Steven Forti: Freiheit und Gleichheit müssen Hand in Hand gehen

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Steven Forti forscht und schreibt über die globale extreme Rechte. Foto: Fabrizio Fenucci

(Barcelona/Buenos Aires, 5. April, La Nación/poonal).-

Die Zunahme von sozialer Ungleichheit ist ein Grund für den Verfall von Demokratien und für den Aufstieg der extremen Rechten, sagt der italienische Historiker Steven Forti. Er beschreibt Milei als die argentinische Ausprägung dieses Phänomens.

Mit freundlicher Genehmigung der Autorin Ana D´Onofrio übersetzen wir dieses Interview, das im Original auf Spanisch bei La Nación veröffentlicht wurde.

 

Zum ersten Mal seit zwanzig Jahren gibt es weltweit weniger Demokratien (88) als Autokratien (91). Liberale Demokratien sind international betrachtet zu dem politischen System mit der geringsten Verbreitung geworden, im vergangenen Jahr waren es nur 29. Drei von vier Menschen (72 Prozent) leben in Autokratien, das ist der höchste Stand seit 1978. Dies sind harte, kalte und alarmierende Zahlen aus dem Bericht des Jahres 2025 des international renommierten Instituts Varieties of Democracy (V-Dem), das der Universität Göteborg (Schweden) angegliedert ist und die umfangreichste Zusammenstellung globaler Daten über Demokratie in 202 Ländern erstellt.

Die Debatte über die Schwächung der Demokratien macht sich nicht nur in Buchläden bemerkbar, sondern ist im Westen aktuell unausweichlicher Bestandteil bei Meetings und politischen Diskussionsrunden. Um das Phänomen zu analysieren, sprach LA NACION mit Professor Steven Forti (Trient, 1981), der trotz seines jungen Alters sein halbes Leben der Erforschung von Faschismus, Populismus, Nationalismus und der extremen Rechten gewidmet hat. Forti ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Autonomen Universität Barcelona und Autor der Bücher „Demokratien in Auslöschung. Das Spektrum der Wahlautokratien“ (2024) und „Extreme Rechte 2.0. Wie kann die globale Normalisierung von ultrarechten Ideen bekämpft werden?“ (2022, Vorstellung einer aktualisierten und erweiterten Fassung des erfolgreichen Essays am 26. April 2025 auf der Buchmesse in Buenos Aires).

„Wir stehen vor einer echten Zeitenwende“, erklärt Forti in perfektem Spanisch von Barcelona aus, wo er seit zwei Jahrzehnten lebt. „Uns steht noch viel Unbekanntes bevor.“ Alles ändere sich sehr schnell, vor allem die Rolle der Vereinigten Staaten, betont er. Trumps zweite Präsidentschaft, die „radikale“ Veränderungen mit sich bringe, wirke sich auf den gesamten Westen aus. „Trump zerstört gerade die liberale internationale Ordnung, die nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem auf Betreiben der Vereinigten Staaten aufgebaut wurde. Wir sind von einer Ära, die durch den Versuch gekennzeichnet war, die Welt auf der Grundlage von internationalen Organisationen wie den Vereinten Nationen oder der Welthandelsorganisation zu organisieren, von einer Diplomatie, die Konflikte zu vermeiden suchte, zu etwas übergegangen, das dem Gesetz des Dschungels ähnelt. Trump sagt: `Ich will Kanada, ich will den Panamakanal, ich will Grönland´ – eine fast imperiale Geste.“

Ist die Vorstellung, dass die USA starke Mechanismen zum Schutz ihrer Institutionen entwickelt haben, in sich zusammengebrochen?
Möglicherweise – hinter allem steht doch die Frage, was wir unter Demokratie verstehen. Meines Erachtens wurde seit dem Sieg des neoliberalen Modells in den späten 1970er, frühen 1980er Jahren eine bestimmte Vorstellung von Demokratie durchgesetzt, die scheinbar nur darin besteht, einige Spielregeln zu respektieren. Mit anderen Worten: Wenn ein Kandidat die Wahlen verliert, gibt er die Macht ab, ein anderer Kandidat kommt und bleibt vier Jahre lang – und nicht viel darüber hinaus. Eine minimalistische Demokratie. Ein weiteres, für die Definition von Demokratie entscheidendes Element, nämlich der soziale Aspekt, ist verlorengegangen.

