(Santiago de Chile, 23. Mai 2022, open democracy/poonal).- Mitte Mai hat der chilenische Verfassungskonvent den ersten Entwurf für die neue Verfassung vorgelegt. Der Text durchläuft nun eine sogenannte Harmonisierungsphase, in die einzelnen im Verfassungskonvent beschlossenen Artikel miteinander in Einklang gebracht werden. Doch in den vergangenen Monaten hat der Verfassungskonvent in der Bevölkerung an Vertrauen verloren. Und obwohl der Entwurf moderater ausfällt als bisher angenommen, hat die politische Rechte bereits ihre Kampagne gegen den neuen Verfassungstext und die Regierung unter Gabriel Boric begonnen.
Am 4. September entscheiden die Chilen*innen in einem Referendum endgültig über die neue Verfassung. Dabei haben sie zwei Optionen zur Auswahl: das Apruebo („Ja zur neuen Verfassung“ oder Rechazo („Nein“). Bekommt das Apruebo mehr als die Hälfte der Stimmen, tritt die neue Verfassung in Kraft – gewinnt das Rechazo, so bleibt die alte Verfassung aus Zeiten der Militärdiktatur unter Augusto Pinochet gültig. Doch hinter beiden Wahlmöglichkeiten steckt eine lange Geschichte und mehr als ein „Ja“ oder „Nein“.
Chile auf dem Weg zu einer neuen Verfassung
Das Referendum über die neue Verfassung ist das Ergebnis einer breiten politischen Vereinbarung, die die soziale Revolte vom Oktober 2019 eindämmen sollte. Diese breite soziale Bewegung ohne zentrale Sprecher*innen oder Organisation hatte eine klare Botschaft der Kritik an die chilenische Elite und vor allem an die Politik der letzten 30 Jahre gesendet.
Der nach der Wahl der Mitglieder des Verfassungskonvents eingeleitete verfassungsgebende Prozess war äußerst intensiv – schließlich galt es, die Frist von einem Jahr für das Schreiben der neuen Verfassung einzuhalten. In der politischen Vereinbarung, die dem Prozess zugrunde liegt, wurde auch festgelegt, dass der vom Konvent erarbeitete Text im Rahmen eines Referendums mit einfacher Mehrheit angenommen werden muss. Für dieses Referendum herrscht zum ersten Mal seit Jahren wieder Wahlpflicht in Chile.
Misstrauen gegenüber dem Verfassungskonvent
Doch viele Chilen*innen stehen der Arbeit des Verfassungskonvents und damit auch dem nun vorgelegten Entwurf für eine neue Verfassung skeptisch gegenüber. Dieses negative Urteil ist zum großen Teil auf die verschiedenen Auftritte einiger Konventsmitglieder während der Debatte zurückzuführen. Was auf den ersten Blick malerisch und eindrucksvoll erschien, hat ein gewisses Unbehagen ausgelöst. Andererseits hatten mehrere Vertreter*innen im Konvent extremistische, aufsehenerregende und rein symbolische Vorschläge unterbreitet, die schließlich im Konvent nicht die nötige Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder erreichten. So schlug etwa ein Konventsmitglied vor, alle Staatsgewalten aufzulösen und durch Versammlungsorgane zu ersetzen.
Die Medien haben die Wirkung dieser performativen Handlungen und ausgefallen Vorschläge verstärkt, auch Desinformationskampagnen in den sozialen Netzwerken trübten das Bild des Verfassungskonvents.
Die politischen Lager des Apruebo und Rechazo haben sich bereits formiert
Nun, da der Abstimmungsprozess im Verfassungskonvent vorerst abgeschlossen ist, beginnen die Vorbereitungen für das Referendum am 4. September. Die politischen Kräfte haben sich bereits den Lagern Apruebo oder Rechazo zugeordnet. Der vorgeschlagene Text spiegelt immerhin die Vorstellungen von zwei Dritteln des Konvents wider – ein viel breiterer Kompromiss, als die öffentliche Debatte es oft darstellt.
