(Brasilia, 01. Oktober 2022, la diaria/poonal).- Unmittelbar vor der Wahl scheint der Clinch der politischen Lager so erbittert wie kaum ein anderer in der jüngeren Geschichte des Landes. PT-Kandidat Lula beschimpft den derzeitigen Präsidenten offen als „Völkermörder“ oder nennt ihn einfach den „Milizionär“. Bolsonaro redet dafür gern vom „Neun-Finger“- in Anspielung auf Lulas Zeit als Metallarbeiter (bei einem Arbeitsunfall verlor Lula den kleinen Finger der linken Hand), oder er nennt seinen wichtigsten politischen Gegner „Gangster“ oder „Krimineller“. Denn wäre es nach ihm gegangen, säße Lula noch bis 2030 im Gefängnis.
580 Tage Knast
April 2018. Lula schien seinen Tiefpunkt erreicht zu haben. „Schmeiß den Drecksack aus dem Fenster“, „Nimm ihn mit und bring ihn nie wieder zurück“, schallte es aus dem Kontrollturm des Flughafens Congonhas in São Paulo, als der Hubschrauber nach Curitiba startete. Der Pilot erbat sich Respekt: Seine Aufgabe bestand darin, den ehemaligen Staatspräsidenten Luiz Inácio Lula da Silva zu einer Polizeistation in der Hauptstadt von Paraná zu bringen, wo er nach seiner Verurteilung wegen Korruption durch Richter Sérgio Moro inhaftiert werden sollte. 580 Tage lang lebte Lula, Mitbegründer und Vorsitzender der Arbeiterpartei PT und zwischen 2003 und 2010 Präsident Brasiliens, in einer kleinen Zelle in Curitiba. Während seiner Regierungszeit hatte er zahlreiche Programme zur Bekämpfung des Hungers angestoßen und damit Millionen von Menschen aus Armut und Elend herausgeholt. Mit Bildungsprogrammen für die unteren Bevölkerungsschichten hatte er den Analphabetismus und den Bildungsnotstand erfolgreich bekämpft. Kehrseite der sozial orientierten Politik war die Ausweitung der Korruption. Zu den spektakulärsten Fällen zählen der als Mensalão-Skandal bekanntgewordene Kauf von Abgeordnetenstimmen während Lulas erster Präsidentschaft und später die Operation Lava Jato, die zu Lulas Verhaftung führte. Die Verwicklung einiger prominenter PT-Mitglieder hat die Glaubwürdigkeit des PT untergraben und etliche Wähler*innen enttäuscht, während ihre politischen Gegner*innen die Situation für sich nutzen konnten. So kam es 2016 zur Amtsenthebung von Dilma Rousseff (Staatspräsidentin 2011-2016) durch einen parlamentarischen „Staatsstreich“, wie ihr Nachfolger Michel Temer (Staatspräsident 2016-2018) es nannte, und zwei Jahre später zur Inhaftierung von Lula ‑ dem bekanntesten von mehreren lawfare-Fällen in der Region.
Lulas Rückkehr in die Politik
Nachdem die Verteidigung mehrere Rechtsmittel eingelegt hatte, wurde Lula am 8. November 2019 aus der Haft entlassen. Die Entscheidung des Obersten Bundesgerichts (STF), das Lulas Verhaftung als verfassungswidrig ansah, ermöglichte seine Freilassung. „Die Bundespolizei, die Staatsanwaltschaft und Richter Moro mit ihren Lügen waren nicht in erster Linie darauf aus, einen Menschen ins Gefängnis zu bringen. Sie wollten eine Idee vernichten, aber eine Idee kann man nicht töten“, so Lula in einer Rede unmittelbar nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis. Staatsanwalt Deltan Dallagnol war eine weitere Schlüsselfigur, die bei seiner Verhaftung eine Rolle spielte. „Ich gehe hier mit 74 Jahren raus, mit einem Herzen voller Liebe, und die Liebe wird siegen. […] Der Hunger breitet sich aus, dem Volk geht es immer schlechter.“ An seine Anhänger*innen gerichtet, die während seiner Inhaftierung durchgehend zu ihm gestanden hatten, erklärte er: „Ich möchte, dass Sie wissen, dass ich mit dem größten Gefühl der Dankbarkeit gehe, das ein Mensch für einen anderen haben kann“. Die Ermittlungsergebnisse der investigativen Website The Intercept sollten wesentlich zu seiner Rehabilitierung beitragen. Im Juni 2019 veröffentlichte sie eine Reihe von Chats, Audios, Videos, Fotos und Gerichtsdokumenten, die die Befangenheit des Richters Sérgio Moro bewiesen. Den Richter, der Lula seinerzeit zu zwölf Jahren Gefängnis verurteilt hatte und inzwischen hohes Ansehen genoss, traf die Enthüllung hart. Die Medien feierten Moro als unbeirrbaren Verfechter der Transparenz; Rede Globo, das größte TV-Netzwerk Lateinamerikas, sah in ihm bereits einen siegreichen Kandidaten für die Wahlen im Jahr 2022, doch dann wurde seine Parteilichkeit während des gesamten Verfahrens gegen Lula vollständig bewiesen. Im März 2021 wurden nach mehreren gerichtlichen Instanzen alle Verurteilungen für nichtig erklärt. Lula bekam seine politischen Rechte zurück, und damit bestand nun auch kein Zweifel mehr, dass er bei den Wahlen 2022 für den PT antreten würde. In der Folge machte sich Lula daran, seine politischen Kontakte zu intensivieren. Im November 2021 unternahm er eine Europareise, bei der er unter anderem mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron, dem deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz und dem spanischen Premierminister Pedro Sánchez zusammentraf.
