders zweier Lehrer (sie haben ihm ihr soziales Engagement vererbt) sieht ganz müde aus. Inmitten eines riesigen Büros voller Sessel in den Ecken und sauberen braunen Holzwänden denkt er nach und fühlt sich besser. Die Arbeit, die er in den letzten beiden Wochen als Koordinator für die Freiwilligen, die auf die Straße gehen, geleistet hat, war jetzt entspannter. Im ersten Monat mussten 60 Freiwillige in das Epizentrum des Protests, das etwa 300 Meter über dem Mapocho-Fluss liegt, hinausziehen, heute reichen 15 pro Tag. Erstens ist ihre Anwesenheit dank des Rückzugs von Schusswaffen weniger notwendig, und zweitens ist es jetzt heißer und sie wollen nicht mehr als notwendig in der Hitze stehen. Für ihn verhält es sich direkt proportional: Je weniger Demonstranten auf der Straße stehen, desto weniger Menschen brauchen Hilfe.
Acosta ist ein sozialer Kommunikator, der vor 22 Jarhen zum Roten Kreuz kam. Er wollte damals einen Freund begleiten. Die autonome Einheit des Roten Kreuzes, stellt er klar, arbeite nicht mit einer der unabhängigen Brigaden zusammen, welche nach den Unruhen zu Beginn entstanden und die Einsätze des Roten Kreuzes imitiert haben. Aber sie hätten mit diesen Gruppen über WhatsApp kommuniziert, miteinander gesprochen, Informationen und auch nützliche Geschichten ausgetauscht. Viel aber arbeiteten sie nicht gemeinsam.
Die kleinen Gesundheitsriesen
Auf einigen Tischen hinten auf einer Kunsthandwerkermesse in Pío Nono, vor der juristischen Fakultär der Universidad de Chile, stehen große weiße Säcke mit vielen unterschiedlichen Dingen darin. Im Innern findet man Seren, Spritzen, Mullbinden, Handschuhe, Windeln und Verbandsmaterial. Es sind Spenden, die Leute der Hilfsbrigade ganz in der Nähe des Baquedano-Platzes gebracht haben. Diese Brigade betreute in den ersten drei Wochen zwischen 70 und 150 Personen pro Tag. Heute sind es noch 20 bis 25.
Sie könnten nur mit Hilfe von außen unabhängig bleiben, sagt Matías Feliú (21), einer der Leiter der UST-Brigade, eine jener Brigaden, die am meisten vor der Universität steht. Die Brigade lagert viele ihrer Hilfsmittel in einem benachbarten Teil des Gebäudes. Es dient ihnen als Wand, um mit dem Rücken gedeckt zu stehen.
Die Brigadist*innen helfen sich gegenseitig. Entweder versorgen sie die Ärzte der einzelnen Rudel mit Vorräten oder sie machen einer Gruppe, die Hunger hat, etwas zu essen.
Obwohl sie versuchen die Arbeit erträglich zu gestalten, sie sich auf die Menschen und verschiedenes verlassen, sind sich die Brigadisten auf dem Baquedano-Platz über ein Problem einig, das sie alle betrifft: Die Polizei handele ohne Kriterien, sie nutzten die Tage, an denen sie die Oberhand halten, um noch das Helfen zu unterdrücken.
Unterdrückt nur schön, egal wen
In der Woche des 8. Dezember wurde der Brigadeposten des Colectivo Inquieto in einer niedergebrannten Eckfiliale der Santander-Bank in Irene Morales, die dem Zorn der Vermummten erlag, ohne ersichtlichen Grund von den Wasserwerfern angegriffen. Polizeifunktionäre kamen vorbei und wollten wissen, ob sie Benzin hätten und wohl Molotow-Cocktails bauen wollten. Die Dosen waren mit Wasser gefüllt, sagt Melissa León (24), Abenteuertourismusstudentin und Brigadistin des Colectivo Inquieto.
„Am Anfang waren wir sehr verwirrt davon, wie das Rote Kreuz arbeitete“, sagt Sebastián, Leiter von Pío Nono. Aber als die Unterschiede zunahmen und die Funktionäre merkten, dass sie nicht alle gleich waren, änderte sich die Vorgehensweise. Jetzt ist die Beziehung so wie sie sie zu jedem Demonstranten aufbauen. Sogar Polizisten sind beigetreten, um die Verwundeten abzuhalten.“
So kommt es zu einer weiteren komplizierten Situation für die Freiwilligenarbeit. Die Stellen, wo sich positioniert haben, sind improvisiert. Da sind teils Fliegen, da ist schlechter Geruch und die Böden sind nicht gerade steril. So sieht die Situation der Brigade des Blauen Kreuzes auf etwa zehn Quadratmetern, aus. Beim Colectivo Inquieto gibt es Graffitis an der Wand, auf denen in großen Lettern „Nicht urinieren“ steht.
Trotzdem müssen sie jeden Tag aufräumen
Vor einem Monat war die Avenida Libertador Bernardo O’Higgins, in der das Blaue Kreuz sitzt, in einer völlig anderen Lage: Es fuhren keine Busse und beide Straßenseiten waren voller Menschen. „Der Krieg formiert sich nebenan“, sagt Claudio, während er mit seiner Hand Richtung Ramón Corvalán zeigt. In diesem Moment bricht nicht gerade ein Krieg aus, aber es hagelt lautes Pfeifen und Kommentare von Demonstrant*innen und den Mitgliedern der Spezialeinheiten, die neben einer mobilen Wachstation stehen, die mit weißen Farbflecken verziert ist. Die Situation könnte sich weiter zuspitzen.
Claudio ist es unangenehm zu sagen, dass er eine private Universität in Las Condes besucht. Dieselbe Institution, die in der ersten Woche der Krise keinen Unterricht hatte, in der danach aber, irgendwie gezwungenermaßen, wieder unterrichtet wurde, erzählt er. Es besteht ein starker Widerspruch zwischen der Einrichtung, wo er lernt und in der es kaum zu Unruhen kam, und dem angespannten Ort, an dem er Hilfe leistet. „Wenn ich ehrlich bin, sah ich keine Unterstützung der Fakultät für Krankenpflege für die Studenten, die demonstrieren wollten. Wir hätten während der intensiven Protesttage viel helfen können“. Sie waren eine Minderheit und dann gaben die Kommilitonen, die teilgenommen hatten, auf und gingen nicht mehr hin.
Die Freiwilligen sind meistens jung, engagieren sich für soziale Belange, kommen aus sozial schwachen Bevölkerungsteilen oder von privaten Universitäten, die stigmatisiert werden. Einige arbeiten in Gesundheits-, andere in Handwerksberufen. In Zeiten der Krise scheinen alle nützlich zu sein. Es gibt Schildträger*innen, die die Rettungssanitäter*innen oder Ärzt*innen bei den Einsätzen vor Kugeln schützen, Kugeln entfernen und mit Mull verbinden. Die meisten fühlen sich berufen zu dienen, oder sie sagen, sie seien dort, um die Ideale der Protestierenden zu verteidigen. Es ist eine Arbeit von Tag zu Tag, jeder Tag ein Marathon und ganz und gar unbezahlt.
Es ist acht Uhr abends und die Freiwilligen machen sich fertig. Sie schließen ab und gehen. Morgen müssen sie zurückkehren, so lange bis sich die Geister des Ausbruchs dieser Krise, der so massiv und gewalttätig war, beruhigt haben.
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Ich habe die Militärdiktatur in Chile 1973- 76 erlebt u. kann mir ein Bild machen wie es heute ist: nicht viel anders! Leider