(Berlin, 26. Mai 2020, npla).- Chiles Weg zu einer neuen Verfassung ist lang. Das wissen auch die Chilen*innen in Berlin, die sich im „Cabildo Berlin Chile“ organisieren. Bei einem für Ende April geplanten Plebiszit hätte die chilenische Bevölkerung für oder gegen die Ausarbeitung einer neuen Verfassung abstimmen sollen. Im Zuge des Corona-Lockdowns wurde dieses Plebiszit jedoch auf Oktober verschoben. Chilen*innen in Berlin sind darauf eingestellt, kulturelle und politische Formen des Protests über einen sehr langen Zeitraum am Laufen zu halten.
Im Dezember 2019 in Berlin: An einem kalten Sonntagnachmittag sind um die hundert Chileninnen und Chilenen gekommen, um am Neuköllner Hermannplatz ihre Stimme abzugeben. Auf einem Tisch stehen Thermoskannen mit heißen Getränken. Ein Pappkarton mit Schlitz dient als Wahlurne. „Eins, zwei, drei, vier …“, Daniela Mondaca vom Cabildo Berlin Chile zählt die abgegebenen Stimmzettel, warm eingehüllt in Mantel, Mütze und Schal, „41, 42, 43 …“. Hier findet heute keine reguläre Wahl statt, sondern eine unverbindliche Bürgerbefragung. Und doch ist sie für die hier lebenden Chileninnen und Chilenen enorm wichtig. Denn es ist der erste Schritt auf dem langen Weg zu einer neuen Verfassung.
Die Welt ist heute eine andere als vor dem Lockdown
Ein paar Monate ist das jetzt her – und die Welt eine andere. Am 26. April sollte in Chile eigentlich ein verbindliches Plebiszit stattfinden – und die Bevölkerung darüber abstimmen, ob ihr Land eine neue Verfassung bekommt und wie das Gremium zusammengesetzt sein soll, das diese formuliert. So war es im November im „Abkommen für den sozialen Frieden und eine neue Verfassung“ beschlossen worden.
Doch daraus wird nun erstmal nichts. Aufgrund des Corona-bedingten Lockdowns hat die Regierung den Termin für das Plebiszit auf den 25. Oktober verschoben. So bleibt die unverbindliche Bürgerbefragung vom Dezember bisher die einzige institutionalisierte Erhebung, in der die chilenische Bevölkerung ihre Meinung zu dieser Frage abgeben konnte. Auch für die Chileninnen und Chilenen in Deutschland.
Weiter zählt Daniela Mondaca „ … 113, 114, und wir beschließen die heutige Abstimmung mit dem letzten Stimmzettel …“: 115 Stimmen werden an diesem Sonntag abgegeben. Und für die, die heute nicht kommen können, läuft bis zum nächsten Tag eine Online-Abstimmung.
Chilen*innen im Ausland wollen von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen
Organisiert wird die Befragung vom Cabildo Berlin, einer Bürger- oder Nachbarschaftsversammlung von Chileninnen und Chilenen in Berlin, die die Protestbewegung in Chile unterstützen. Seit Oktober vergangenen Jahres haben sie in den Sozialen Medien über die Proteste in Chile informiert, Konzerte und Ausstellungen organisiert und Spenden zur Unterstützung der bei den Polizeieinsätzen Verletzten gesammelt.
Daniela Mondaca ist in der Gruppe aktiv. Sie erklärt, dass die Kommunen in Chile diese Bürgerbefragung angesetzt haben, um herauszufinden, wie die Menschen sich den Weg zu einer neuen Verfassung vorstellen. „Die Befragung, die wir hier abhalten, verstehen wir als Teil dieses Abstimmungsprozesses“, sagt sie, denn „viele Chilen*innen, die im Ausland leben, wollen von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen.“
Im Kern geht es um Teilhabe
Über 90 Prozent der Teilnehmenden haben schließlich für eine neue Verfassung gestimmt. Die überwiegende Mehrheit hat sich auch dafür ausgesprochen, alle Mitglieder einer Verfassungsgebenden Versammlung extra dafür zu wählen, also nicht mit bereits im Kongress vertretenen Abgeordneten zu besetzen. „Bis heute gibt es keine Regelung für eine demokratische Beteiligung“, erklärt Mauricio Tapia, ebenfalls aktiv beim Cabildo Berlin, und weiter: „Die soziale Bewegung fordert allerdings, dass die Mitglieder eines verfassungsgebenden Gremiums von der Bevölkerung gewählt werden, und Menschen aus der Bewegung direkt beteiligt werden sollen.“
Eine zentrale Frage, denn im Kern geht es um Teilhabe: Wie können Menschen aus der Protestbewegung, die nicht parteipolitisch organisiert sind, ihre Positionen einbringen? In Chile ist das Misstrauen gegenüber den etablierten Parteien von rechts bis links sehr groß. Viele Menschen fürchten, es könnte zu einer parteipolitisch zwischen Abgeordneten und Experten ausgehandelten neuen Verfassung kommen: ohne Veränderungen in den grundlegenden Fragen.
