Neues Gesetz könnte Aufklärung von Menschenrechtsverbrechen behindern

Fujimori
La Cantuta -Protest: „Gegen Straflosigkeit. Die Angehörigen schweigen nicht!“
Foto: Catherine Binet, The Advocacy Project via flickr
CC BY-NC-SA 2.0

(Lima, 16. Juni 2024, poonal/cejil).- Der peruanische Kongress wird in Kürze über einen Gesetzesentwurf entscheiden, der die Straffähigkeit bei Menschenrechtsverbrechen auf rückwirkend 20 Jahre begrenzen soll. Das geplante „Gesetz zur Festlegung der Anwendung und des Anwendungsbereichs von Verbrechen gegen die Menschheit und Kriegsverbrechen (6951/2023-CR)“ besagt, dass nur solche Verbrechen bestraft werden können, die nach dem ersten Juli 2002 begangen wurden, das heißt, nach dem Inkrafttreten des Römischen Statuts, mit dem der Internationale Strafgerichtshof geschaffen wurde. In einer ersten Lesung am 6. Juni erhielt das Projekt bereits 60 Ja-Stimmen, 36 Nein-Stimmen und 11 Enthaltungen. Sollte die zweite Abstimmung ähnlich ausgehen, könnte das Projekt bereits in wenigen Tagen zu geltendem Recht erklärt werden. Dagegen regt sich Protest: Mit der Verabschiedung eines solchen Gesetzes würde Peru gegen internationales Recht verstoßen, warnen UN-Menschenrechtsexpert*innen. Die Verabschiedung der Gesetzesvorlage würde die Verfolgung und Verurteilung von Tätern behindern und den Opfern das Recht auf Wahrheit und Wiedergutmachung absprechen. Auch der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte (IACHR) forderte den peruanischen Staat auf, das Verfahren zum Gesetzentwurf 6951/2023-CR auszusetzen. Nach Auskunft des Obersten Rats der Staatsanwaltschaft würden dann etwa 600 laufende Fälle als abgeschlossen erklärt und zu den Akten gelegt werden. Dies sei ein „falsches und bedauerliches Signal“. Derart schwerwiegende Taten wie das Massaker von Barrios Altos von der strafrechtlichen Verfolgung auszunehmen widerspreche zudem den geltenden nationalen und internationalen Normen.

Wer profitiert?

Unmittelbar von dem neuen Gesetz profitieren würde Alberto Fujimori. Im Jahr 2007 wurde der ehemalige peruanische Präsident nach seiner Auslieferung aus Chile vor Gericht gestellt und für die Verbrechen der Colina-Gruppe zur Verantwortung gezogen: Am 3. November 1991 stürmte ein Kommando der paramilitärischen Gruppe eine Party in einem Gebäude in Barrios Altos, einem Stadtteil von Lima, zwang die Anwesenden, sich auf den Boden zu legen und tötete wahllos 15 Menschen, darunter einen 8-jährigen Jungen. Acht Monate später, am 18. Juli 1992, wurden im Stadtteil La Cantuta ein Professor und neun Universitätsstudenten entführt und ermordet. Auch dieses Verbrechen wird der Colina-Gruppe zugeordnet. Fujimori wurde zu 25 Jahren Haft verurteilt, im Dezember letzten Jahres jedoch aus humanitären Gründen begnadigt – gegen den Willen des Interamerikanische Gerichtshofs. Die Anhänger des 85-jährigen Ex-Diktators verfügen auch heute noch über eine starke Position im Parlament und werden selbstredend für die Verabschiedung des Gesetzes stimmen.

Auch die ermordeten Häftlinge in den Gefängnissen El Frontón, Lurigancho und Santa Bárbara wären dann kein Ermittlungsfall mehr. Nach Gefängnisunruhen im Juni 1986 waren die Häftlinge des Terrorismus beschuldigt und außergerichtlich hingerichtet worden. Diese und andere Verbrechen im Rahmen der Auseinandersetzungen zwischen dem peruanischen Staat und den linksextremen Guerillabewegungen werden bis heute von peruanischen und internationalen Justizbehörden verfolgt.

