(Berlin, 16. Dezember 2021, npla).- 100 Jahre nach der Geburt von Paulo Freire hat das Radio Matraca im September eine Onlineveranstaltung organisiert, um den brasilianischen Pädagogen zu ehren. Mit sieben Gästen wurden zwei zentrale Themenblöcke behandelt: Im ersten Teil diskutierten Professor*innen aus Brasilien über die konzeptuellen und epistemologischen Grundlagen der freirianischen Philosophie. Im zweiten Teil ging es um die Spuren, die Paulo Freire in Deutschland hinterlassen hat. Gäste aus Hamburg und Berlin sprachen insbesondere über die Arbeit von Ilse Schimpf-Herken. Die Freundin von Paulo Freire und Gründerin des Paulo-Freire-Instituts in Berlin war im Januar 2021 verstorben.
Um den katastrophalen Auswirkungen der Pandemie entgegenzuwirken, ist es gerade jetzt wichtig, Dialog und Annäherung zu suchen. Die Figur von Paulo Freire kann dabei helfen, auch unter den Einschränkungen eigene Erfahrungen mit wichtigen Konzepten zu verbinden. Während der Veranstaltung entwickelte sich ein transnationaler und multilingualer Dialog – eine unvergessliche Zeit für Teilnehmende und Zuschauer*innen.
Freires Pädagogik bringt „unumkehrbare Emanzipations- und Transformationsprozesse“
Im ersten Block kam zuerst Thiago Correa aus Brasilien zu Wort. “Der Kontakt mit dem Werk von Paulo Freire hat mein pädagogisches Denken augenscheindlich beeinflusst. Es hat einen unumkehrbaren Emanzpations- und Transformationsprozess vorangetrieben”, so der Professor. Correa brachte den Teilnehmenden die konzeptuellen Grundlagen der freirianischen Pädagogik näher: “Wenn wir über Paulo Freire sprechen, ist es sehr wichtig zu betrachten, welche Art der Erziehung Paulo Freire entwickelt. Was ist die Erziehung für Paulo Freire ? Einfach gesagt ist die Erziehung der konstante Prozess der Entstehung von Wissen und der Suche nach Transformation und Wiedererfindung der Realität durch Handlungen und menschliches Denken.”
Freire unterscheide dabei laut Correa zwei unterschiedliche Arten der Erziehung: Jene Art, die andere mit einschließt, und jene, die andere ausschließt. “Dabei ist die Erziehung für Freire kein Akt der Wissensübertragung oder -ablagerung wie bei einer Geldüberweisung”, meint Correa. “Sie ist stattdessen mit der Fähigkeit verbunden, die Welt zu lesen und sich darin wiederzuerkennen. Die Inhalte, die wir mit seiner [Freires] Perspektive lehren, sind nicht das Ziel des Lehrens und Lernens. Der Inhalt ist ein Medium mit dem Ziel, dass Jungen, Mädchen, Personen ein anderes Bewusstseinslevel erreichen. Es ist dieser Prozess, diese Bewegung, die mir zum Beispiel erlaubt, meine Realität zu transformieren.“
Natur, Gesellschaft, Kultur – die kritisch-transformatorische Umweltbildung nach Freire
Danach stellte die Professorin Juliana Rezende Torres die Strömung der kritisch-transformatorischen Umweltbildung vor – eine akademische Linie, die politische Lösungen auf eine der schlimmsten Krisen bietet, die unser Planet kennt. “Wir denken an eine Dreiecksbeziehung von Natur, Gesellschaft und Kultur”, erklärt Rezende Torres. “Freire hat uns mitgegeben, dass es möglich ist, eine neue Welt aufzubauen – ebenso wie die notwendigen und dringenden Transformationen des Soziokulturellen und der Natur.”
Die freirianische Pädagogik schreibe diese Dreiecksbeziehung als Grundlage der kritisch-transformatorischen Umweltbildung vor. Das zu erkennen, könne entscheidende Veränderung in Menschen hervorbringen, meint Rezende Torres: “Freire versteht es so: Wenn man in einem kritischen Sinn das Bewusstsein neuer Sichtweisen auf die Welt einnimmt, wenn man die Beziehung dieser befreienden Erziehung versteht, die als Medium für die Konstruktion eines kritischen Bewusstseins verstanden wird, wird man reagieren, um Situationen der Unterdrückung und sozialen Umgleichheit umzukehren.“
Ein Brief an Paulo Freire
Als letzter Redner im ersten Block trug Professor Rodrigo Barchi einen Brief an Paulo Freire vor. Er geht darin auf Freires “Pädagogik des Zorns mit Liebe” ein:
„Sorocaba, 23. September 2021, ein leiser Frühling in Glut und Flammen.
