Neue Literatur – Schreiben über das eigene Leben

(La Paz, 13. Dezember 2021, npla).- Die Klassiker der bolivianischen Literatur thematisieren große Kämpfe wie den Krieg gegen Paraguay und die Befreiungskämpfe gegen die Kolonialbesatzer, indigene Aufstände in den Anden und das raue Leben der Minenarbeiter. Die zunehmend jüngeren Autor*innen des 21. Jahrhunderts erzählen auch von Migration, Sexualität und Emanzipation, reflektieren Erlebnisse des eigenen Lebens, schreiben und dichten über ihre Gefühle. Welche gesellschaftlichen Veränderungen in Bolivien halten sie dabei fest? Und wie beeinflusst die Pandemie das Leben und die Arbeit dieser Autor*innen? Auf der internationalen Buchmesse in La Paz: Besucher*innen schlendern durch die Hallen von Chuquiago Marka, dem Messezentrum im Süden der Stadt. Es ist Frühling in Bolivien, die Menschen nutzen die Pause zwischen dritter und vierter COVID-Welle und gehen aus, zum Beispiel auf die Buchmesse, um Vorlesungen von Autor*innen zu hören oder um einen Roman oder ein Sachbuch zu kaufen. Die Auflagen von Büchern sind in Bolivien häufig sehr niedrig, deshalb sind Messen wie diese eine gute Gelegenheit, Klassiker zu finden oder Neuerscheinungen zu entdecken. Denn es gibt viele spannende Romane oder Bände mit Kurzgeschichten und Gedichten einer neuen Generation von Autor*innen in Bolivien.

„Vor allem in den letzten 15 Jahren gab es große Veränderungen“

Gabriel Mamani Magne sitzt im Parque Montículo, einem kleinen Park im Stadtteil Sopocachi mit atemberaubendem Blick über die Stadt, die sich unten im Tal und an den Hängen darüber ausbreitet. Sopocachi ist in La Paz der Stadtteil der Akademiker*innen, der Bohème und Kulturszene, mit riesigen Wandmalereien und schönen Cafés. „Die zeitgenössische Literatur in Bolivien entwickelt sich immer weiter, und vor allem in den vergangenen 15 Jahren hat es große Veränderungen gegeben. Die Autor*innen versuchen, sich von der Literatur des 20. Jahrhunderts abzugrenzen“, erzählt der mehrfach prämierte Schriftsteller. (…) „Heute ist die bolivianische Literatur sehr heterogen, durch die zahlreichen Publikationen von Autorinnen und auch thematisch. Eine Zeitlang waren diese Romane stark vom Intimismo geprägt: Die Schriftsteller*innen schrieben über sich selbst und ihren Alltag, über ihre ganz persönlichen Gefühle und Erlebnisse. Jetzt gibt es auch bolivianische Science Fiction oder sehr surreale Werke.“ Unterhalb des Parks liegt die Bibliothek, aus der sich Gabriel während des Studiums Bücher ausgeliehen hat, und manchmal hat er sie gleich hier unter den Bäumen im Park gelesen.

„Die Kindheit und die Zeit des Heranwachsens sind mir wichtig“

Gabriel Mamani, 1987 in La Paz geboren, wurde 2019 für seinen Roman „Seúl, São Paulo“ mit dem Premio Nacional de Novela, dem wohl wichtigsten Literaturpreis in Bolivien ausgezeichnet. „Seúl, São Paulo“, benannt nach den Städten in Südkorea und Brasilien, beschreibt das Erwachsenwerden von zwei Vettern in La Paz, die Migration aus Bolivien nach Brasilien und vieles mehr, was die Menschen hier prägt. Sein neuer Roman „El Rehén“ („Die Geiselnahme“) handelt von einem Familienvater, der die Entführung der eigenen Kinder vortäuscht, um mit dem Lösegeld seine Schulden begleichen zu können. „Ich habe „El Rehén“ geschrieben, weil mir die Zeit der Kindheit und des Heranwachsens sehr wichtig ist und alles, was dazu gehört: die Beziehung zu den Eltern und die Freundschaften, die Entdeckung des Bösen, der Machtverhältnisse und des eigenen Platzes in der Welt. Es scheint doch so, als ob viele große Fragen des Lebens, Fragen, die den Staat, Sexualität und Macht betreffen, Eigentum der Erwachsenen sind. Dabei haben Kinder schon mit zehn Jahren ein Bild davon, und es ist diese ursprüngliche Vision, die uns definitiv für eine lange Zeit prägt.“ Gabriel will sich zwar keiner Generation von jungen Schriftsteller*innen zuordnen, trotzdem ist er Teil der Gruppe von Autor*innen, die neue, andere Themen suchen als jene, von denen sie in der Schule gelesen haben. Die alle mehr oder weniger im selben Alter sind und sich irgendwie auch alle kennen. Und die doch so unterschiedlich sind und schreiben und dichten, weil sie aus unterschiedlichen Städten, gesellschaftlichen Kontexten stammen und in ihrem Leben ganz unterschiedliche Wege genommen haben.