Im Lager der Befürworter*innen scheint ein gewisser Konsens darüber zu bestehen, dass es mehr Stimmen braucht, die in der Bevölkerung für die breiten Kompromisse des Verfassungstext werben. Vor allem aber gilt Einigkeit darüber dass, der Text selbst die Grundlagen für die Diskussion vorgeben sollte – jetzt, wo die Arbeit des Konvents abgeschlossen ist.
Gegner*innen der neuen Verfassung erwecken das Gespenst von „Chilezuela“ wieder zum Leben – haltlos, wie sich im Verfassungsentwurf zeigt
Die Gegner*innen des verfassunggebenden Prozesses haben sich derweil zum großen Teil auf ein Narrativ konzentriert: den Vergleich Chiles mit Venezuela. So klingt die Angstmache vor einem „Chilezuela“ aus den letzten beiden Präsidentschaftswahlen noch immer nach. Verschiedene Themen der alten Verfassung, etwa die Autonomie der Zentralbank oder die Eigentumsrechte, wurden als Vorteile des Erbes der Pinochet-Diktatur dargestellt.
Es scheint jedoch ein gewisser Konsens darüber zu herrschen, dass der vorgeschlagene Verfassungstext nichts mit den Gespenstern gemein hat, die über den Konvent geweckt wurden. Dies gibt man selbst bei Morgan Stanley zu, einem multinationalen Finanzinstitut, das als internationale Investmentbank tätig ist. Prognosen des Instituts zufolge würde eine Annahme des Verfassungstextes keine Auswirkungen auf die makroökonomische Leistung des Landes haben. Eine Ablehnung würde stattdessen zu viel mehr Unsicherheit und Instabilität führen und Chiles Attraktivität für Investor*innen verringern.
Und anders als von vielen erwartet, kam die Hauptkritik an dem vom Verfassungskonvent vorgeschlagenen Produktionsmodell von links nicht aus Bereichen, die dem „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ nahestehen, sondern aus dem umweltpolitischen Spektrum.
Der Entwurf ist da – und wie geht es weiter?
Nach fast zehnmonatiger Arbeit, die nicht ohne Spannungen und Rückschläge verlief, übergab der Verfassungskonvent am 16. Mai symbolisch den ersten Entwurf der neuen Verfassung. Der Text, der noch die Harmonisierungskommission durchlaufen muss, enthält 499 Artikel und behandelt eine breite Palette von Themen, die das Ergebnis der Beratungen von sieben thematischen Ausschüssen sind. Jeder ihrer Vorschläge musste von zwei Dritteln der Konventsmitglieder bestätigt werden, um in den Entwurf aufgenommen zu werden. So wurde es in der politischen Vereinbarung für Frieden und eine neue Verfassung vom November 2019 festgelegt.
Nun, da der erste Entwurf fertig ist, bleibt noch die Arbeit der letzten Kommissionen zu erledigen. Neben dem Harmonisierungsausschuss wurde ein Ausschuss für Übergangsbestimmungen eingesetzt, der die Bedingungen und Formen des verfassungsrechtlichen Übergangs festlegen soll. Außerdem wurde eine Präambelkommission eingesetzt, die für das Verfassen der nicht verbindlichen Einleitung der Magna Carta zuständig ist. Mit anderen Worten das, was manche die „Poesie“ der Verfassung nennen.
Bislang wurden zwei Vorschläge für Präambeln vorgelegt, von denen jedoch wahrscheinlich keine das Licht der Welt erblicken wird, da sie weder in den Kommissionen noch im Plenum die nötige Mehrheit erhalten. Die erste, die von einigen rechten Konventsmitgliedern formuliert wurde, beginnt wie folgt: „Wir Chilenen, mit dem Ziel, den Weg zu einem gerechteren Heimatland fortzusetzen, in dem Gott als Quelle der inneren Würde anerkannt wird…“.
