Vivir Quintana: „Vielfalt ist das, was uns wirklich bereichert“

Vielfalt
Sängerin Vivir Quintana
Foto: Tania Victoria / Secretar’a de Cultura de la Ciudad de MŽexico, via flickr
CC BY 2.0

(Buenos Aires, 29. März 2025, Agencia Presentes).- Die mexikanische Sängerin und Songschreiberin Vivir Quintana, Autorin der feministischen Hymne „Canción sin miedo“ (Lied ohne Angst), hat in Buenos Aires ihr neues Album vorgestellt. Unterstützt wurde sie von dem Musikkollektiv Mujeres y Disidencias del Folklore aus La Plata. „In unserer heutigen Zeit ist es wichtig, sich auf die Liebe, auf Verbundenheit und Kollektivität zu berufen“, erklärt die mexikanische Liedermacherin gegenüber Agencia Presentes Presentes. „Auch wenn wir es viel zu oft vergessen: Der Widerstand durch Musik und Kultur ist eine große und wichtige Kraft.“

Lieder mit Botschaft

Vivir Quintana stammt aus dem mexikanischen Bundesstaat Coahuila. Sie arbeitete als Spanischlehrerin und liebte ihren Beruf, doch ihre größte Leidenschaft galt der Musik. Also beschloss sie eines Tages, ihren Job an den Nagel zu hängen, um ein wenig von dem weiterzugeben, was sie als Kind bei ihren Eltern gelernt hatte: Lieder zu singen, die eine Botschaft enthalten. Bei einem Konzert von Silvio Rodríguez auf dem mexikanischen Zócalo trat sie als Opening Act auf und sang zum ersten Mal vor Tausenden von Menschen ihr Lied „Canción sin miedo“, eine Hymne für transfeministische Kämpfe. Im April erschien ihr zweites Album „Cosas que sorprenden a la audiencia“ (Dinge, die das Publikum überraschen) bei Universal. Es enthält zehn Geschichten von Frauen, die sich gegen ihre Angreifer zur Wehr setzten und deshalb im Gefängnis sitzen. In ihrem Lied „La casa de la esquina“ („Das Haus an der Ecke“), dem Eröffnungstrack ihres ersten Albums „Te mereces un amor“ spricht Vivir über ihr Elternhaus und ihre erste Berührung mit der Musik. „Als ich ein Kind war, haben meine Eltern mir ständig Musik vorgespielt. Ich hatte einen alten Plattenspieler, den ich im Hof aufstellte. Lola Beltrán, Los Tigres del Norte, aber auch Violeta Parra und Mercedes Sosa waren meine wichtigsten Referenzen, durch sie habe ich verstanden, dass die Texte von Liedern ein starkes, wirksames und unersättliches Kommunikationsmittel sind. Meine Eltern haben mir beigebracht, die Welt um mich herum mit all ihren Nuancen zu lieben. Und so wie ich die Welt liebe, so sehr beschäftigt sie mich auch“.

– Es sind schwierige Zeiten. Was bedeutet es, in diesen Zeiten zu schaffen, aufzutreten und zu komponieren?

-Ich denke, man muss die Talente nutzen, die das Leben einem schenkt, und zwar für die Dinge, die einem wichtig sind. Also, nicht nur das musikalische Talent, sondern auch die Verbindung, die man mit der Erde, mit den Menschen, mit der Natur hat. Als Frau und als Teil einer Gesellschaft  fühle ich eine Verantwortung, die mir niemand explizit übergeben hat, aber als Bewohnerin dieser Erde und in diesen schmerzhaften Zeiten, in denen die Welt sich befindet, betrachte ich es als meine Aufgabe, Liebe in die Musik hineinzutragen. Viele musikalische Genres, insbesondere in Mexiko, sind von Gewalt und Frauenfeindlichkeit geprägt. Ich versuche, Erzählungen zu schaffen, die in der mexikanischen Folklore angesiedelt sind und von der Liebe erzählen. Und zwar von einer freien, schönen Liebe, einer gesunden Liebe. Das ist sehr heilsam für mich und für die Menschen, die meine Musik hören.

-Deine Lieder handeln von feministischen Themen. Wie bewegst du dich damit in der Musikindustrie?

-Das ist schwierig. Ich habe großes Glück, dass ich auf so super liebevolle, nette Leute getroffen bin, die sagen: „Uns ist es wichtig, dass deine Message gehört wird.“ Diese schnelllebige Branche ist manchmal ganz schön anstrengend, und in diesem Kontext Botschaften zu vermitteln erfordert viel Liebe, Kraft und Entschlossenheit und den Respekt der anderen. Nur so kann ich tun, was ich tun will und mich dahin bewegen, wohin ich mich bewegen will. Ich denke, das ist eine der wichtigsten Grundregeln in dieser Welt.

