Warum Milei gewonnen hat

Milei
Wollt ihr den?
Javier Milei, Sieger der Präsidentschaftswahlen, schreit ins Mikro.
Foto: Mídia NINJA via La Mar de Onuba
CC BY-NC 4.0 Deed

(Buenos Aires, 21. November 2023, El Salto).- Um die jüngesten Ereignisse zu verstehen, muss man die Prämissen ändern, unter denen die argentinische Politik in den letzten 20 Jahren im In- und Ausland, und dort insbesondere durch unsere linken Freund*innen in den Schwesterländern, analysiert wurde. Um diese historische Periode zu erklären und die Ereignisse einzuordnen, bedarf es eines Narrativs jenseits der Parameter, die für soviel Verwirrung gesorgt haben. Und vor allem muss das zentrale politische Phänomen der letzten zwei Jahrzehnte analysiert werden: der Kirchnerismus, der mit Angst und Schrecken assoziiert wird wie Frankensteins Ungeheuer.

Die Repräsentationskrise ist zurück

Diese politische Kraft – und ihre Erfolge – werden nur allzuleicht überbewertet. Wie ist es möglich, dass der Peronismus nach einem „gewonnenen Jahrzehnt“, nachdem das Land reindustrialisiert und die Auslandsverschuldung gelöst wurde, eine solche Niederlage erleidet und 21 von 24 Provinzen an diesen Clown verliert? Hält man an der Sichtweise fest, bleibt nur noch die Schlussfolgerung, dass wir es mit einem masochistischen, ignoranten oder wie auch immer gearteten Volk zu tun haben. Die Betrachtung der letzten 20 Jahre zu ändern mit dem Ziel,  verlangt von den Meinungsmachern, den „echten“ Intellektuellen des Kirchnerismus, die zwei Jahrzehnte kritsch zu hinterfragen, in denen sie dieselben Phrasen kontimuierlich wiederholt haben, die nun zerplatzt sind. Nur so ist ein Verständnis der Ereignisse möglich, doch hier geht es um einen intellektuell anspruchsvollen Prozess: Wie kann man sich von den bestehenden Gewissheiten lösen, an denen so viele Jahre lang festgehalten wurde? Es gibt viele Höhepunkte, die das vom Kirchnerismus gezeichnete Märchen perfekt illustrieren. Eine davon ist das „que se vayan todos“ („alle sollen gehen“), die Hymne des Jahres 2001 – ein Slogan, der von den Kräften, die 2003 die Macht übernahmen, gewürdigt, politisiert und überwunden werden sollte. Das ist nicht geschehen, und nun wird dieser Slogan wieder zitiert, und zwar von denen, die einen „Marktfaschismus“ propagieren. Damit schließt sich der Kreis der letzten 20 Jahre. Die Repräsentationskrise ist in verstärkter Form zurückgekehrt. Während damals ein Flügel der beiden traditionellen politischen Parteien – Radikale und Peronisten – und ein Bündnis von Unternehmern und sozialen Kräften ein Netzwerk aufgebaut haben, um eine explosive Veränderung zu verhindern, geben heute die politischen Lager, die eine ähnliche Strategie umsetzen könnten, ein schwaches, zersplittertes und untereinander zerstrittenes Bild ab.