Definieren Sie bitte, was eine „minimalistische Demokratie“ ist.
Das sind zum Beispiel Länder mit Institutionen, die einem liberal-demokratischen Modell entsprechen, wo aber über Wahlen, die alle vier oder fünf Jahre abgehalten werden, hinaus nicht viel mehr passiert – und das wird dann als Demokratie bezeichnet. Denken wir an Putins Russland oder an Orbáns Ungarn. Dort finden alle vier Jahre Wahlen statt, vorgeblich gibt es Oppositionsparteien – in Russland, wie wir wissen, allerdings immer weniger – demokratische Spielregeln werden jedoch dem Anschein nach respektiert.
Andererseits hat auch das neoliberale Modell von Milton Friedman [red. Anm.: US-Ökonom der Chicagoer Schule, Urheber des neoliberalen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell, das zuerst in Chile nach dem Putsch 1973 durchgesetzt wurde] das Modell einer partizipativen Demokratie angegriffen.

Der berühmte Monetarismus jener Jahre …
Genau, das war eine Reaktion auf die sozialen Veränderungen und das Erstarken der Linken in den 1960er Jahren, verbunden mit der Angst vor einer partizipativen Demokratie. Damit einhergehende Vorschläge gegen ein staatliches Eingreifen in die Wirtschaft schwächten die gesellschaftlichen Strukturen und Gruppierungen, beispielsweise die Gewerkschaften und andere Organisationen der Zivilgesellschaft, erheblich. Da liegt auch die Basis für das Erstarken der extremen Rechten, die sich in den Institutionen einnistet und an die Macht kommt, wie wir gerade sehen.

Steht der Wohlfahrtsstaat, wie er in Europa bekannt ist, in Frage?
Ja. Rechtsgerichtete politische Kulturen vom Faschismus bis zum Neoliberalismus stehen alle für einen „Anti-Egalitarismus“ [red. Anm.: Ablehnung eines Konzepts sozialer Gleichheit aller Menschen]. Es geht darum, die Idee von Gleichheit vom Konzept der Freiheit abzutrennen. Damit eine Gesellschaft wirklich demokratisch ist, müssen Freiheit und Gleichheit aber Hand in Hand gehen, also eng miteinander verbunden sein. Die Vorstellung von Gleichheit ist verbunden mit dem Modell des Wohlfahrtsstaats als Antwort auf das Drama des Zweiten Weltkriegs, des Faschismus und der Wirtschaftskrise von 1929. Wir sollten nicht vergessen, dass dieses Programm von Personen entworfen und umgesetzt wurde, die das kapitalistische System verteidigten, aber seiner grausamsten Seite gerade deshalb Grenzen setzten, um es zu retten. Denn Keynes, den die Neoliberalen so sehr hassen, war weder Sozialist noch Kommunist. Er war ein Verteidiger des kapitalistischen Systems, aber er verstand, dass dieses bis zu einem gewissen Grad faire Bedingungen für die gesamte Bevölkerung garantieren musste, um den Kapitalismus zu retten.

Sie bezeichnen die Finanzkrise von 2008 um die Lehman Brothers oft als Meilenstein.
Seit 2008 wurde oft wiederholt, dass der Neoliberalismus in der Krise sei. Doch jetzt wird die Version des Neoliberalismus von Reagan und Thatcher überholt. Eine neue Ausprägung kommt auf, die ausdrücklich antidemokratische Positionen vertritt, die eng verwoben ist mit den neuen Technologien und Personen wie Elon Musk. Ich bin nicht sicher, ob der Begriff Neoliberalismus angemessen ist. Denn hier wird ausdrücklich die Demokratie als ein gescheitertes System bezeichnet, und eine neue Monarchie wird befördert, in der anstelle eines Königs der CEO eines Unternehmens im Zentrum der Macht steht. Das bedeutet also das Ende der internationalen liberalen Ordnung angesichts eines viel aggressiveren Neoliberalismus, mit zentralen Personen, die wichtige Interessen vertreten und viel Geld in Bereichen haben, die schon jetzt die Gegenwart prägen und es in Zukunft weiter tun werden. Diese dominieren den digitalen Raum, sind Besitzer der KI und der sozialen Netzwerke, die beeinflussen, wie die Menschen auf die Welt und auch auf Wahlprozesse blicken.

