Der 10. Dezember ist der internationale Tag der Menschenrechte. Der 30. August ist der internationale Tag gegen das Verschwindenlassen. Mit freundlicher Genehmigung übernehmen wir diesen Artikel, der in kürzerer und leicht veränderter Version zuerst bei Amnesty Journal erschienen ist.
Die Vereinten Nationen (UN) riefen im Jahr 2006 einen Aktionstag aus, um die Arbeit gegen das erzwungene Verschwindenlassen von Personen zu stärken. Dazu gehört jede Form der Freiheitsberaubung unter Beteiligung, Ermächtigung, Unterstützung oder Duldung staatlicher Funktionsträger, die mit Verschleierung des Verbleibs der verschwundenen Person und der Verweigerung von Rechtsschutz einhergeht.
„Verschwindenlassen hat nicht nur Auswirkungen auf das Opfer, das verschwindet, sondern auch auf diejenigen, die zurückbleiben“, erklärt die thailändische Menschenrechtsverteidigerin Angkhana Neelapaijit am Rande eines Gesprächs beim Deutschen Institut für Menschenrechte (DIMR). „Solange die Familien die Wahrheit über das Schicksal und den Aufenthaltsort ihrer Angehörigen nicht erfahren, bleiben sie die ganze Zeit in Unsicherheit.“ Nachdem ihr Mann, der Anwalt Somchai Neelapaijit, 2004 entführt wurde und bis heute verschwunden ist , blieb Angkhana mit fünf Kindern zurück. Sie forderte Aufklärung, tauschte sich mit anderen Angehörigen von Verschwundenen aus und ging zunehmend selbst in die Öffentlichkeit.
Seit 2022 ist Angkhana Neelapaijit Mitglied der UN-Arbeitsgruppe gegen das erzwungene oder unfreiwillige Verschwindenlassen (WGEID). Diese 1980 gegründete Arbeitsgruppe bei der UN mit humanitärem Mandat hat keine Durchsetzungsmechanismen. Sie fungiert als Anlaufstelle für Angehörige von Verschwundenen und als wichtiges Kommunikationsmedium zwischen diesen und den Regierungen.
UN-Konvention gegen das Verschwindenlassen
2006 beschloss die UN-Generalversammlung mit der Resolution 61/117 die Konvention für den Schutz aller Personen vor erzwungenem Verschwindenlassen, die 2010 in Kraft trat. Inzwischen haben 75 Staaten die Konvention ratifiziert .
Barbara Lochbihler, Mitglied des UN-Ausschusses gegen das erzwungene Verschwindenlassen (CED), die bis 2009 Generalsekretärin der deutschen Sektion von Amnesty International Deutschland und bis 2019 Europaabgeordnete der Grünen mit dem Schwerpunkt Menschenrechte war, lobt die Konvention als „fortschrittlichen, modernen, sehr weitreichenden Menschenrechtsvertrag“. Der UN-Ausschuss überprüft, ob und wie die Vertragsstaaten ihre Verpflichtungen umsetzen und fordert bei Bedarf zu Verbesserungen auf. Er arbeitet eng mit der UN-Arbeitsgruppe zusammen und ist auf Informationen aus der Zivilgesellschaft, von Angehörigen oder der Presse angewiesen, vor allem bei der Arbeit zu Ländern, über die wenig Recherchen vorliegen.
Die Vertragsstaaten müssen die Vorgaben der Konvention umsetzen und in ihre nationale Gesetzgebung übernehmen. Das bedeutet, dass sie das Verschwindenlassen von Personen, geheime Inhaftierungen sowie inoffizielle Haftzentren verbieten sowie den Anspruch jedes Häftlings auf Information von Angehörigen und anwaltliche Vertretung garantieren müssen. Darüber hinaus schreibt die Konvention das Recht von Opfern und deren Angehörigen auf Wahrheit und Wiedergutmachung fest, sowie das Recht, Vereine und Organisationen für den Kampf gegen das Verschwindenlassen zu gründen. Die Konvention verbietet auch die unrechtmäßige Entführung oder Adoption von Kindern, deren Eltern verschwunden sind.
Deutschland ratifizierte die Konvention 2009. Im Juni 2024 schließlich beschloss der Bundestag , mit § 234b den Straftatbestand des Verschwindenlassens explizit und als Offizialdelikt ins Strafgesetzbuch aufzunehmen. Mit diesem Gesetz wird nun sichergestellt, dass zukünftige Fälle von Verschwindenlassen auch in Deutschland strafrechtlich verfolgt werden müssen. „Das ist sehr gut für Deutschland und hat auch Ausstrahlung auf andere Staaten“, erklärt Lochbihler. Damit Verschwindenlassen „als relevantes Menschenrechtsthema wieder neuen Drive bekommt“, sei es wichtig, mehr Staaten zur Unterzeichnung der Konvention zu bewegen.
Der UN-Ausschuss gegen das Verschwindenlassen arbeitet sehr gut mit der UN-Arbeitsgruppe (WGEID) zusammen. Bei der Arbeit zu Ländern, über die wenig Recherchen vorliegen, seien sie neben der offiziellen Darstellung der Regierungen sehr auf Informationen aus der Zivilgesellschaft, von Angehörigen oder Presse angewiesen, „um zu wissen, was da vorgeht“, so Lochbihler.