Mileis Triumph geht auf die Summe der Fehler des Kirchnerismus zurück

Macris vierjährige Regierungszeit hat dazu beigetragen, die argentinischen Missstände zu verschlimmern, aber Mileis Triumph kann nur auf die Summe der Fehler des Kirchnerismus zurückgeführt werden. Wobei Milei nicht von der Niederlage des Kirchnerismus profitiert, sondern – viel schlimmer- von dessen Scheitern. In der Kluft zwischen Niederlage und Scheitern liegt ein Schlüssel zum Verständnis. Damit es eine Niederlage geben kann, muss es einen Kampf geben. Der Kirchnerismus hat das Epos eines Kampfs konstruiert, den es nicht gab, oder jedenfalls nur teilweise, zu einem bestimmten Zeitpunkt, schwach, schlecht organisiert und noch schlechter angeführt. Aber dieser Diskurs war wichtig, um sich Unterstützung und Loyalität zu sichern. Und hier liegt der Grund für die derzeitige Orientierungslosigkeit: Um das identitätsstiftende Narrativ zu bewahren, werden Ad-hoc-Hypothesen aufgestellt, die den Kern dieser Theorien retten sollen. Eine besonders dumme Behauptung in diesem Zusammenhang ist die, Argentinien sei ein Land der Mittelklasse. Ein Land der Mittelklasse mit 45 Prozent Armut? Und gibt es das überhaupt – ein Land der Mittelklasse ?

Alle Ziele vor die Wand gefahren

Zu den Zielen, die sich der Kirchnerismus von Anfang an gesetzt hatte, gehörten der Aufbau eines „seriösen Kapitalismus“, eine neue politischen Ordnung mit zwei Koalitionen aus Mitte-Links und Mitte-Rechts, die Beendigung der Armut, die Ankurbelung der Produktion zum Nachteil des Finanzsektors, der Aufbau eines „nationalen Bürgertums“ und die Reindustrialisierung des Landes. In jedem dieser Punkt ist das Ergebnis die Kehrseite dieser Medaille: Der heutige Kapitalismus ist weniger seriös als der damalige, die politische Legitimität droht in ein tieferes Loch zu fallen als damals, die Armut wird den schlimmsten Moment in unserer Geschichte um mehrere Prozentpunkte übertreffen, das Land leidet unter den Kapriolen einer Finanzelite, die Verarmung des Bürgertums geht weiter den Weg, der immer mehr auf Ausbeutung und weniger auf Produktion ausgerichtet ist. Gleichzeitig ging die Wirtschaft zurück und hängt heute von einem Produkt ab, das 2003 kaum ins Gewicht fiel, nämlich Soja. Die Macht der Monopole ist größer geworden, und sie sind zunehmend in ausländischer Hand. Und als ob das noch nicht genug wäre, hat der Drogenhandel stark zugenommen. Während dieser Entwicklung regierte der Kirchnerismus 16 der letzten 20 Jahre. Macris vierjährige Regierungszeit hat die Missstände verschlimmert, aber auch sein Wahlsieg ist das Ergebnis der kirchneristischen Versäumnisse. Wie sonst hätte eine so widerwärtige Persönlichkeit ohne soziale Werte zum Präsidenten gewählt werden können?