Parallel zu den extrem rechten Bewegungen …
Ja, eine extreme Rechte, die oft zeigt, dass sie die liberale Demokratie hinter sich lassen und so genannte Wahlautokratien errichten will. Das sehen wir im Fall [des ungarischen Präsidenten Viktor] Orbán, im Fall des salvadorianischen [Präsidenten Nayib] Bukele und auch bei [US-Präsident Donald] Trump. Nachdem sie über Wahlen an die Macht gekommen sind, höhlen sie die Demokratie von innen heraus aus. Als Ergebnis bleibt die Demokratie nurmehr als Fassade, mit illiberalen Werten, ohne Pluralismus im Bereich der Information und ohne Gewaltenteilung.

Sie führen den Fall Ungarn als paradigmatisches Beispiel an.
Ungarn ist das Land mit dem am weitesten umgesetzten Modell einer Wahlautokratie mit einer extrem rechten Ideologie. Als Orbán die Regierung übernahm, änderte er die Verfassung und die Wahlgesetze, um an der Macht zu bleiben. Er greift den Rechtsstaat von innen an: Die Exekutive kontrolliert die Legislative, auch das Justizsystem ist mit Vertrauenspersonen und Getreuen der Regierungspartei besetzt. Mit anderen Worten, Orbán greift die Grundlagen des liberalen demokratischen Systems an.

Er greift auch die Presse an.
Das ist ein weiteres zentrales Element. Er hat den Pluralismus im Bereich der Information ausgeschaltet. In Ungarn befinden sich heute 93 Prozent der öffentlichen und privaten Medien in den Händen von Orbán, seiner Partei oder von Strohleuten aus seinem Umfeld. Das gleiche geschieht in El Salvador unter Bukele. El Faro, die historische Zeitung El Salvadors, war ständigen Angriffen ausgesetzt und wurde zwar nicht aufgekauft, musste sich aber zu einem digitalen Medium wandeln und seinen Sitz nach Costa Rica verlegen. Die Washington Post ist in den Händen von Jeff Bezos [red. Anm.: US-Unternehmer und Gründer der Versandplattform Amazon].

Wie konnte es so weit kommen?
Ich sehe drei große Ursachen. Zum einen die Zunahme der sozialen Ungleichheit in der westlichen Welt. Die Reichen werden immer reicher, die Armen immer ärmer, die Mittelschicht schrumpft, die Arbeit wird stärker prekarisiert, der Sozialstaat geschwächt.
Das zweite Element ist das, was in der Politikwissenschaft als cultural backlash bezeichnet wird. Unsere Gesellschaften haben sich in den letzten Jahrzehnten sehr gewandelt, im Bereich der Gleichstellung der Geschlechter, des Feminismus, LGBTI-Personen haben neue Rechte erhalten. Es geht auch um Veränderungen aufgrund von Migration und der Ankunft einer großen Zahl von Menschen ausländischer Herkunft. Das hat bei Teilen der Gesellschaft zu Reaktionen geführt – auch wegen des Verlusts von Privilegien oder der Angst davor, diese zu verlieren. Die extreme Rechte hat das wahrgenommen und sich zunutze gemacht. Sie schlägt politischen Profit daraus, indem sie Ängste schürt, sie in Groll und Hass wandelt und zu Reaktionen aufstachelt. Hinzu kommt die Krise der liberalen Demokratie.

Was hat sie ausgelöst?
Das wachsende Misstrauen zwischen der Bevölkerung und den Institutionen spielt eine Rolle, der Grad des Misstrauens liegt bei über 70 Prozent. Wenn es weder Vertrauen zwischen den Mitgliedern [einer Gesellschaft] untereinander noch zwischen diesen und ihren Vertretungen gibt, dann sind wir auf einem schlechten Weg. Es geht auch um eine Haltung, eine unsichtbare Ideologie. Erinnern wir uns an Margaret Thatchers berühmten Slogan „There is no alternative“ – „Es gibt keine Alternative“. Für die Probleme von Gesellschaften im Wandel vom Fordismus zum Post-Fordismus wurden pragmatische Lösungen präsentiert. Ein Schlüsselelement in diesem Prozess war die Schwächung gesellschaftlicher Strukturen und Kräfte, von Gewerkschaften, Parteien, Organisationen der Zivilgesellschaft.

