„Einfach Kind zu sein war nicht möglich“

Bandenkriminalität
Kinderfüße in bunten Badelatschen.
In Mexiko arbeiten derzeit rund 30.000 Kinder für das organisierte Verbrechen.
Foto: pxhere
CC0 Public Domain

(Mexiko-Stadt, 30. April 2025, cimacnoticias).- In Mexiko arbeiten derzeit über 30.000 Kinder für das organisierte Verbrechen. Sobald sie in den Drogenhandel einsteigen, leben sie in Durchschnitt noch zwischen einem und drei Jahren. Diese alarmierenden Zahlen präsentierte die Organisation Reinserta bei der Vorführung ihres Kurzfilms „Nunca fuimos niños“ („Die verlorene Kindheit“), einem Film, der auf die ernste Krise der Anwerbung von Kindern in Mexiko aufmerksam machen will. Die Produktion von The Maestros in Zusammenarbeit mit Rainbow Lobster basiert auf einer Idee der MADE-Gruppe. Der Film ist nur vier Minuten lang, schafft es aber, die Realität von Tausenden von Kindern, denen das organisierte Verbrechen die Kindheit raubt, auf schonungslose und eindringliche Weise einzufangen.

Bei der Präsentation des Kurzfilms erzählt Daniel von seiner Erfahrung als Opfer der Kinderanwerbung und von der Unterstützung, die er vom Reinserta-Programm erhielt. Im Alter von zwölf Jahren begann er mit dem Verkauf von Drogen, nur ein Jahr später besaß er eine eigene Waffe, wurde mehrmals verhaftet, doch die Behörden ließen ihn immer wieder laufen, da er mit dem organisierten Verbrechen zusammenarbeitete. Erst im Alter von 18 Jahren kam er längere Zeit ins Gefängnis. Er habe sich aus Armut entschieden, in den Drogenhandel einzusteigen, erzählt Daniel: Zu Hause gab es nicht genug zu essen, und er war außerdem häuslicher Gewalt ausgesetzt. Er kann sich vorstellen, dass sein Leben möglicherweise anders verlaufen wäre, wenn er in seiner Kindheit bessere Bedingungen gehabt hätte. Heute betrauert er, dass ihm seine Kindheit durch das organisierte Verbrechen genommen wurde. Wie Daniel erzählt, sind es längst nicht mehr nur Jungen, die Verbrechen wie Diebstahl oder Mord begehen oder andere Kinder anwerben. Die Zahl der Mädchen und jungen Frauen, die in den Drogenhandel und andere kriminelle Aktivitäten verwickelt sind, steigt. Das Netzwerk für Kinderrechte in Mexiko (REDIM) bestätigt Daniels Einschätzung: Mädchen und junge  Frauen sind an illegalen Aktivitäten wie Auftragsmorden zwar in geringerem Maße beteiligt als Jungen, jedoch mit steigender Tendenz.

Mädchen und junge Frauen in der organisierten Kriminalität

Wie Saskia Niño de Rivera, Mitbegründerin von Reinserta, erzählt, verlangt das organisierte Verbrechen von Mädchen eine höhere Gewaltbereitschaft als von Jungen. So sollen sie beweisen, dass sie über die gleichen „Qualitäten“ verfügen. Die Infos stammen aus Datenerhebungen und Gesprächen mit Betroffenen. Die Auswirkungen des organisierten Verbrechens auf zwangsrekrutierte Frauen und Mädchen unterscheiden sich von denen, die Männer erfahren. Laut dem Bericht des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP) werden Frauen und Mädchen als Arbeitskräfte eingesetzt und sexuell ausgebeutet. Häufig werden sie gezwungen, Drogen in die USA zu schmuggeln, in ihrem Gepäck zu verstecken, als Kapseln zu schlucken oder Behältnisse mit Drogen in ihre Vagina einzuführen. Wenn diese kaputtgehen, können die Mädchen an einer Überdosis sterben. Die „Mulas“ sind das schwächste und verwundbarste Glied in der kriminellen Kette. Frauen, die für diese Rolle ausersehen werden, leben meist in sozial und wirtschaftlich sehr schwachen Verhältnissen. In den Drogenschmuggel geraten sie aus Not, aufgrund von Abhängigkeit von psychoaktiven Substanzen oder durch Verwandtschaft oder Paarbeziehung mit einem Drogenhändler. Eine andere Form der Zwangsrekrutierung von Mädchen und jungen Frauen ist der Menschenhandel. Diese Praktiken sind so geheim, dass es sogar innerhalb des organisierten Verbrechens Untergruppen gibt, die ausschließlich für diese Aktivitäten zuständig sind, ohne sich mit der übrigen kriminellen Struktur zu vermischen.

Auch Gewalt und Sanktionierung innerhalb der eigenen Reihen variieren nach Geschlecht: Während Männer, die gegen die Regeln des organisierten Verbrechens verstoßen, oft sofort hingerichtet werden, werden Frauen vor ihrer Ermordung sexuell missbraucht und ihre Körper als extreme Demonstration der Objektivierung und Verachtung zur Schau gestellt. In der Hierarchie der kriminellen Organisationen aufzusteigen gelingt nur sehr wenigen Frauen, da ihnen in der Regel kein Zugang zu Machtpositionen gestattet wird.

Ein Staat, der seine Kinder vergessen hat

Im Jahr 2019 verpflichtete sich der mexikanische Staat im Rahmen des Aktionsplans 2019-2024 der Globalen Partnerschaft zur Beendigung der Gewalt gegen Kinder, die Anwerbung von Kindern und Jugendlichen durch kriminelle Organisationen aufzudecken und zu verhindern. Bis heute gibt es jedoch keine offiziellen Zahlen über die Anzahl der Kinder im Alter von 0-17 Jahren, die in die organisierte Kriminalität eingespannt wurden. Laut Saskia Niño de Rivera sind rund 500.000 Kinder und Jugendliche von der Anwerbung durch das organisierte Verbrechen bedroht. Deshalb muss der Staat dringend tätig werden und umfassende Maßnahmen zur Bekämpfung und Verhinderung dieses Phänomens ergreifen. Trotz der Forderung, die Anwerbung von Kindern zu einem gesonderten Straftatbestand zu erklären, wurde dies bisher nicht getan; spezifischer Rechtsvorschriften fehlen. Die Folge dieses rechtlichen Vakuums ist, dass für die Verurteilung dieser kriminellen Handlungen kein entsprechender Strafenkatalog vorliegt.

Übersetzung: Christiane Kämpf de Salazar

CC BY-SA 4.0 „Einfach Kind zu sein war nicht möglich“ von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.

Eine Antwort zu “„Einfach Kind zu sein war nicht möglich“”

  1. Ja, komplexere Thematik, als nur General mit Truppen zu entsenden, um irgendwelche Kartellaktivitäten zu zerbomben. Ähnliches Bild auch in anderen Ländern, wo Geld nur bei Gangs, oder bei Junta. Da wäre es schon toll, wenn es mehr Interesse an Investitionen geben würde, statt Milliarden wie hinter Stadtmauern zu bunkern.

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