Literarische Blogs und Verlagsinitiativen

Claudia Michel beschäftigt sich mit diesen jungen Künstler*innen und ihren Büchern schon seit mehreren Jahren, sie arbeitete selbst eine Zeitlang in einem alternativen Verlag in La Paz. Jetzt lebt sie in der Stadt Cochabamba, wo sie gemeinsam mit Roberto Oropeza den Literaturpodcast „Letra chica“, was so viel bedeutet wie „Kleingedrucktes“, produziert. „Der Einfluss von Internet und Social Media war für das Wachstum der heutigen bolivianischen Literatur von extrem großer Bedeutung. Vor zehn, fünfzehn Jahren entstanden zahlreiche Blogs von Autor*innen und Menschen, die sich für Literatur interessiert haben. Sie haben online Texte veröffentlicht und Bücher kommentiert. Daraus sind unabhängige Verlage entstanden, die sehr klein, aber sehr erfolgreich waren. Eine Gruppe von Autor*innen ist dann in die USA gegangen, um dort Literatur zu studieren, weil sie die wirtschaftlichen Möglichkeiten oder Stipendien hatten; sie wurden dort auf einem sehr hohen Niveau ausgebildet, haben Verlagsinitiativen in Bolivien gestartet oder diese mit ihren Werken unterstützt. Und eine andere wesentliche Gruppe ist geblieben, und die hat ebenfalls tiefe Spuren hinterlassen. Es gibt großartige Autor*innen, die erst jetzt entdeckt werden, ich würde da vor allem die literarische Bewegung in El Alto hervorheben.“

Die heutige Autor*innengeneration beschreibt auch eigene Erlebnisse

El Alto war vor vier Jahrzehnten ein vernachlässigter Stadtteil von La Paz, innerhalb einer Generation ist daraus eine eigene Millionenmetropole gewachsen, in der heute sogar mehr Menschen leben als in La Paz. Ein pulsierendes Zentrum der Extreme und voller Geschichten. Alexis Argüello, 1986 selbst in El Alto geboren, hat 17 Chroniken über seine Heimatstadt von verschiedenen Autor*innen zusammengebracht, im Band „No me jodas, no te jodo“, übersetzt etwa: „Verarschst du mich nicht, verarsch ich dich nicht“. Die Kurzgeschichten brechen mit den aufgezwungenen Stereotypen, erzählen unglaubliche oder glaubwürdige Ereignisse: von einem wahrhaftigen Pinguin, der auf dem schier endlosen Markt des 16. Juli auftauchte; aber auch vom „Masacre de Octubre“ von 2003, als bei Protesten gegen Gasexporte in El Alto 60 Menschen vom Militär getötet wurden. Es sind Beispiele, wie sich die Themen der Literatur in Bolivien ausweiten und verändern. Dazu Claudia Michel: „Frühere Generationen von Schriftsteller*innen waren tief im bolivianischen Leiden verwurzelt, in der Folklore, sie schrieben häufig über Bergbau und Minenarbeiter, über die indigenen Traditionen, ohne selbst je etwas davon erlebt zu haben, sie stammten ja aus der urbanen Mittelschicht, sie haben diese Themen fiktionalisiert. Da bedeutet der Intimismo jetzt einen Einschnitt, es wird über sehr persönliche und sehr menschliche Dinge geschrieben, auch über Diskriminierung und die Ungleichheiten, die leider immer noch sehr stark und spürbar sind in unserem Land.“

COVID-19: gesundheitliche Folgen und Instrumentalisierung

Jene Ungleichheiten der bolivianischen Gesellschaft haben sich seit dem Beginn der Pandemie noch weiter verstärkt. Das wenig ausgebaute staatliche Gesundheitssystem war schnell überlastet. Noch mehr Menschen als zuvor leiden noch stärker unter Arbeitslosigkeit oder Armut. Seine persönlichen Erfahrungen mit der Corona-Pandemie hat Schriftsteller Gabriel Mamani bisher nicht in seine Arbeit als Autor einfließen lassen. In unserem Gespräch hebt er neben den gesundheitlichen Folgen des Virus auch die politische Instrumentalisierung bereits existierender Vorurteile hervor: „Da ist der medizinische Aspekt, der sehr schmerzhaft für uns alle ist: Ich selbst hatte COVID, ich habe Menschen sterben sehen, und die Pandemie bringt sehr harte psychologische Nachwirkungen. Die andere Facette ist das Politische: Ich habe gesehen, wie die Pandemie in erschreckender Weise politisch genutzt wurde, nämlich indem Gruppen wie die Menschen aus El Alto als Überträger des Virus dämonisiert wurden, auch von der damaligen Übergangsregierung, und das verstärkte den historischen Rassismus Boliviens noch.“ Direkt im Anschluss an die gewalttätigen sozialen Unruhen Ende 2019 hatte die Pandemie das Land getroffen. Nach offiziellen Angaben sind bis Anfang Dezember 2021 bisher fast 20.000 Menschen an COVID gestorben. Auch der Zugang zu Bildung ist durch die Pandemie gefährdet; analog zur Schere zwischen Arm und Reich spricht Claudia Michel von der „digitalen Schere“ und hebt hervor: „Es gibt Kinder, die überhaupt keinen Zugang zum Internet haben. Stell Dir vor, du müsstest drei Kilometer laufen und einen Hügel erklimmen, nur um ein schwaches Internetsignal zu empfangen und halbwegs zu hören, was die Lehrerin oder der Lehrer sagt. Das ist so bedauerlich.“

Literarische Aufarbeitung der Pandemie

Covid-19 und der politische Umgang damit wirken sich seit fast zwei Jahren unaufhaltsam auf die sozialen Strukturen einer schon zuvor ungerechten Gesellschaft aus. Auf die eine oder andere Weise sind alle menschen davon betroffen. Claudia Michel ist sich sicher: Früher oder später werden die Autor*innen die neue bolivianische Literatur mit persönlichen Darstellungen der Ereignisse dieser Zeit bereichern. „Was die Literatur betrifft, gibt es ein paar Veröffentlichungen über die Pandemie, aber sie scheinen mir sehr übereilt zu sein. Ich bin da ganz der Meinung von Autor*innen, die sagen: Das Schwierigste ist, über die unmittelbare Vergangenheit zu schreiben. Man braucht erst einmal Zeit, um sich auszuruhen und das alles zu verarbeiten.“

Ein Audiobeitrag zu dem Thema ist hier zu finden.

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