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(La Plata, 03. Mai 2025, El Salto).- Zu den wichtigsten Aspekten im Umgang mit Erinnerung, Wahrheit und Gerechtigkeit in Argentinien zählt die Frage nach der Mitschuld und Verantwortung der katholischen Kirche und des Wirtschaftssektors während der letzten Militärdiktatur. „Mein Verhältnis zur Kirche war ausgezeichnet, wir unterhielten eine sehr herzliche, aufrichtige und offene Beziehung“, erklärte dazu der ehemalige Diktator im Jahr 2012. Die Kirche betraute ihrerseits die Katholische Universität Argentiniens (UCA) in Buenos Aires mit einer historiografischen Analyse ihrer Rolle während der Diktatur und in den Jahren davor. Die Ergebnisse der Untersuchung sind in dem dreibändigen Werk La verdad los hará libres („Die Wahrheit wird sie frei machen“) zusammengestellt. Auch wenn Menschenrechtsorganisationen darin kaum neue Beweise gefunden haben werden, sind die Bände doch eine Bestätigung dessen, was die Organisationen seit Jahrzehnten anprangern: die Komplizenschaft der kirchlichen Behörden mit dem Staatsterrorismus.
„Die Wahrheit wird euch frei machen“ – oder auch nicht
Im April 2023 wurden die ersten beiden der drei Bände über die Beteiligung der argentinischen katholischen Kirche an dem von Menschenrechtsorganisationen als zivil-militärisch-kirchliche Diktatur bezeichneten Unterdrückungsregime vorgestellt. Jahrelang hatten Opfer und Angehörige Einsicht in die kirchlichen Unterlagen gefordert; im Jahr 2012 beschloss die argentinische Bischofskonferenz (CEA), ihre Archive aus den Jahren der Diktatur, der illegalen Repression und des Verschwindenlassens von Menschen zu systematisieren und freizugeben. Ein Jahr später ordnete Papst Franziskus die Öffnung der Archive der Apostolischen Nuntiatur in Buenos Aires und die Freigabe der sogenannten „Geheimnisse“ des Vatikans an, eine beispiellose Entscheidung, da diese nach den kanonischen Normen erst nach 70 Jahren zugänglich gemacht werden dürfen. 2016 begann der Vatikan mit der Systematisierung, und 2017 erlaubte Papst Franziskus der Expertenkommission der UCA, die Dokumentationen für ihre Forschungsarbeit zu nutzen.
Der Journalist und Lehrer Washington Uranga hat die beiden veröffentlichten Bände durchgelesen und kommt zu dem Schluss: „Das Wichtigste ist, dass nun Dokumente öffentlich gemacht wurden, die bisher nicht bekannt waren“, darunter Protokolle der Bischofskonferenzen, Debatten zwischen den Bischöfen und Informationen über Beziehungen zum Militär. Was ihm außerdem wichtig erscheint: die politische und institutionelle Verschiebung innerhalb der Kirchenhierarchie. Nachdem die Kirche sich jahrelang geweigert hatte, die Archive zu öffnen, sei es dem Einfluss von Papst Franziskus zu verdanken, dass der Einblick in die Archive des Vatikans gewährt wurde.
Bei der Eröffnung des Eucharistischen Kongresses in Córdoba am 8. September 2000 bat die Kirchenspitze um Vergebung, bekannte sich zu ihrer Verantwortung für die während der Diktatur begangenen Verbrechen und sprach zum ersten Mal von einer Untersuchung und einigen Dokumenten. Doch im September 2003 veröffentlichte sie ein Kommuniqué, in dem sie die Erklärung der Bischöfe der 111. Ständigen Kommission vom März 1995 wiederholte: „Wenn ein Mitglied der Kirche, unabhängig von seinem Stand, eine dieser Handlungen mit seiner Empfehlung oder Komplizenschaft gebilligt hätte, hätte es unter seiner persönlichen Verantwortung gehandelt und einen schweren Fehler oder eine schwere Sünde gegen Gott, die Menschheit und das eigene Gewissen begangen“. Damit reagierte sie auf die Äußerungen des ehemaligen De-facto-Präsidenten Reynaldo Bignones, der öffentlich erklärt hatte, die Militärs hätten Verhaftete und Verschwundene mit Zustimmung der Kirche gefoltert.