Der Bruch mit den politischen Traditionen kommt von rechts

Die Geschichte dieser beiden Jahrzehnte in Argentinien ist Teil einer größeren Geschichte, nämlich von 20 Jahren, in denen alle Länder Südamerikas von einer Welle progressiver Regierungen erfasst wurden. Daraus ergibt sich auch einer der Schlüssel zu den Missverständnissen, nämlich die Gleichsetzung dieser Regierungen und das vorschnelle Ziehen von Parallelen. Seit dem Triumph von Chávez in Venezuela bis zum heutigen Tag sind in allen südamerikanischen Ländern neue, linke, fortschrittliche und manchmal revolutionäre Kräfte an die Macht gekommen und die alten traditionellen Parteien zusammengebrochen. In allen bis auf zwei: Paraguay und Argentinien. In Argentinien ist die fortschrittliche Regierung nicht aus dem Zusammenbruch der traditionellen Parteien entstanden, sondern als Versuch einer dieser traditionellen Parteien, sich neu zu formieren. Die progressiven Kräfte, die in Paraguay an die Regierung kamen, entstanden außerhalb der traditionellen Parteien, aber um an die Regierung zu kommen, taten sie dies im Bündnis mit einer dieser Parteien – dem PLRA. Später erlangte die andere traditionelle Partei, die Colorado-Partei, wieder die Vorherrschaft. Im Gegensatz zu Chávez, Evo, Correa, Lula, Tabaré Vázquez und Pepe Mujica, zu den verschiedenen Experimenten in Peru und in jüngster Zeit zu Petro in Kolumbien und Boric in Chile entstand in Argentinien die fortschrittliche Regierung nicht als Produkt einer neuen Formation angesichts des Zusammenbruchs der traditionellen Parteien, sondern als Versuch einer dieser traditionellen Parteien, sich neu zu erfinden. Das politische System, das sich nach dem Regierungsantritt von Néstor Kirchner herausgebildet hat, führte zu einer neuen Zusammensetzung der Parteien um zwei Mitte-Links- und Mitte-Rechts-Koalitionen, die Nachkommen dieser traditionellen Parteien sind. Die UCR (Unión Cívica Radical) bildet das Rückgrat der Rechtskoalition, und der PJ (Partido Justicialista) ist der Stützpfeiler der Mitte-Links-Koalition. Anders als in ganz Südamerika kam der größte Bruch in diesem politischen System, der Wahlsieg durch einen Außenseiter, nicht von der Linken, sondern von der Rechten. Und das nicht nur einmal, sondern zweimal. Zuerst war es Macri, und jetzt vertieft sich der gleiche Bruch, wiederum von rechts, mit Javier Milei. Diesmal zwar ganz außerhalb der traditionellen politischen Parteien, aber getragen vom Großkapital. Diese Brüche durch die Rechten gab es bisher nur in zwei südamerikanischen Ländern, in Brasilien mit Bolsonaro – einem Land mit einem sehr speziellen und zersplitterten politischen System – und in Peru. Hier wurde der Zusammenbruch des politischen Systems, in dem die herrschenden Klassen die Macht ausübten und das später den gesamten Subkontinent erfassen sollte, mit dem Triumph Fujimoris zu Beginn der 1990er Jahre vorweggenommen. Argentinien ist derzeit das einzige Land in Südamerika, das außerhalb der traditionellen Parteien keine linke, Mitte-Links- oder wie auch immer man sie nennen mag, Regierung hervorgebracht hat. Darin liegt der Erfolg – und hier ist das richtige Wort Erfolg, nicht Niederlage oder Misserfolg – von Néstor Kirchner und seinem ursprünglichen Plan: seine Regierung als Instrument für die Neuordnung der politischen Macht und der kapitalistischen Regierungsfähigkeit durch die herrschenden Klassen. Der Erfolg der Aufgabe, die Kirchner sich gestellt hat, hat nicht verhindert, dass die strukturellen Ursachen für die Verschlechterung der Lebensbedingungen auf allen Ebenen weiter wirken und die Fundamente aushöhlen, auf denen diese politische Operation beruhte.

Dieses Verhältnis zwischen Erfolgen und Misserfolgen ist der Schlüssel zum Verständnis, warum einer dystopischen Regierung jetzt die Türen offen stehen. Die kirchneristischen Regierungen haben erfolgreich das Aufkommen einer potenziell systemfeindlichen Kraft verhindert. Sie verschleierten diese Aufgabe hinter einer epischen Erzählung, um Unterstützung für einen Kampf zu erhalten, den es kaum gab, und zugleich versäumten sie es, die notwendigen Voraussetzungen zu schaffen, um die Institutionen im Sinne eines so genannten „seriösen Kapitalismus“ langfristig zu stabilisieren. Da sich kein Instrument zur Überwindung dieser Situation fand – der Kirchnerismus ließ auch keinerlei Entwicklung in dieser Hinsicht zu – , kommt die Antwort nun von rechts. Und sie hat das Potential, die soziale Zerrissenheit auf die Höhe eines nicht kalkulierbaren Himalayas zu vergrößern.

Übersetzung: Annette Brox

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