Weltweite Einordnung und Themenfelder
Besonders von Verschwindenlassen bedroht sind heute Menschen, die sich gegen Landraub und Korruption, für Umweltschutz und Menschenrechte einsetzen. Zunehmend gefährdet sind auch Migrant*innen. Barbara Lochbihler hat für den UN-Ausschuss den Grundsatzkommentar „Erzwungenes Verschwindenlassen im Kontext von Migration“ geschrieben, der 2023 als ausdrückliche Erläuterung der Bestimmungen der UN-Konvention beschlossen wurde. Lochbihler bezeichnet ihn als „Handreichung für eine menschenrechtsorientierte Grenzpolitik“.
Es dürfe nicht sein, dass Flüchtende in grenznahen Lagern nicht registriert werden oder dass staatliche Grenzschützer, Militär oder Institutionen wie Frontex an den europäischen Außengrenzen oder an der Grenze zwischen den USA und Mexiko Pushbacks mit veranlassen. „Wer Pushbacks zulässt, riskiert, sich schuldig an erzwungenem Verschwindenlassen zu machen“, so Lochbihler.
Im weltweiten Vergleich werden die meisten Fälle von erzwungenem Verschwindenlassen in Lateinamerika registriert, allein in Mexiko stieg deren Anzahl im Kontext des Kriegs mit den Kartellen nach Angaben der staatlichen Suchkommission inzwischen auf mehr als 114.000.
„Allerdings ist Lateinamerika auch führend im Kampf gegen erzwungenes Verschwindenlassen“, erklärt Lochbihler: nicht nur weil die meisten lateinamerikanischen Staaten die UN-Konvention gegen das Verschwindenlassen ratifiziert haben, sondern auch weil sich Betroffene seit den Diktaturen der 1970er Jahre über die Suche nach ihren Angehörigen organisiert haben, sondern auch weil die Selbstorganisierung der Angehörigen sehr stark ist. In Mexiko und Zentralamerika machten sich Mütter gemeinsam als „Karawane“ auf die Suche nach ihren verschwunden Kindern. In Mexiko gibt es mehr als hundert Organisationen von Angehörigen, die Verschwundene suchen.
Schon in den Diktaturen der 1970er Jahre organisierten sich Betroffene über die Suche nach ihren Angehörigen. In Argentinien waren es die als Madres de la Plaza de Mayo bekannt gewordenen Mütter der Verschwundenen, die schon während der Diktatur (1976 bis 1983) für Aufklärung kämpften und entscheidend zum Sturz der Diktatur beitrugen. Menschenrechte und Aufarbeitung der Diktatur wurden zentrale Pfeiler staatlicher Politik. Die aktuelle argentinische Regierung des Rechts-Libertären Javier Milei und seiner Vizepräsidentin Victoria Villarruel wollen dies nun zurückdrehen.
In Asien sind vergleichsweise wenige Fälle zwangsweisen Verschwindenlassens registriert, es gibt kaum Statistiken dazu. Für Angkhana Neelapaijit sind die offiziellen Zahlen nur die Spitze des Eisbergs, die Situation in Asien sei sehr divers und kompliziert zu erfassen. Sie weist auch auf Fälle von grenzüberschreitendem Verschwindenlassen in den ASEAN-Staaten hin, wobei Oppositionelle aus einem Land im Nachbarland entführt werden.
Der Generalsekretär der Asian Federation Against Involuntary Disappearances (AFAD), Joey Faustino, stellt die Zunahme staatlicher Repression gegen zivilgesellschaftliche Organisationen und Einschränkungen kritischer Öffentlichkeit in den Kontext des Erstarkens des Autoritarismus in der Region. „Populistische Führer haben das Konzept der Menschenrechte öffentlich verteufelt“, Hetze durch die Regierungen führe zu willkürlichen Verhaftungen und zu außergerichtlichen Tötungen, so Faustino.
Barbara Lochbihler plädiert dafür, bei der Arbeit gegen das Verschwindenlassen Asien gezielt in den Fokus zu nehmen. Nur wenige asiatische Staaten haben die UN-Konvention gegen das Verschwindenlassen ratifiziert und es gibt dort keinen regionalen Menschenrechtsmechanismus, der dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EMGR) oder dem Interamerikanischen System von Menschenrechtsgerichtshof und -kommission (CIDH) vergleichbar wären.
Die Afrikanische Kommission der Menschenrechte und der Rechte der Völker hat mit den 2022 verabschiedeten „Leitlinien zum Schutz vor Verschwindenlassen“ immerhin ein wichtiges Signal gesetzt und die Staaten der Region zu wirksamen Maßnahmen aufgefordert“, betont Silke Voß-Kyeck vom Deutschen Institut für Menschenrechte. „Für Angehörige von Verschwundenen in den meisten asiatischen Ländern bleibt die UN WGEID momentan die Hauptanlaufstelle.“
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