Von Wernich – im Knast und weiterhin im Amt
Der berüchtigtste Fall im Zusammenhang mit den Beteiligung der Kirche ist der von Christian Von Wernich, dem ersten Priester, der wegen Verbrechen gegen die Menschheit während der Diktatur vor Gericht gestellt und verurteilt wurde. Am 9. Oktober 2007 verurteilte der Bundesgerichtshof den ehemaligen Kaplan der Polizei von Buenos Aires zu einer lebenslangen Haftstrafe. Er wurde aller ihm vorgeworfenen Verbrechen für schuldig befunden und für die Freiheitsberaubung, Folter und Ermordung von 41 Menschen zu lebenslanger Haft verurteilt. Während des dreimonatigen Prozesses sagten mehr als hundert Zeug*innen, darunter auch Überlebende, gegen von Wernich aus. Am Tag nach der Urteilsverkündung distanzierte sich die argentinische Bischofskonferenz in einem Kommuniqué von dem „Untauglichen“ und verwies darauf, dass jedes Mitglied der Kirche, das sich an „gewaltsamen Repressionen“ beteiligt habe, dies „auf eigene Verantwortung“ getan habe. Menschenrechtsorganisationen erklärten, die katholische Kirche könne kein Zufluchtsort für Völkermörder sein. 2018 forderten sie in einem Brief an Papst Franziskus den Ausschluss von Wernichs aus dem Klerikerstand. Einen Monat nach der Verurteilung zu lebenslanger Haft leitete die katholische Kirche ein Verfahren gegen den Priester ein, um die entsprechende Sanktion gemäß dem Kodex des Kirchenrechts festzulegen. Da das Kirchenrecht jedoch keine Fristen vorsieht, verbüßt der Priester derzeit seine Strafe in einem gewöhnlichen Gefängnis und übt weiterhin seine Amtsgeschäfte aus.
Geistlicher Beistand für Menschenrechtsverbrecher
Nach Ansicht der Journalistin Ailín Bullentini finden sich in Band I und II Hinweise, dass Priester den Tätern „geistlichen Beistand“ gegen diejenigen leisteten, die als „innere Feinde des Vaterlandes“ bezeichnet wurden. Direkte Informationen über ihre Beteiligung an Entführungen, Verhören unter Folter, Morden und Verschwindenlassen, Gefangenschaft unter unmenschlichen Bedingungen, Entführung von Babys und Diebstahl von Eigentum gebe es jedoch nicht. Unterzeichnet ist die Dokumentensammlung von drei Doktoren der Theologie, die die Arbeit von mehr als zwanzig Autoren koordinierten. Auf die Frage, ob nicht auch nicht-kirchliche Akteure in die Forschungsarbeit hätten einbezogen werden sollten, antwortet Uranga: „Soweit ich weiß, steht der Dialog mit den Organisationen gerade am Anfang. Meines Erachtens hätte dies schon viel früher geschehen müssen.“ Auch Eduardo Tavani, Präsident der Ständigen Versammlung für Menschenrechte, versichert, dass es keinen Austausch des Forschungsteams mit den Menschenrechtsverbänden gegeben habe. Letztere hätten nur das Material erhalten, das vom Verlag veröffentlicht wurde.
Auch heute noch keine klare Positionierung in vielen Punkten
In den beiden Bänden geht es vor allem um die Funktionen der verschiedenen Bischöfe; besondere Aufmerksamkeit widmen sie dem Provikar Victorio Bonamin und dem Vikariatssekretär Emilio Graselli. Auch in den Prozessen um Verbrechen gegen die Menschheit taucht der Name Graselli unzählige Male auf; Graselli selbst wurde mehrfach als Zeuge aufgerufen, jedoch nie angeklagt. In einem dieser Prozess spricht Chicha Mariani, Gründerin der Abuelas de Plaza de Mayo, über Hoffnung und Enttäuschung im Zusammenhang mit dem Geistlichen Graselli: Mariani, die auf der Suche nach ihrer verschwundenen Enkelin war, bekam bei ihrem zweiten Besuch in der Stella Maris-Kirche zu hören, dass sie lange Zeit nicht dagewesen sei (einen Monat), und „dass er das Mädchen nun nicht mehr zurückbringen könne, weil sie in den Händen mächtiger Menschen sei, allerdings gut untergebracht“. Sie habe erst große Hoffnungen gehabt, dass Graselli ihr helfen würde, aber nach dem zweiten Treffen sei sie sehr verzweifelt gegangen. „Seit mehr als 40 Jahren wird anhand der Zeugenaussagen der Opfer deutlich, dass die Kirche nicht reagierte oder sich sogar auf die Seite der Unterdrücker stellte“, erklärt Mariani. Die Untersuchung macht außerdem deutlich, dass die Bischöfe „von den Bewegungen vor dem Staatsstreich von 1976 wussten“, dass „der Schutz der katholischen Führung einen wichtigen Beitrag zur Legitimation der ‚Vorgänge‘ und des ‚antisubversiven Kampfes‘“ leistete und dass die kirchlichen Behörden trotz der zahlreichen Informationen über Menschenrechtsverletzungen, die ihnen vorlagen, eine „auf ihren eigenen ideologisch-politischen Überzeugungen beruhende Haltung des Misstrauens“ gegenüber den Menschenrechtsorganisationen und insbesondere den Müttern und Großmüttern der Plaza de Mayo aufrechterhielten.