Der zweite Vorschlag, den eine Gruppe unabhängiger Konventsmitglieder entwickelt hat, gab schon eher den Ton der Debatte an: „Wir sind die Natur. Das waren wir schon immer… Die heutige Zeit lädt seit der Geste vom Oktober dazu ein, uns als Gleiche in der Vielfalt anzuerkennen… Wir sind Menschen, die ihr Schicksal gestalten, mit unterschiedlichen Perspektiven, ohne Unterscheidungen von Geschlecht oder Glauben…“.
Ist die Hoffnung auf einen echten Wandel in Gefahr?
Die unabhängigen Konventsmitglieder, die diese Fassung der Präambel verfasst haben, sind in den Medien sehr präsent und vertreten die feministischen, Umwelt- und indigenen Bewegungen des Landes. Es handelt sich um Vertreter*innen von Bewegungen, denen es gelungen ist, die Geschichte der sozialen Revolte im Oktober 2019 zu verkörpern und durch regelmäßige Mobilisierungen auf der Plaza Italia, die seitdem Plaza Dignidad („Platz der Würde“) heißt, eine starke soziale Legitimität sowie eine deutlich größere Medienpräsenz erreicht haben. Damit stehen sie für die Idee des Wandels und der Abkehr vom neoliberalen Modell, das die Politik der Militärdiktatur sowie die 30 Jahre seit der Rückkehr zur Demokratie bestimmt hat. Es gibt nichts Mächtigeres als solch eine Idee, deren Zeit gekommen ist. Das Problem ist jedoch, dass sich die Zeiten ändern.
Meinungsumfragen zufolge ist die Bereitschaft zur Annahme des Verfassungstextes stetig gesunken. Ende Mai zeigten alle Umfragen einen leichten Vorteil für das Rechazo. Darüber hinaus zeigen die Umfragen, dass der Hauptgrund für diese Haltung in einer negativen Beurteilung der Arbeitsweise des Konvents liegt: 55 Prozent der Befragten geben Misstrauen gegenüber den Mitgliedern des Verfassungskonvents als Hauptgrund für ihre Ablehnung an. 40 Prozent der Befragten sind generell nicht mit den angenommenen Vorschlägen einverstanden.
Umweltkommission konnte am wenigsten Beschlüsse im Plenum verabschieden
Stark diskutiert sind vor allem Aspekte, die in den Kommissionen für Umwelt, Naturrechte, natürliche Ressourcen und Wirtschaftsmodell Thema waren. Die Umweltkommission schnitt im Plenum des Verfassungskonvents am schlechtesten ab: Nur ein gutes Fünftel ihrer Vorschläge wurde im Plenum angenommen. So sieht der neue Verfassungstext nun zwar eine stärkere Regulierung von umweltschädlichen wirtschaftlichen Aktivitäten vor – geplant ist zum Beispiel ein besonderer Schutz für Gletscher. Für vieles andere hingegen konnte im Verfassungskonvent kein Konsens erzielt werden, sodass viele Aspekte der Umweltagenda von der Gesetzgebung künftiger Regierungen abhängig sein werden.
Im US-amerikanischen Medium Bloomberg, das sich vor allem mit Wirtschafts- und Finanzthemen beschäftigt, hieß es, bei dem Entwurf für die neue Verfassung handele es sich um einen „vernünftigen Text“, in dem keine negativen Aspekte für Bergbauinvestitionen mehr enthalten seien. Viele sehen jedoch genau darin die Probleme in Bezug auf die Umwelt.
Vor allem die, die den Verfassungsentwurf ohnehin ablehnen, werden sich in ihrer Kritik vor allem auf die wirtschaftlichen Fragen konzentrieren – das abgedroschene Bild des „Chavista“ wird nicht verschwinden. Es ist jedoch zu erwarten, dass die wichtigere Debatte nicht aus dieser Richtung kommen wird. In der Tat hat sich die Diskussion in wirtschaftlicher Hinsicht weniger auf das konzentriert, was in den Verfassungstext aufgenommen wurde, als vielmehr auf das, was weggelassen und künftig durch Gesetzte geregelt wird, etwa die Befugnisse im Bergbau.