Aber da täte auch eine Selbstkritik der Politik und der Gewerkschaften gut.
Natürlich gibt es viele Fehler und viele Verantwortliche. Die Parteien und die Gewerkschaften hatten vor zwanzig oder dreißig Jahren in den meisten Ländern viele Mitglieder und Sitze. Heute sind sie der Schatten ihres Schattens.

In Argentinien haben die Gewerkschaften an Ansehen verloren. Wir sehen Korruption, mafiöse Praktiken, millionenschwere Anführer und arme Mitglieder. Und das gilt auch für die politische Klasse.
Meine Überlegungen dazu sind vielleicht etwas eurozentristisch, weil ich die hiesigen Kontexte besser kenne. Vielleicht ist der Vormarsch der extremen Rechten an einem Ort auf Fabrikschließungen oder steigende Arbeitslosigkeit zurückzuführen, an einem anderen auf die Einwanderung, an noch einem anderen auf die Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren. Oder ein bisschen von allem. Aber der Kontext ist immer entscheidend.

Trump, Orbán, Milei, Abascal, Meloni, vielleicht Bolsonaro… sind sie alle gleich?
Nein, jeder Einzelne hat seine Besonderheiten, aber sie gehören zu dem gleichen politischen Spektrum auf globaler Ebene. Ihre Entstehung hängt mit den jeweils unterschiedlichen Realitäten in ihren eigenen Ländern zusammen, aber sie haben einige Gemeinsamkeiten. Sie sprechen die Sprache der einfachen Leute und können sehr gut mit den sozialen Netzwerken umgehen. Sie treten grenzüberschreitend, provokativ, cool und sogar mit einer scheinbaren Anti-Establishment-Haltung auf, was zu einer gewissen ideologischen Verwirrung führt.

Was denken Sie über Milei?
Milei ist eine groteske Figur. Es ist ihm gelungen, seine Exzesse zu seinem Markenzeichen zu machen. Er ist ein gescheiterter Wirtschaftswissenschaftler, der sich überraschenderweise zu einem politischen Unternehmer gewandelt hat, dessen Geschäftsmodell die soziale Unzufriedenheit der argentinischen Gesellschaft ist. Seine paleolibertäre [red. Anm.: von Lew Rockwell und Murray Rothbard begründete, vom Ludwig von Mises Institute vertretene Ideologie, die auf ökonomische Freiheit setzt und den Libertarismus von freigeistigen kulturellen und politischen Positionen bereinigen will] Wette ist nichts anderes als der ausdrückliche Wille, die Ärmsten verhungern zu lassen, die Reichen noch reicher zu machen und den Staat in einen Repressionsapparat gegen Andersdenkende zu verwandeln. Für Milei ist die Demokratie ein Hindernis und die soziale Gerechtigkeit (wenn sie auch nur teilweise gelungen ist, so ist sie doch eine der größten Errungenschaften unserer Gesellschaft in den letzten zwei Jahrhunderten) „abartig“. Damit ist alles gesagt. Auf den Punkt gebracht, er ist ein Möchtegern- oder ein potenzieller Diktator.

Ihre Meinung deckt sich mit der vieler politischer Analysten, die Milei jedoch als Verdienst anrechnen, dass er die Inflation, ein schwerwiegendes und wiederkehrendes Karma Argentiniens, gesenkt hat. Und die Leute auf der Straße erkennen dies an.
Was nützen gute makroökonomische Daten, wenn die meisten Menschen, vor allem die Bedürftigsten, schlechter leben als zuvor? Im ersten Jahr der Regierung Milei hat der Konsum von Fleisch und Milch den niedrigsten Wert aller Zeiten erreicht, die Einkäufe in den Supermärkten sind um 11 Prozent zurückgegangen, der Mindestlohn ist real um 19 Prozent gesunken. Lassen wir die Makrodaten beiseite und schauen, wie die Mehrheit der Menschen wirklich lebt.