Gegen die Hälfte der Kongressmitglieder wird ermittelt

Laut Expert*innenmeinung darf die Verjährungsfrist bei groben Verstößen gegen internationale Menschenrechtsnormen oder gegen das humanitäre Völkerrecht nicht aufgehoben werden. Die Unverjährbarkeit von Verbrechen gegen die Menschheit sei eine Norm der ius cogens, der höchsten Prinzipien des internationalen Rechts, an die sich Peru halten müsse. Der Gesetzentwurf stehe somit im Widerspruch zur Rechtsstaatlichkeit und den Grundwerten der internationalen Gemeinschaft und fördere die Straflosigkeit, heißt es in der Erklärung, die UN-Expert*innen nach der ersten Lesung veröffentlichten. Sprecher der  Nicht-Regierungsorganisation Human Rights Watch erklärten, der Gesetzentwurf stehe in einer Reihe mit weiteren Maßnahmen des peruanischen Kongresses zur Förderung der Straflosigkeit und Demontage der Rechtsstaatlichkeit: Berichten zufolge wird gegen die Hälfte der Kongressmitglieder strafrechtlich ermittelt; dazu passend habe er „eine Reihe von Entscheidungen durchgesetzt, die die Unabhängigkeit der Justiz untergraben, den Kampf gegen Korruption und organisiertes Verbrechen schwächen und demokratische Prozesse und Menschenrechtsgarantien demontieren“.

Die Verfassungs- und Regelungskommission des Kongresses der Republik hatte bereits Mitte März seine Ablehnung des Gesetzesentwurfs bekundet. Hier die vollständige Stellungnahme der Kommission vom 13. März 2024:

Vollständige Ablehnung des Gesetzentwurfs, der die Straffreiheit für Verbrechen gegen die Menschenrechte und Verbrechen gegen die Menschheit begünstigt

Die Comisión de Constitución y Reglamento del Congreso hat heute beschlossen, den Gesetzentwurf Nr. 6951/2023-CR zuzulassen, der die Verjährung von Verfahren im Zusammenhang mit Verbrechen gegen die Menschheit für Vorkommnisse vor dem Inkrafttreten des Römischen Statuts und des Übereinkommens über die Nichtanwendbarkeit der Verjährungsfristen auf Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit zu erklärt. Im genauen Wortlaut heißt es dort: „Niemand darf wegen Verbrechen gegen die Menschheit oder Kriegsverbrechen für Handlungen, die vor dem 1. Juli 2002 begangen wurden, strafrechtlich verfolgt, verurteilt oder bestraft werden. Keine Handlung vor diesem Datum kann als Verbrechen gegen die Menschheit oder als Kriegsverbrechen eingestuft werden.“

Grundsätzlich ist klarzustellen, dass alle Ermittlungen, Prozesse und Urteile in den Fällen, die in die Zeit der Gewalt 1980-2000 fallen, nach peruanischem Strafrecht geführt und nicht ausdrücklich als Verbrechen gegen die Menschheit eingestuft wurden. Dessen ungeachtet wurden die in diesem Zeitraum begangenen Menschenrechtsverletzungen als Verbrechen gegen die Menschheit betrachtet. Sowohl Menschenrechtsverletzungen als auch Verbrechen gegen die Menschheit unterliegen keiner Verjährungsfrist.

Dieser Gesetzentwurf begünstigt die Täter und kollidiert jedoch mit der staatlichen Verpflichtung, schwere Menschenrechtsverletzungen, die in Peru begangen wurden, zu untersuchen und zu bestrafen. Diese Verpflichtungen sind nicht nur im Verfassungsrecht, sondern auch im internationalen Recht fest verankert, wobei letzteres die Existenz eines Kerns unbestreitbarer Rechte anerkennt. Der peruanische Staat kann keine Normen erlassen, die im Widerspruch zu internationalen Verpflichtungen stehen, die sich aus ordnungsgemäß ratifizierten internationalen Menschenrechtsverträgen und -abkommen ergeben.