Im Gegensatz zu den Fachkommissionen „Umwelt, Naturrechte, natürliche Ressourcen“ und „Wirtschaftsmodell“ erzielten die Kommissionen „Politisches System“ und „Staatsformen“ mit 34 bzw. 48 Prozent der angenommenen Artikel bessere Ergebnisse im Plenum. Was das politische System betrifft, so ging es vor allem um das Gesetzgebungssystem. Der Grundkonflikt drehte sich um die Möglichkeit, das so genannte „Spiegelgesetzgebungssystem“ zu ändern, bei dem zwei Kammern jedem Gesetzentwurf zustimmen müssen und beide als Ausgangs- oder Revisionskammer fungieren können.
Änderungen im Aufbau der Legislative und bei der Staatsform
Die Zweidrittelmehrheit des Verfassungskonvents hat sich nun für ein asymmetrisches Zweikammersystem entschieden. Dabei ist vorgesehen, dass Gesetzesentwürfe künftig in einer politischen Kammer entstehen und die zweite Kammer in der Praxis als Revisionskammer für fast alle Gesetzentwürfe fungiert. Beide Kammern würden eine zentrale Rolle bei der Besetzung von Behörden und bei der Behandlung von Verfassungsbeschwerden spielen.
In Bezug auf die Staatsform sieht der Entwurf die Schaffung eines Regionalstaats mit einem höheren Maß an Dezentralisierung vor. Der Vorschlag wurde von einem Querschnitt durch die politischen Kräfte einschließlich mehrerer Mitglieder der Rechtsparteien unterstützt.
Obwohl diese Reformvorschläge von großer Bedeutung sind, glauben nur wenige, dass diese Themen die Wähler*innen im Referendum mobilisieren werden. Nur ein Prozent der Befragten, die für eine Ablehnung stimmen würden, gaben beispielsweise Änderungen in der Legislative als Hauptmotiv an. Die Stärkung der chilenischen Regionen wird außerdem eher von den Befürworter*innen der neuen Verfassung begrüßt.
Vieles bleibt offen – und damit künftiger Gesetzgebung überlassen
Eine Reihe relevanter Reformen wurde also in die neue Verfassung aufgenommen, doch gibt es zahlreiche Punkte, auf die keine zwei Drittel des Verfassungskonvents einigen konnten. Nun müssen künftig Gesetze darüber bestimmen. So wurde beispielsweise das Wahlsystem nicht in der Verfassung verankert. Auch die Regelung zur Festlegung eines Quorums für Verfassungsreformen scheiterte im Plenum.
Die Kommission für Grundrechte erzielte eine etwas höhere Erfolgsquote als die Umweltkommission und erhielt für 24 Prozent ihrer Artikel Unterstützung im Plenum. Die Frage der sozialen Grundrechte stand im Mittelpunkt mehrerer Mobilisierungen in den letzten zehn Jahren, darunter der sozialen Revolte ab Oktober 2019. Es ist in der Tat die Frage, in der die derzeitige Verfassung am stärksten ausgeprägt ist.
Die bisher gültige Verfassung aus Diktaturzeiten spiegelt das Subsidiaritätsprinzip wider und garantiert das Recht, zwischen der Erbringung von Grundversorgungsleistungen zwischen privaten und staatlichen Anbietern zu wählen. Sie garantiert jedoch nicht, dass diese Rechte in der Praxis tatsächlich erfüllt werden – etwa bei bezahlbarer Bildung, im Gesundheitswesen oder der Rentenpolitik. Deshalb räumt der Entwurf für eine neue Verfassung dem Staat eine größere Rolle ein. So lässt er die Erbringung privater Dienstleistungen weiterhin zu, sieht aber vor, dass der Staat auf die Nachfrage nach diesen Dienstleistungen reagieren muss. Die Einzelheiten des Zusammenspiels von privater und öffentlicher Vorsorge wurden jedoch wiederum einem künftigen Gesetz überlassen.