-Sowohl in deine Band als auch dein Team besteht aus Frauen. War das eine Entscheidung oder hat sich das einfach so ergeben?

-Es war eine Entscheidung. Das hat nichts mit Separatismus zu tun, sondern mit Kollektivismus. Ich finde es wichtig, hier ein Zeichen zu setzen, mehr Frauen in diese Branche zu holen und diese ewige Kluft zwischen den Geschlechtern zu verkleinern. Wenn es eine Möglichkeit gibt, Frauen zu engagieren, sollte man das tun. Es gibt Frauen, die nicht mit männlichen Kollegen zusammenarbeiten können, weil sie verschiedene Formen von Gewalt erlitten haben. Ich habe kein Problem damit, mit männlichen Kollegen zu arbeiten, es sind ein paar richtig tolle Leute dabei, aber wir müssen auch die Möglichkeit bieten, diese Kluft zu überbrücken.

Geschichten von Frauen für Frauen

Der Corrido ist ein traditionelles mexikanisches Genre, in dem tragische Ereignisse nacherzählt werden, meist geht es um Verbrechen, die von Männern begangen wurden. „Rosita Alvirez“ spielt in Coahuila und erzählt von der Ermordung einer jungen Frau, die sich weigerte, auf einer Party mit einem Mann zu tanzen. Vivir Quintana kannte dieses Lied seit ihrer Kindheit, und als Erwachsene fragte sie sich, was wohl passiert wäre, wenn Rosita sich gegen ihren Angreifer gewehrt hätte. So entstand das Corrido-Album „Cosas que sorprenden a la audiencia. „An diesem Album haben wir zehn Jahre lang gearbeitet, weil ich wollte, dass die Geschichten auf die bestmögliche Weise erzählt werden. Ich wollte alles Reviktimisierende und Sensationslüsterne vermeiden. Mir kam es einzig darauf an, die Geschichten bekannt zu machen“, erklärt die Singer-Songwriterin gegenüber Presentes. „Insofern ist ein hartes Album dabei herausgekommen, aber es ist auch notwendig. Wir haben zehn Jahre nach diesen Geschichten gesucht, immer mit dem Bewusstsein im Kopf, dass nicht alle Frauen die gleiche Geschichte haben, aber dass wir die Geschichten anderer erzählen können. Jede einzelne Stimme ist wichtig, auch die von unseren Compañeras, die im Gefängnis sitzen. Das hat die Arbeit so schmerzhaft gemacht: dass man ständig über Gewalt sprechen musste. Entweder wirst du davon selbst gewalttätig, oder du wirst liebevoller, und das war es, was ich wollte: liebevoller werden. Es war eine sehr persönliche Arbeit, mich mit all‘ diesen Geschichten auseinanderzusetzen und mich von ihnen durchdringen zu lassen. Ich hoffe, dass dieses Album in den Herzen und im Bewusstsein der Menschen innerhalb und außerhalb der Szene nachhallt.“

-Wie hast du es geschafft, solche schwierigen Themen in deiner Musik zu verarbeiten?

-Indem ich mich komplett an einen inneren Ort zurückziehe, an dem es ausschließlich um Aufrichtigkeit geht. Ich möchten niemandem vorschreiben, wie man zu kämpfen hat. Ich glaube, alle Kämpfe auf dieser Welt haben ihre Daseinsberechtigung. Aber wenn ich mich hinsetze, um einen Song zu schreiben, will ich etwas ganz bestimmtes, und das ist vielleicht nicht dasselbe wie das, was andere Leute wollen, aber ich versuche dabei, so aufrichtig wie möglich zu sein, so dass sich die Leute, die mir zuhören, darin wiederfinden. Aufrichtigkeit ist ein wesentlicher Bestandteil meines Projekts, genau wie Kohärenz. Ich versuche, in meiner Musik, im Privatleben und als öffentliche Person kohärent zu bleiben. Das ist nicht immer einfach, aber ich kann einfach keine Lieder über Widerstand, über Liebe und Frieden veröffentlichen, wenn ich mein Arbeitsteam schlecht behandle oder meine Freunde oder meine Familie; oder wenn ich den Kontakt zu meinen Eltern abgebrochen habe. Aufrichtig zu sein ist eins der Dinge, die mich am meisten bewegen.