Der Untertitel von Band I, „Die katholische Kirche in der Spirale der Gewalt in Argentinien 1966-1983“, stieß bei Mitgliedern von Menschenrechtsorganisationen auf Kritik, da die „Spirale der Gewalt“ auf die so genannte Theorie der zwei Dämonen anspiele. Diese wird häufig zur Rechtfertigung der Gewalt des Staatsterrorismus herangezogen und setzt die staatliche Gewalt mit der von bewaffneten oder aufständischen Organisationen gleich. „Sie haben am Tag der Präsentation ausdrücklich gesagt, dass sie nicht der Theorie der zwei Dämonen folgen“, so Uranga. Man habe sogar die Untersuchungsergebnisse des Menschenrechtsanwalts Emilio Mignone einbezogen. Doch als im Februar 2023 die in den fünf Jahren der Untersuchung zusammengetragenen Unterlagen an das Bundesgericht übergeben wurden, sei Folgendes aufgefallen: „In der veröffentlichten Version tauchen einige Namen nur als Initialen auf oder wurden ganz weggelassen, aber die Version, die sie dem Richter gegeben haben, soll angeblich eine andere gewesen sein“, erklärt Uranga.
Erinnerung, Wahrheit und Gerechtigkeit: die Geste zählt
Band I deckt den Zeitraum 1966-1983 ab und enthält Anfragen zu Berichten über die letzte Diktatur und Beschwerden von Angehörigen, die bei der Kirchenführung eingegangen waren. Die erste Liste der von der Kirche registrierten Verschwundenen wurde am 13. Juli 1976 vom Nuntius Pío Laghi an den Leiter des Innenministeriums, General Albano Harguindeguy, übergeben. Laut den kirchlichen Archiven antwortete die Diktatur in 35 Prozent der von der Kirche vorgelegten Anfragen mit „einigen Informationen“: Von den insgesamt 260 Briefen an die Kirche enthalten einige ein paar Angaben, wenn es um (offizielle) Verhaftete der Nationalen Exekutive ging. Bei Anfragen zu Verschwundenen oder entführten Babys waren die Antworten ausweichend oder lauteten einfach: „Wir haben keine Unterlagen“.
„Dies ist nicht DIE Geschichte, es ist eine Geschichte“, erklärte Bischof Ojea bei der Präsentation der Bände. „Es ist eine Version der Tatsachen, eine Würdigung sehr ernster und schmerzhafter Ereignisse, die unserem Volk widerfahren ist, eine Würdigung, die unvollständig ist und für viele zu spät kommt“, betonte Tavani, Präsident der Permanenten Versammlung für Menschenrechte. Eine Geschichte voller Lücken, die für sich selbst sprechen. Im April 2023 beantragten die Abuelas de Plaza de Mayo beim Bundesgerichtshof von San Martín Einsicht in die kirchlichen Beiträge, besonders interessierte sie das vollständige Zeugnis von Federico Gógala, Kaplan im Militärkrankenhaus Campo de Mayo, der 2007 über die dort betriebene geheime Entbindungsklinik berichtete. Sein Zeugnis wird in Band II zitiert, wurde aber vom Episkopat nicht an das Gericht weitergeleitet.
Seit mehr als 40 Jahren werden das fehlende Rückgrat oder gar die unverhohlene Parteinahme der katholischen Kirche für die Unterdrücker der letzten zivil-militärischen Diktatur in den Zeugenaussagen der Opfer kritisiert. Mindestens acht Priester wurden wegen ihrer Beteiligung an Verbrechen gegen die Menschheit strafrechtlich verfolgt, und obwohl sich alle einig sind, dass die rechtlichen Schritte zu spät kommen und der fehlende Zugang zu den Akten die Sache auch nicht einfacher macht, versuchen einige, wie Tavani, die Geste zu retten: „Die Enthüllung dessen, was jahrelang verschwiegen wurde, wenn auch nur teilweise, trägt zur Klärung der Ereignisse und zum Prozess der Erinnerung, der Wahrheit und der Gerechtigkeit bei, für den die gesamte Menschenrechtsbewegung so hart gekämpft hat“.
„Mein Verhältnis zur Kirche war ausgezeichnet“, sprach der Diktator von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
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