Keine „linke“ Verfassung?
Kurz gesagt wurden für viele dieser komplexen Themen in Bezug auf das Wirtschaftsmodell, die demokratischen Institutionen und die sozialen Rechte keine Zweidrittelmehrheit erreicht, weswegen viele Reformen es nicht in den Entwurf für eine neue Verfassung geschafft haben. In diesem Sinne haben sich die Befürchtungen der Rechten über eine mögliche „linke Verfassung“ mit einem Programm zur Zentralisierung der Macht im Staat als unbegründet erwiesen. Dennoch ist die Dekonzentration von Macht zu einem wichtigen Thema im Konvent geworden.
Einige Aspekte des Verfassungsentwurfs haben dennoch den Widerstand von Teilen der Gesellschaft und insbesondere der Rechten hervorgerufen und daher zu erheblichen Streitigkeiten geführt.
Feminismus und Plurinationalität
So konzentriert sich die Kampagne des Rechazo vor allem auf zwei Themen: den Feminismus und den Plurinationalismus. Im ersten Artikel des neuen Verfassungstextes wird Chile als „sozialer und demokratischer Rechtsstaat“ sowie als „plurinationaler, interkultureller und ökologischer Staat“ festgeschrieben. Chile soll außerdem eine Republik mit einer „paritätischen Demokratie“ werden.
In der neuen Verfassung ist das Recht auf Abtreibung verankert, eines der wichtigsten Anliegen der feministischen Bewegung in Chile und der jüngsten Linksbewegungen und -regierungen in Lateinamerika. Außerdem garantiert der Verfassungsentwurf die Geschlechterparität in den meisten Gremien des Staates. Gleichzeitig definiert er Chile als plurinationalen Staat, erkennt einige kollektive Rechte für indigene Gemeinschaften an und führt ein System der indigenen Justiz ein. Dies führte Umfragen zufolge zu einigem Missmut. So gaben 72 Prozent der Befragten einer Umfrage des Instituts CADEM an, eher ein Konzept der „multikulturellen Ein-Nationen-Gesellschaft“ zu befürworten. Demgegenüber sprachen sich nur 26 Prozent für ein Konzept der „plurinationalen Gesellschaft“ aus.
Wie in anderen Teilen der Welt hat der Vormarsch der feministischen Bewegung und vor allem das Recht auf Abtreibung heftige Reaktionen hervorgerufen, insbesondere bei der extremen Rechten. Das Thema ist laut Meinungsumfragen jedoch nicht so umstritten wie die Plurinationalität.
So ist es dem Rechazo-Lager gelungen, eine Unterstützungsbasis in gesellschaftlichen Bereichen aufzubauen, die für eine konservative Auffassung der chilenischen Identität stehen und sich durch den Begriff der Plurinationalität bedroht fühlen. In den sozialen Netzwerken bezeichnen sie sich als „die Patrioten“. An dieser Stelle sei nicht zu vergessen, dass der extrem rechte Kandidat José Antonio Kast erst vor wenigen Monaten die erste Runde der Präsidentschaftswahlen gewonnen hat und es ihm in der zweiten Runde gelungen ist, eine sehr hohe Zahl von Wählern zu gewinnen: 44 Prozent. Der rechte Diskurs mit seiner religiösen, familiären und patriotischen Botschaft wird also in den folgenden Monaten erheblichen Einfluss auf die Verfassungsfrage haben. Und es besteht kaum ein Zweifel daran, dass Kast bei der Ablehnungskampagne im Hinblick auf das Referendum eine führende Rolle spielen wird.
Chile als integrativer Staat?