Dass eine zukünftige Verfassungsgebende Versammlung je zur Hälfte mit Männern und Frauen besetzt werden soll, hat der chilenische Kongress inzwischen beschlossen. Die Protestbewegung fordert darüber hinaus, einen bestimmten Anteil der Plätze an Angehörige indigener Völker, der schwul-lesbischen- und Queer-Community oder auch an Menschen mit Behinderungen zu vergeben. Und sie drängt auf soziale Veränderungen.
Soziale Gerechtigkeit
Daniela zählt einige der Forderungen auf, die Millionen von Menschen in Chile seit Oktober 2019 monatelang immer wieder auf die Straße getragen haben: „Einführung eines funktionierenden öffentlichen Bildungssystems, Renten- und Gesundheitsversorgung für alle, Zugang zu Wasser als Grundrecht und ein würdiger Mindestlohn.“
Die Protestbewegung unter dem Namen „Chile despertó“ – also „Chile ist aufgewacht“ – hat sich an einer Fahrpreiserhöhung im öffentlichen Nahverkehr entzündet, doch dahinter steht eine viel größere Unzufriedenheit und soziale Not. Denn die öffentliche Daseinsvorsorge in Chile ist weitgehend privatisiert. „Nicht nur die Bildung ist in Chile privatisiert, sondern jeder Fleck dieses Landes“, empört sich die Literaturwissenschaftlerin Vivian Moraga. Seit fast zwanzig Jahren lebt sie in Berlin, arbeitet als Lehrerin, malt und schreibt. „Jetzt werden Wasserquellen, Berge, einfach alles verkauft!“ sagt sie aufgebracht.
Bruch mit dem Ende der Diktatur
Nach dem Putsch 1973 hatten Ökonomen aus der Schule der Chicago-Boys in Chile ein neoliberales Wirtschaftsmodell eingeführt. Und in der 1980, also noch in Zeiten der Diktatur, geschriebenen und bis heute gültigen Verfassung wird das Recht auf Privateigentum – z.B. an Wasserquellen und dem Zugriff darauf – garantiert. Vivian Moraga erklärt „Der einzige Weg, grundlegende Veränderungen umzusetzen, führt über eine neue Verfassung. Und über einen ehrlichen Wandel, in dem die Vorschläge der Bevölkerung gehört werden.“
Doch der Weg dahin ist noch lang. Wenn das nun verschobene Plebiszit im Oktober stattfindet, kann ein halbes Jahr später die Verfassungsgebende Versammlung gewählt, und in den darauffolgenden neun Monaten die Verfassung geschrieben werden. Mit oder ohne Corona eine langwierige Angelegenheit.
Die Bewegung braucht einen langen Atem
Kann darüber die ganze Mobilisierung im Sande verlaufen? Mauricio Tapia vom Berliner Cabildo glaubt das nicht: „Das Besondere an der aktuellen Bewegung ist, dass sehr viele Menschen aus verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen langfristig und ausdauernd daran beteiligt sind“, sagt er und ergänzt: „Wir wissen, dass wir eine jahrelange Aufgabe vor uns haben. Aber wir sehen, dass viele soziale Akteure sich dafür verantwortlich fühlen, und diese Mobilisierung tragen. Das gibt uns eine gewisse Gelassenheit.“ Es könnten viele unvorhersehbare Dinge passieren, dann würden sich vielleicht die Ausdrucksformen der Bewegung ändern, fährt Mauricio Tapia fort, und betont: „Außer den großen Demonstrationen gibt es zum Beispiel auch viele kulturelle Aktivitäten. Was zählt ist, dass wir die Mobilisierung für sehr lange Zeit aufrechterhalten.“
Mit der Corona-Pandemie ist eine unvorhersehbare Entwicklung eingetreten. In Santiago hat die Bewegung die großen Demos von sich aus von einem Tag auf den anderen ausgesetzt, um die Menschen zu schützen. Inzwischen gibt es einzelne kleine Kundgebungen mit wenigen Menschen, die viel Abstand zueinander halten.
Zu diesem poonal-Text gibt es bereits einen Podcast bei Radio onda!
Der lange Weg zur neuen Verfassung: Chilen*innen in Deutschland von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
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