Inwiefern unterscheidet sich Milei von Trump, Meloni oder Orbán?
Milei steht für die argentinische Version der großen globalen Familie der extremen Rechten 2.0. Das lässt sich schon an seinen internationalen Kontakten und Freundschaften erkennen: Trump, Musk, Bukele, Netanjahu, Meloni, Abascal, Orbán. Natürlich hat er seine Eigenheiten, aber er teilt die meisten ideologischen Bezüge und politischen und kommunikativen Strategien der anderen ultrarechten Anführer auf globaler Ebene. Was Milei vielleicht am meisten auszeichnet, ist einerseits sein Narzissmus – vergleichbar nur mit dem von Trump und Musk -, seine Exzentrik und sein pseudo-rebellischer Stil, andererseits sein ausdrückliches Bekenntnis zu einem autoritären Ultraliberalismus. Es ist nicht so, dass andere nicht so denken oder nicht in diese Richtung gehen wollen, aber mit Ausnahme des „neuen“ Trump, den wir seit Januar erleben, sagen sie es ihren Bürgern nicht so direkt ins Gesicht.

Was denken Sie über Brasilien, wo Lula an die Macht zurückkehrte, indem er den ultrarechten Bolsonaro verdrängte?
Wir sollten den Blick auf die Bevölkerung richten. Das scheint mir der springende Punkt zu sein. Lulas Sieg zeigt, dass die extreme Rechte durch Wahlen besiegt werden kann, wenn die Linke und generell die Demokraten aktiv werden. Das Gleiche ist 2020 in den Vereinigten Staaten passiert. Wir sehen auch, dass die extreme Rechte an die Regierung zurückkehren kann, wenn die demokratischen Wähler aus dem einen oder anderen Grund zu Hause bleiben. Das grundlegende Problem ist, dass sich in vielen Ländern ein sozialer Block gefestigt hat, der die extreme Rechte unterstützt, trotz der Widersprüche in den heterogenen Koalitionen, die sie bilden. Entscheidend wird sein, was in Brasilien im Jahr 2026 passiert. Und Achtung: Wenn es zu einer autokratischen Wende kommt, wie in Ungarn oder El Salvador, dann wird es keine anderen Möglichkeiten mehr geben. Es ist wichtig, das zu bedenken.

Wie stufen Sie Kuba, Venezuela oder Nicaragua ein?
Autokratische Systeme können unterschiedliche Ideologien haben. China und Nordkorea sind geschlossene Autokratien. Nicaragua, Venezuela und Kuba sind linksgerichtete Wahlautokratien. Ungarn, El Salvador, Israel, Indien und vielleicht bald die Vereinigten Staaten sind extrem rechts ausgerichtet. Entscheidend ist, dass die letzteren seit einigen Jahren die vorherrschenden sind.

Was hat Ihrer Meinung nach die Parteien der Ersten Welt geschwächt?
Sowohl die europäischen sozialdemokratischen Parteien als auch die amerikanischen Demokraten sind sehr dadurch geschwächt, dass sie seit den 1980er Jahren die neoliberale Agenda übernommen haben. Auf der anderen Seite hat sich die postkommunistische Linke nie vom Ende des Kalten Krieges und dem Zusammenbruch der Sowjetunion erholt. Sie muss aus ihrer Komfortzone heraustreten und breite Bündnisse mit politisch weit auseinanderliegenden Parteien und Sektoren der Gesellschaft bilden, um die Demokratie zu schützen.

Welche Rolle sollte die Presse angesichts dieser Situation spielen?
Die Presse leidet seit den 1990er Jahren unter dem Aufkommen der neuen Technologien und der sozialen Netzwerke. Die vierte Gewalt hat viel weniger Macht, aber mehr Konkurrenz als zuvor. Sie sollte sich nicht in ein Sprachrohr für ultra-rechte, extremistische oder antidemokratische Ideen verwandeln. Stattdessen muss sie viel dafür tun, Fakten zu überprüfen, um die für die sozialen Netzwerke typischen Fake News zu vermeiden.

