Brasilien am rechten Abgrund

(Rio de Janeiro, 18. Oktober 2018, taz).- Jair Bolsonaro legt sich nun auch mit der Bundesstaatsanwaltschaft an. Eine seiner ersten Amtshandlungen als neuer Präsident Brasiliens wäre ein genereller Freibrief für Polizisten. Ein tödlicher Schuss im Dienst solle per Gesetz als Notwehr gewertet werden, eine Untersuchung solcher Todesfälle werde es nicht mehr geben. Diese Ankündigung, die der rechtsextreme Kandidat beim Besuch einer Polizei-Sondertruppe zu Wochenbeginn in Rio de Janeiro machte, kam bei der Staatsanwaltschaft nicht gut an. Notwehr werde nur mittels polizeilicher Ermittlungen festgestellt, verlautete aus Brasilia. Ein Vorspiel im erwarteten Kampf um den Rechtsstaat Brasilien.

Die breite Anhängerschaft des umstrittenen Ex-Militärs ficht so etwas nicht an. Mit 59 Prozent liegt Bolsonaro in der jüngsten Umfrage zur Stichwahl um das höchste Staatsamt deutlich vorne. Die Sicherheitspolitik ist sein größter Trumpf: Über 60.000 Menschen sterben nach jüngsten Angaben des Gesundheitsministeriums pro Jahr eines gewaltsamen Todes. 2016 stiegt die Rate erstmals auf über 30 Morde pro 100.000 Einwohner*innen. Die Angst vor Überfällen ist allgegenwärtig. Bolsonaros Versprechen, „radikal und mit harter Hand“ vorzugehen, fällt auf fruchtbaren Boden. Zudem will er alle Brasilianer*innen bewaffnen. Warnungen von Expert*innen, dass dies die Gewalt im Land nur weiter anheizt, werden kaum gehört. Aus einigen von Drogengangs dominierten Favelas wird berichtet, dass die organisierten Kriminellen auch für Bolsonaro Kampagne machen, da sie nach seinem Wahlsieg endlich an ausreichend billige Waffen herankommen würden.

Umfrage: 59 Prozent für Bolsonaro

Bolsonaros Wahlkampf ist ein Selbstläufer, der mittels Fakenews und steten Verunglimpfungen seines Kontrahenten Fernando Haddad von der Arbeiterpartei PT fast nur soziale Netzwerke nutzt. Dem früheren Bürgermeister der Metropole São Paulo wirft er besonders gerne vor, für Inzest und das Heranziehen homosexueller Kinder zu werben. Dementis und Verbote seitens des Wahlgerichts kommen zu spät und verpuffen ungehört. Die üblichen Fernsehdebatten sagt er mit Hinweis auf den Messerangriff, den er Anfang September bei einer Kundgebung erlitt, ab. Ohne Aussicht auf Erfolg fordert Haddad täglich eine öffentliche Auseinandersetzung um Inhalte und Positionen ein.

Die brasilianische Linke und überzeugte Demokraten der politischen Mitte verstehen immer noch nicht, wie ihr Land in wenigen Monaten derart an den rechten Abgrund rücken konnte. Sie schwanken zwischen Fassungslosigkeit und einer hektischen Mobilisierung, um das Steuer in letzter Minute noch einmal herumzureißen. Weniger auf den Straßen, dafür in mühsamen Diskussionen mit Wähler*innen und im Internet. Das Hauptargument ist zumeist, Bolsonaro und seine absurden Aussagen und Stellungsnahmen für sich selbst sprechen zu lassen, zum Beispiel in dieser Videokollektion.

Linke und Demokraten versuchen, die Defensive zu überwinden

Doch die Hoffnung schwindet. Zumal der Konsens gegen Bolsonaro kein Konsens über die PT ist. Viele haben der Arbeiterpartei während oder nach ihren 14 Regierungsjahren (2003-2016) den Rücken gekehrt. In ihren Augen ist die PT längst eine normale, hierarchische Partei und Teil des durch und durch korrupten Politsystems geworden. Fragwürdige Allianzen mit rechten oder evangelikalen Parteien werden vor allem Lula da Silva vorgeworfen, der seit seiner Verurteilung wegen Korruption vor einem halben Jahr die Parteilinie aus den Gefängnis heraus diktiert. Selbstkritik über eigene korrupte Machenschaften oder falsche Prioritäten ihrer Regierungen gibt es kaum. Auch Haddad wiederholt zumeist nur das Versprechen umfassender Sozialpolitik und vergisst dabei, dass die PT vor allem unter Präsidentin Dilma Rousseff Wirtschaftswachstum über alles setzte, wobei Umweltpolitik, Nachhaltigkeit und auch Investitionen in Bildung vernachlässigt wurden.

Vor der Stichwahl am 28. Oktober setzt Haddad auf eine breite Allianz der demokratischen Mitte. Sogar der konservative Altpräsident Fernando Henrique Cardoso wird von vielen Seiten aufgefordert, Position gegen den aufziehenden Faschismus zu beziehen. Doch die meisten Konservativen sind längst auf Bolsonaros Seite. Großgrundbesitzern und Agrarbusiness bot er bereits an, Namen für das Landwirtschaftsministerium vorzuschlagen. Seine Außenpolitik wird sich am ehesten an US-Präsident Donald Trump orientieren, zumal er ankündigte, einen Austritt aus dem Regionalmarkt Mercosur und dem Schwellenländerverbund BRICS zu prüfen – sowie aus dem Pariser Klimavertrag. Und den Unternehmer*innen versprach er die Privatisierung Hunderter Staatsunternehmen. Nur seiner wichtigsten Basis, dem Militär, gefällt dies nicht. Sie pochen auf eine deutlich nationalistischere Ausrichtung der Wirtschaftspolitik vor allem bei der Ausbeutung von Rohstoffen.

Militär übt Druck aus

Über den Einfluss des Militärs wird ohnehin viel spekuliert. Das Magazin „Carta Capital“ berichtete jüngst über Hinweise, dass Haddads Kampagne von Geheimdienst Abin überwacht wird, und dass die Militärführung sogar Druck auf das Oberste Gericht ausübte, um eine eventuelle Freilassung von Lula zu verhindern. Einige Generäle deuteten zwischen den Zeilen mehrfach an, dass ein „Chaos im Land“ nicht zugelassen werde. Und dass Bolsonaro der beste Garant für Ordnung sei.

Viele befürchten, dass eine Niederlage von Bolsonaro ein Anlass für ein Eingreifen des Militärs wäre. Zumal der 63-jährige mehrfach sagte, er werde nur einen Wahlsieg akzeptieren. Eine weitere Einschüchterung gegen links, ähnlich der vielen Attacken auf LGBT-Aktivist*innen und Anhänger*innen afrobrasilianischer Religionen, die seit dem fulminanten Sieg Bolsonaros im ersten Wahlgang Schlagzeilen machen.

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