Mit der Ratifizierung des Übereinkommens über die Nichtanwendbarkeit der Verjährung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit hat Peru anerkannt, dass die Verbrechen, unabhängig vom Zeitpunkt ihrer Begehung, keiner Verjährung unterliegen und dass zudem jeden Vorbehalt, der dies untergräbt, nicht anwendbar ist.

Zudem muss darauf hingewiesen werden, dass der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte in mehreren Urteilen diese Verpflichtung bekräftigt hat. Im Urteil Barrios Altos gegen Peru stellte der Interamerikanische Gerichtshof Folgendes fest:

„Amnestiebestimmungen, Verjährungsfristen und die Festlegung von Verantwortungsausschlüssen, die darauf abzielen, die Untersuchung und Bestrafung der für schwere Menschenrechtsverletzungen Verantwortlichen zu verhindern, sind unzulässig“. Der Staat kann sich nicht auf innerstaatliches Recht berufen, um sich von der Verpflichtung zu befreien, die Fälle zu untersuchen die Verantwortlichen zu bestrafen.

Die Staaten sind verpflichtet, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um sicherzustellen, dass Verbrechen gegen die Menschheit nicht ungestraft bleiben. Daher müssen alle Hindernisse, die de facto und de jure Straflosigkeit ermöglichen, beseitigt werden. Die Verabschiedung des genannten Gesetzentwurfs würde nicht nur neue Ermittlungen wegen nicht sanktionierter Taten verhindern, sondern auch bereits laufende Prozesse behindern, nicht nur aus den 1980er Jahren: Huanta, Manta und Vilca, El Frontón, Chuschi, sondern auch aus den 1990er Jahren: Caraqueño-Pativilca, La Cantuta, Ventocilla, Zwangssterilisationen u.a., in denen gegen die Colina-Gruppe, Alberto Fujimori persönlich und gegen den Kongressabgeordneten Alejandro Aguinaga  ermittelt wird. Letzterer würde den Gesetzentwurf schon allein aus persönlichem Interesse unterzeichnen. Außerdem soll das Gesetz auch die Urteile aufgehoben werden, die bereits wegen dieser Taten ergangen sind.

Schließlich sei daran erinnert, dass während der Regierung von Alan García Pérez am 31. August 2010 das Gesetzesdekret Nr. 1097 verabschiedet wurde, mit dem ebenfalls versucht wurde, die Verantwortlichen für schwere Menschenrechtsverletzungen, die vor 2003 begangen wurden, zu entlasten. Diese Forderung wurde jedoch für verfassungswidrig erklärt.

Aus diesem Grund lehnen wir den oben genannten Gesetzentwurf entschieden ab. Der Gesetzentwurf verstößt nicht nur gegen die internationalen Verpflichtungen, an die Peru gebunden ist, sondern fördert die Straffreiheit der für schwere Menschenrechtsverletzungen . Wir appellieren an die internationale Gemeinschaft, insbesondere an die Mitgliedstaaten der OAS, gegen diesen schweren Rückschlag für die Gerechtigkeit und die würdige Wiedergutmachung für die Opfer und ihre Familien einzutreten.

  • Asociación Pro-Derechos Humanos (APRODEH)
  • Coordinadora Nacional de Derechos Humanos (CNDDHH)
  • Centro por la Justicia y el Derecho Internacional (CEJIL)
  • Comisión Episcopal de Acción Social (CEAS)
  • Comisión de Derechos Humanos (COMISEDH)
  • Estudio para la Defensa de los Derechos de la Mujer (DEMUS)
  • Fundación Ecuménica para el Desarrollo y la Paz (FEDEPAZ)
  • Instituto de Defensa Legal (IDL)
  • Paz y Esperanza

 

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