Sie schreiben in Ihren Büchern oft über die passive Gesellschaft.
Ja, weil eine Demokratie sich nur halten kann, wenn es Partizipation gibt. Die Ausweitung der Bürgerrechte in den Vereinigten Staaten wurde in den 1960er Jahren erreicht, weil die Gesellschaft sie sich erkämpft hat. Ende des 19. Jahrhunderts musste die Arbeiterbewegung kämpfen, um den Achtstunden(arbeits)tag und würdigere Arbeitsbedingungen zu erreichen. Wir können nicht darauf warten, dass jemand für uns die Kastanien aus dem Feuer holt. Es braucht einen Bewusstseinswandel bei allen Menschen, auch wenn dies allein die Probleme nicht löst. Das zeigt der Fall Polens, wo seit Dezember 2023 eine breite Koalition unter der Führung von Donald Tusk regiert, die Teile des Mitte-Rechts-Spektrums, der demokratischen Rechten und sogar der Linken umfasst.

In einer Koalition zu regieren ist komplex.
So ist es. In einem System, das – wie Polen – Riesenschritte in Richtung Autokratisierung gemacht hat, ist es nicht einfach, die Veränderungen der institutionellen Strukturen wieder zurückzubauen. Es braucht eine frühere Mobilisierung, solange noch Zeit ist – auch um das zu verhindern, was in den Vereinigten Staaten gerade geschieht. Zwar gab es in Trumps erster Präsidentschaft keinen Autokratisierungsprozess. Sehr wohl aber sehen wir den jetzt, in dieser neuen Phase, die sich sehr von der ersten unterscheidet. Polen ist ein Modell, mit dem wir uns mehr beschäftigen müssen, denn dort war es möglich, gegen die extreme Rechte zu gewinnen. Alle Menschen, denen die Verteidigung der Demokratie, eines pluralistischen Systems am Herzen liegt, müssen aktiv werden, sich beteiligen und nicht bloß zur Wahl gehen. Ich möchte ein weiteres sehr wichtiges Thema hinzufügen: die Notwendigkeit, den digitalen Raum zu demokratisieren.

Werden wir früh genug sein?
Wir sind etwas spät dran. Vor uns haben wir einen Kampf gegen diese neue Art von antidemokratischem Kapitalismus, mit Figuren wie Elon Musk, Peter Thiel [red. Anm.: deutsch-stämmiger US-amerikanischer Milliardär und rechts-libertärer Tech-Unternehmer] und anderen, die Netzwerke, Technologie und viel Geld verwalten. Die künftigen Generationen werden später zurückblicken und fragen: Wie konnten diese Leute – also wir – es mehr als 20 Jahre lang versäumen, demokratische Kontrollmechanismen für den digitalen Raum zu etablieren? Im digitalen Raum gilt das Gesetz des Dschungels. Das wirkt sich auf Wahlkämpfe, die Verbreitung von Fake News, auf extremistische und entmenschlichende Diskurse aus.

Heute sind Musk und Thiel selbst politische Akteure…
Das Erdöl des 21. Jahrhunderts sind die Daten. Die Unternehmen [der Tech-Milliardäre] werden durch die sozialen Netzwerke, durch das Internet reich. Vor allem häufen sie eine enorme Macht an, die aus den Daten von Millionen von Bürgern besteht. Das ist der Kampf, der die Zukunft prägen wird und die Gegenwart schon prägt, auch wenn wir es nicht merken.

Was schlagen Sie vor?
Wir müssen als Gesellschaft aktiv werden, um den digitalen Raum zu demokratisieren, und das wird auch dazu dienen, unsere Demokratien zu retten. Es muss eine Debatte geben, und wir müssen festlegen, wie weit wir diese Räume regulieren wollen. Wir haben es hier mit sehr mächtigen multinationalen Unternehmen zu tun, die sich an keine Regeln halten, und es gibt keine öffentliche Kontrolle darüber, wie sie arbeiten.

Gibt es einen Weg zurück für gefährdete Demokratien?
Den gibt es immer. Wenn wir nicht so denken würden, dann würden wir – wie man hier in Spanien sagt – das Licht ausmachen und gehen. Um der aktuellen extremen Rechten zu begegnen, muss man sie erst einmal verstehen. Und es kommt auf die Bevölkerung an. Wir haben gesehen, dass Dinge in Bewegung kommen– wenn es gesellschaftliche Teilhabe gibt, wenn also die Bevölkerung sich in gesellschaftlichen Prozessen aktiv engagiert.

