(Santiago de Chile, 20. Dezember 2022, npla).- Nun liegt es vor, das „Abkommen für Chile“, die Grundlage für einen neuen verfassungsgebenden Prozess. Wie ein Zeichen verweist es auf eine Rückkehr zur Demokratie „von oben“. Es dreht die demokratisierende Welle zurück, die der soziale Aufstand vom Oktober 2019 eingeleitet hatte und die mit der Ablehnung der vorgeschlagenen neuen Verfassung am 4. September dieses Jahres endete. Das chilenische Parlament einigte sich am 12.12.2022 auf einen neuen Verfassungsprozess; die zwölf Leitprinzipien sind.in dem Abkommen festgeschrieben So wird Chile als ein sozialer Einheitsstaat definiert, der auf dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit beruht. Damit ist auch die Gewaltenteilung in Judikative, Legislative und Exekutive mit jeweils autonomen Befugnissen bereits fest verankert.
Das Abkommen legt fest, dass der Verfassungsrat mit fünfzig zu wählenden Mitgliedern über die neue Grundcharta entscheidet. Neben dem Verfassungsrat soll es einen Sachverständigenausschuss mit 24 Mitgliedern geben, die jeweils zur Hälfte vom Senat und der Abgeordnetenkammer ernannt werden. Sie werden nicht stimmberechtigt sein, sollen aber den ersten Vorschlag für den neuen Verfassungstext schreiben und haben das Recht, bei der Festlegung des endgültigen Texts zu vermitteln oder zu intervenieren.
Die Verfassungsräte sollen über Listen der Parteien gewählt werden. Parteiunabhängige Listen sind nicht zugelassen. Der Wahlmechanismus wird dem der Senatswahl entsprechen. Dabei werden je nach Region drei oder fünf Kandidat*innen gewählt: Die Region La Araucanía (Gebiet des Mapuche-Konflikts) mit gut 90.000 Einwohnern wählt genauso wie die Región Metropolitana, der Großraum Santiago mit fast 6 Millionen Einwohnern, jeweils fünf Senatoren. Dieses Wahlverfahren verzerrt das soziodemokratische Gewicht und räumt Regionen mit hohem Anteil an konservativen Positionen viele Stimmen ein.
Zur Erinnerung: Der am 4. September 2022 abgelehnte Verfassungsvorschlag hatten 154 gewählte Konventsmitgliedern nach dem für die Abgeordnetenlammer geltenden Verhältniswahlsystem ausgearbeitet. Diese waren nach dem demokratischeren, für die Abgeordnetenkammer geltenden Verhältniswahlrecht bestimmt worden, das 2015 mit der Reform des binominalen Wahlsystems eingeführt wurde. Die Wahlchancen wurden so auf zwei große politische Blöcke konzentriert.
Die Geschlechterparität, also die gleiche Verteilung von Sitzen an Männer und Frauen, wird hingegen beibehalten, nach Ansicht von Rechtsanwalt Mauricio Decap ein unbestreitbarer Fortschritt. Die Vergabe von zusätzlichen Sitzen an Vertreter*innen indigener Gemeinschaften sei allerdings von vornherein zu stark begrenzt: „Je nach Wahlbeteiligung kommen auf fünfzig gewählte Vertreter*innen zwei bis fünf zusätzliche Sitze für indigene Verfassungsräte“, so Decap.
Mit Ausnahme der Republikanischen Partei und dem „Partido de la Gente“, die zu den letzten Präsidentschafts- und Parlamentswahlen entstanden sind, wurde das „Abkommen für Chile“ am 12. Dezember von allen anderen politischen Kräften der Regierung wie auch der Opposition unterzeichnet.
Die parlamentarische Küche
Einmal mehr entsteht der Eindruck, dass die Vereinbarung innerhalb des Parlaments „zusammengebraut“ wurde, das in der Bevölkerung ohnehin schon wenig Wertschätzung und Vertrauen genießt. Laut Meinungsumfragen erreichen die Abgeordnetenkammer und der Senat in der Bevölkerung Zustimmungswerte von zehn Prozent, die Parteien rangieren sogar nur bei fünf Prozent.
Der vorige verfassungsgebende Prozess war gescheitert, weil 62 Prozent der Bevölkerung den Vorschlag für eine neue Verfassung in einem Referendum am 4. September ablehnten. Doch dieser Prozess hatte in der chilenischen Geschichte eine noch nie dagewesene Souveränität der Bevölkerung zum Ausdruck gebracht. Viele Analyst*innen sahen darin eine Öffnung der Demokratie, die einen starken, kaum vorstellbaren Hauch von Vielfalt und Pluralismus vermittelte.
Im Gegensatz dazu ist dieser neue Prozess, der das institutionelle Erbe Pinochets hinter sich lassen will, durch das Parlament vorbelastet, eine Institution, die schon lange keine Glaubwürdigkeit mehr besitzt. Dabei unterwirft das Parlament die Verfahren, nach denen schließlich ein verfassungsgebender Rat gewählt wird, der parlamentarischen Vormundschaft. Unabhängige, insbesondere die sozialen Bewegungen und die Parteiunabhängigen, kommen darin kaum oder gar nicht vor.
Das endgültige Regelwerk, dass die Abläufe des verfassungsgebenden Prozesses definiert, ist noch nicht bekannt. Sicher ist, dass die künftigen 50 Abgeordneten zusammen mit 24 Sachverständigen, die proportional zur derzeitigen politischen Zusammensetzung der Abgeordnetenkammer ernannt werden, versuchen werden, eine neue Verfassung zu schreiben, die eine schlechte Kopie derjenigen sein wird, die bei fortschrittlichen und demokratischen Sektoren viele Illusionen geweckt hat – die aber bei der Mehrheit des Landes nicht ankam.
Hier der Zeitplan zum Verfassungsprozess:
- Januar 2023: Einrichtung der Sachverständigenkommission
- April 2023: Wahl der Verfassungsrates unter Wahlpflicht
- 21. Mai 2023: Einrichtung des Verfassungsrats
- 21 Oktober 2023: Übergabe des Verfassungsvorschlags
- 26 November 2023: Abschlussreferendum mit Wahlpflicht.
Übersetzung und Bearbeitung: Ute Löhning
Die spanische Version dieses Kommentars und das Abkommen für Chile – auf deutsch
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