Die chilenische Verfassung von 1980 hat keine Präambel, sondern enthält nur wenige Hinweise auf die vom Pinochet-Regime erlassenen Dekrete. Obwohl die Präambeln rechtlich gesehen nicht der wichtigste Teil des Verfassungstextes sind, spricht die Tatsache, dass die Junta es nicht für nötig hielt, eine allgemeine Vision der Gesellschaft zu formulieren, Bände. Auch die vorherigen Verfassungen von 1823, 1833 und 1925 enthielten keine Präambeln. Alle chilenischen Verfassungen sind aus Bürgerkriegen oder Staatsstreichen hervorgegangen, bei denen die siegreiche Seite ihre Position durchsetzte und daher keine Notwendigkeit sah, den Text mit einer Präambel zu rechtfertigen.
Die neue chilenische Verfassung wird eine Präambel haben. Schließlich handelt es sich um einen Text, den gewählte Vertreter*innen der chilenischen Gesellschaft verfasst haben und über den alle Chilen*innen im September abstimmen werden. Sicherlich gibt es Dinge, die man hätte besser machen können, und es gibt Artikel, die höchstwahrscheinlich von der verfassungsgebenden Gewalt reformiert werden müssen. Vor allem dank der Zwei-Drittel-Regel ist die neue Verfassung über die performativen und symbolischen Gesten hinaus zu einem Ort der Begegnung geworden. Ein Ort mit demokratischen Ursprüngen, der Extrempositionen überwunden hat.
Siegt das Apruebo, so ist danach die Rolle des Kongresses entscheidend
Andererseits ist klar, dass ein Sieg des Apruebo die Frage nach der Umsetzung der neuen Verfassung nicht allein lösen würde. Der derzeitige Kongress, in dem die Rechte und die Mitte wesentlich stärker vertreten sind als im Konvent, wird bei der Umsetzung und Reform der neuen Charta eine wichtige Rolle spielen. In den kommenden Wochen wird sich herausstellen, wie viel Macht dem Kongress in diesem Übergangsprozess übertragen wird. Der Erfolg des Prozesses wird in hohem Maße davon abhängen, ob der Konvent den Parlamentarier*innen die Mittel an die Hand gibt, diese Verbesserungen vorzunehmen.
Doch abgesehen von den materiellen Änderungen am Text wird die große Herausforderung darin bestehen, weite Teile der Chilen*innen von der neuen Verfassung zu überzeugen. Eine demokratische Verfassung muss in der Lage sein, die marginalisierten und verlassenen Teile der Gesellschaft, die in den Demonstrationen vom Oktober 2019 zum Ausdruck kamen, aber auch diejenigen, die sich den traditionellen Identitäten des Landes zugehörig fühlen, einzubeziehen.
Verfassung muss weiterhin politische Kompromisse ermöglichen
Das heißt. Ein Land, das nicht nur durch Kriege, Eroberungen oder Ausgrenzungen definiert ist. Eine Chile, das ein Land des Sozial- und Rechtsstaates sein kann. Ein Land, das eine Solidargemeinschaft ist, die sich um alle ihre Mitglieder kümmert und sie schützt. Eine demokratische Verfassung darf nicht eine Gruppe von Siegern über eine andere stellen, sondern muss das Feld für politische Auseinandersetzungen und Aktionen unter Achtung der Menschenrechte offenlassen.
In diesem Sinne wäre die Kommission für die Verfassungspräambel vielleicht gut beraten, sich für einen Text zu entscheiden, der weniger von den eigenen Identitäten geprägt ist. Es gibt viele Ideen, aber vielleicht lohnt es sich, einen Blick auf das Beispiel der südafrikanischen Verfassung zu werfen: „Wir nehmen daher durch frei gewählte Vertreter diese Verfassung als oberstes Gesetz an, um die Spaltungen der Vergangenheit zu überwinden und eine Gesellschaft zu errichten, die auf demokratischen Werten, sozialer Gerechtigkeit und grundlegenden Menschenrechten beruht“.
Guter Kompromiss? – Entwurf für die neue Verfassung vorgelegt von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
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