Halten Sie es auch für notwendig, dass das Bildungssystem diese Themen anspricht?
Ja, natürlich. Wir müssen in der Schule erklären, dass es viel dafür braucht, eine Demokratie aufzubauen. Und wenn wir uns die Vergangenheit in Ländern wie Argentinien, Italien, Deutschland oder Spanien anschauen, dann sehen wir, dass wir sie sehr einfach verlieren können.

Wie sehen Ihre Studierenden an der Universität das?
Die meisten teilen diese Sorge. Allerdings stehen sie nur für einen sehr begrenzten Ausschnitt der Studierenden. Nicht alle von ihnen denken gleich, und sie repräsentieren auch nicht den Durchschnitt der Jugend ihrer Generation.

Richard Powers, Schriftsteller und Pulitzer-Preisträger, sagte, dass die künstliche Intelligenz den Kapitalismus beenden kann. Und [der israelische Historiker] Yuval Harari hat beunruhigende Visionen von der Zukunft.
Es gibt einen Mangel an hoffnungsvollen Zukunftsvisionen. In der Vergangenheit gab es Zeiten von Gewalt, Barbarei, Totalitarismus, aber in der Politik und der Gesellschaft herrschte immer noch die Vorstellung vor, dass die Zukunft besser sein würde. Das ist heute verlorengegangen.

Außerdem ist da noch die Klimakrise.
Auf jeden Fall. Wissenschaftler warnen schon seit Jahren davor, und die Klimakrise hat sehr starke Auswirkungen auf die neuen Generationen. Es besteht eine klare und sichere Gefahr. Wir sind dabei, Selbstmord zu begehen. So gibt es eine Rechtfertigung für diese – oft übertriebenen – apokalyptischen Visionen.

Und die Europäische Union ruft dazu auf, für den Fall eines Krieges oder eines Cyberangriffs Vorräte anzulegen.
Mala tempora currunt [red. Anm.: aus dem Lateinischen, frei übersetzt etwa: Die Zeiten sind schlecht.] Diese alarmistischen Botschaften befördern ein Szenario, in dem der europäische Aufrüstungsplan den Menschen vernünftig erscheint. Das dringend notwendige Streben der EU nach strategischer Autonomie darf sich nicht auf die Aufrüstung der einzelnen Mitglieder beschränken. Es muss eine echte politische Integration und eine gemeinsame Verteidigung beinhalten.

 

Zur Person: Steven Forti (Trento, Italia, 1981) hat seinen Doktor der Geschichte an der Universidad Autónoma de Barcelona gemacht, wo er heute auch Neue und Neueste Geschichte lehrt. Er forscht vor allem zu Faschismus, Populismus, Nationalismus und der aktuellen extremen Rechten, mit einem Schwerpunkt auf der vergleichenden und transnationalen Geschichte.
Bücher: „Demokratien in Auslöschung. Das Spektrum der Wahlautokratien“ (2024, „Democracias en extinción. El espectro de las autocracias electorales“), „Empörte Patrioten. Über die neue Ultrarechte der Zeit nach dem kalten Krieg“ (als Ko-Autor, „Patriotas indignados. Sobre la nueva ultraderecha en la Posguerra Fría“) und weitere Bücher.
Am 26. April 2025 stellte Steven Forti bei der Buchmesse Feria del Libro in Buenos Aires sein Buch „Extreme Rechte 2.0. Wie kann die globale Normalisierung von ultrarechten Ideen bekämpft werden?“ (2021, „Extrema derecha 2.0. Cómo combatir la normalización global de las ideas ultraderechistas“), in erweiterter Fassung (Siglo XXI) vor. Weitere Teilnehmer: Pablo Semán und Federico Vázquez.

 

Dieses Interview, das zuerst auf Spanisch bei La Nación veröffentlicht wurde, haben wir mit freundlicher Genehmigung dieser Zeitung und der Autorin Ana D´Onofrio übersetzt.

Übersetzung und leichte Bearbeitung: Ute Löhning

Diese Übersetzung entstand in Kooperation mit dem Projekt „Linea B – Researching authoritarian politics between Latin America and Europe“ von ReGA und CELS. Der ReGA-Newsletter ist zu abonnieren unter: http://tinyurl.com/3c6h83ny

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