Es gibt viel zu tun
Allmählich hat sich Lula seine politische Anerkennung zurückerobert, nun geht es darum, die Wahlen zu gewinnen. Sollte er ins Präsidentenamt zurückkehren, wird Lula vor enormen Herausforderungen stehen. In mehreren Wahlkampfreden hat er bereits erklärt, er betrachte es auch diesmal wieder als seine vorrangige Aufgabe, Millionen von Menschen aus Armut und Elend zu retten. Die Wiederbelebung der brasilianischen Wirtschaft, die Schaffung von Arbeitsplätzen und die Stimulierung der kleinen und mittleren Industrie ist ein weiteres Ziel, das sich das Wirtschaftsteam der PT und der ihr nahestehenden Sektoren gesetzt hat. Auch intern ist Lula offensichtlich bereit, Risiken einzugehen: Seine gewagte Entscheidung, den ehemaligen Vorsitzenden der Mitte-Rechts-Partei der brasilianischen Sozialdemokratie (PSDB), Geraldo Alckmin, als seinen Kandidaten zu benennen, stieß sowohl innerhalb des PT als auch in anderen Sektoren der brasilianischen Linken auf direkte Ablehnung, aber Lula beharrte darauf, dass die Rückkehr des PT in die Regierung nur unter Einbeziehung der politischen Mitte möglich sein würde. Auch außenpolitisch gibt es viel zu tun. Nach Jahren der Diskreditierung will Lula sein Land wieder als internationalen Vorreiter in Sachen Umweltschutz positionieren. Ein weiteres Aufgabenfeld sieht der PT-Präsident in der Neugestaltung der Bündniskarte innerhalb des Kontinents und setzt dabei besonders auf Gabriel Boric, Gustavo Petro und Luis Arce sowie Alberto Fernández, mit dem er die Wiederbelebung des angeschlagenen Wirtschaftsbündnisses Mercosur ins Auge fasst. Über lateinamerikanische Grenzen hinaus nannte Lula die Intensivierung der Beziehungen seines Landes zu den BRICS-Staaten als wichtigste außenpolitische Ziele.
Privates
40 Jahre Dauer-Rauchen forderte im Jahr 2011 seinen Tribut. Lula erkrankte an Kehlkopfkrebs, den er nach fünf Monaten intensiver Behandlung überwunden hatte. Dies war jedoch der erste von mehreren Schlägen, die Lula in seinem Privatleben hinnehmen musste. Im Februar 2017 starb seine Frau Maria Letícia Rocco an den Folgen eines Schlaganfalls. Sie war mehr als 40 Jahre mit Lula verheiratet und hatte mit ihm drei Kinder. Im Januar 2019 starb sein Bruder Genival Inácio da Silva. An der Beerdigung teilzunehmen wurde Lula, der zu dem Zeitpunkt im Gefängnis saß, gerichtlich verweigert. Im März 2019 starb sein Enkel Arthur im Alter von sieben Jahren an Meningokokken-Meningitis. Zu den erfreulichen Ereignissen, die es zweifellos auch gab, zählt die Heirat mit der Soziologin und Parteigenossin Rosângela da Silva, die er Ende 2017 kennengelernt hatte. Janja, wie Rosângela da Silva genannt wird, ist seit 1983 Parteimitglied.
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