-Sexuelle Vielfalt ist im heutigen Feminismus ein wichtiges Thema. Wie ist dein Verhältnis dazu?

-Vielfalt ist, was uns wirklich bereichert. In dieser Welt sind die Lebensrealitäten oft sehr unterschiedlich, da ist es notwendig zu verstehen, dass wir keineswegs alle gleich sind und dass jeder Mensch die Freiheit hat, oder besser gesagt: haben sollte, zu entscheiden, wohin wir uns bewegen, mit wem wir zusammen sein wollen, wen wir lieben und wo wir hingehören. In diesen komplizierten Zeiten über die Liebe zu sprechen macht uns vielfältiger, und das mag ich sehr.

-Wie sind Frauen und Nonbinaries in der mexikanischen Popmusik vertreten?

-Wir werden immer mehr. Ich treffe immer mehr weibliche Kollegen, die unglaubliche Dinge tun. Es gibt immer mehr Räume, in denen über Vielfalt für alle diskutiert wird, und ich glaube trotzdem, dass wir noch einen langen Weg vor uns haben. Wir müssen weiterhin wichtige Themen in die Musik, in die sozialen und kulturellen Diskurse unserer Länder hineintragen, weil wir uns darüber wirklich miteinander verbinden. Uns verbindet der Kampf um gleiche Rechte für alle. Und dabei spielt auch Vielfalt eine Rolle. In Mexiko wird die Vielfalt in der regionalen Musik immer größer, und das begeistert mich natürlich sehr.

 „Canción sin miedo“ – Lied ohne Angst

Vor fünf Jahren wurde Vivir von der befreundete Sängerin Mont Laferte gebeten, bei einem Konzert auf dem Zócalo ein Lied über Frauenmorde zu singen. Sie hatte keins auf Lager, also komponierte sie eins. Am 7. März 2020 trat sie zum ersten Mal mit „Canción sin miedo“ auf. „Ich hätte nicht gedacht, dass es so bekannt werden würde. Überall werden Frauen ermordet, und der Schmerz verbindet viele Compañeras in ganz Lateinamerika“, erzählt Vivir Quintana. „Uns verbindet die Kraft und der Wunsch, etwas zu verändern, die Geschichten bekannt und die Gewalt sichtbar zu machen. „Canción sin miedo“ ist ein Lied, das seinen eigenen Weg gegangen und bekannt geworden ist, und das verdanken wir den kämpfenden Frauen überall auf der Welt. Ich fühle mich sehr geehrt, ja, das ist das richtige Wort. Aber wer weiß, vielleicht muss es ja schon nächstes Jahr nicht mehr gesungen werden.

Du hast „Canción sin miedo“ auch beim 8. März in Spanien gesungen, und du hast gehört, wie die anderen Frauen dein Lied singen. Wie war das?

-Oh, es war beeindruckend. Ich habe immer gesagt, dass ich den 8. März in Mexiko feiern will, aber ich musste in Madrid arbeiten. Ich kam in Kontakt mit den Tres M (Mujeres, Mariposas monarcas, Migrantes), das sind Migrantinnen aus Argentinien, Chile, Brasilien, Kolumbien, Peru, Panama und Mexiko. Mit ihnen zu demonstrieren war schon ziemlich toll. Am Ende haben wir dann noch das „Lied ohne Angst“ gesungen, und ich war für den Rest des Tages aufgewühlt und erschöpft, und ich habe auch ziemlich viel geweint.

-Wo siehst du dich in zehn Jahren?

-Ich denke, ich habe noch etliche Lieder in der Pipeline, und ich hoffe, dass meine Stimme mir noch viele Jahre erhalten bleibt. Ich stelle mir vor, dass ich vieles mit anderen Menschen teilen kann. Außerdem würde ich es toll finden, in zehn Jahren zu sehen, wohin die ganze Arbeit geführt hat, die ich jetzt leiste. Natürlich wünsche ich mir auch, dass es mir gelingt, das Bewusstsein der Menschen durch die Musik ein wenig zu verändern. Ich würde gern zu den Sänger*innen gehören, die in Erinnerung bleiben, denn Musik wird immer Musik sein, mit oder ohne Industrie. Ich sehe, dass Musik sich herumspricht, weitergegeben wird und über sich hinauswächst, und ich hoffe, dass das auch mit meiner Musik passiert. Ansonsten hätte ich gern noch zwei Katzen in unterschiedlichen Farben und wünsche mir, dass wir alle zusammen in einem Haus mit Garten leben.

 

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