Lieber Paulo, ich grüße dich dort, wo du sein magst. Dieser Brief, den ich im Jahr 2021 im Alter von 44 Jahren schreibe, entsteht – und da übertreibe ich kaum – an der Schleuse der Hölle. In diesen Zeiten fällt es schwer, das Niveau an Chaos, in dem sich Brasilien befindet und das wir besonders in den vergangenen Jahren durchgemacht haben, zu verstehen. Die Androhungen von Militärputschen und der Verfolgung von Journalisten und Pädagogen. Eine brutale Wirtschaftskrise, die die Ärmsten, die an den Rand Gedrängten und Marginalisierten direkt trifft. Die Krise des Wassers und der Energie. Die Pandemie, der Stempel am Höhepunkt einer endlosen Sitzung von Strafe und Folter. Und als sei das nicht genug: eine schlechte Regierung, die sich in einem Land, das sich damals Brasilien nannte, weigert, das hundertjährige Jubiläum von Paulo auch nur zu erwähnen.
Es sind die gleichen Leute, die dich 1964 von hier vertrieben und klargemacht haben, dass sie das gleiche mit jenen machen wollen, die dein Erbe am Leben erhalten möchten. Vielleicht, Paulo, bin ich jedes Mal verzweifelter. Deswegen nutze ich all den Zorn der Punk-, Extreme Metal-, Black Metal- und Metaltrashbands, um mich am Leben zu halten. In ihren antifaschistischsten Versionen versuche ich, meine alltägliche pädagogische Praxis zu dem zu machen, was du Pädagogik der Empörung und des Zorns genannt hast. Ein gerechtfertigter Zorn, eine Rebellion gegen die Unterdrückung, ein Widerstand gegen jenen Versuch, an uns zu zerren, uns auszuschalten, uns einzuschüchtern und uns die Freiheit zu verbieten.
Es ist unmöglich, was mit den armen Marginalisierten gemacht wird, mit den Frauen, den Schwarzen, den Indigenen, den Bauern ohne Land, den Ribeirinhos, den Favelabewohnern, denen aus der Peripherie. Ebenso, wie man es mit den Vögeln macht, mit den Kaimanen, mit den Bäumen und mit den winzigsten Insekten. Dabei haben doch alle Wesen das gleiche Recht wie wir, diesen Planeten zu bewohnen und zu teilen.
Ich schwöre, Paulo: Wir wollen nicht, dass dein Zorn vergeblich war. Wir schlagen ihn immernoch als Ausgang, als Lösung für die Situation vor – nicht im gewalttätigen oder barbarischen Sinne, sondern auf nachdrückliche und feste Art und Weise: Das größtmögliche versuchen, um diese vielen Flammen aufzulösen, die diese Hölle uns aufzwingt. Es ist dein Jahrestag, lieber Paulo. Diese Worte sollen an dich erinnern, auf wütende und liebevolle Art und Weise… Rodrigo Barchi.“
Erinnerungen an Ilse Schimpf-Herken, die die freirianische Pädagogik nach Deutschland brachte
Im zweiten und letzten Themenblock wurde die Arbeit von Ilse Schimpf-Herken gewürdigt. Als Freundin Paulo Freires brachte sie seine transformatorische Pädagogik nach Deutschland, um sie in der Arbeit mit migrantischen Gruppen, Frauen und Kindern anzuwenden. Rita Trautmann vom Paulo-Freire-Institut Berlin erinnert sich: „Ilse hatte Paulo Freire 1971 in Mexiko kennengelernt. Sie war von seiner Persönlichkeit sehr beeindruckt, deswegen hat dieses Treffen ihr Leben gezeichnet. Sie nahm die freirianische Pädagogik mit nach Deutschland und förderte sie hier in Berlin mehr als 30 Jahre lang.”
In Berlin hat Ilse Schimpf-Herken das Paulo-Freire-Institut und den Paulo-Freire-Verein gegründet. „Sie hat ziemlich viele Projekte unterschiedlicher Art organisiert, mit unterschiedlichen Leuten aus unterschiedlichen Länden – aber immer auf Grundlage der Pädagogik von Freire. Im Laufe der Jahre hat Ilse eine eigene und einzigartige pädagogische Arbeitsweise entwickelt, die auf Freires Ideen basiert. Sie verband seine Arbeit mit dem historischen Gedächtnis: mit der biografischen Arbeit und den Erfahrungen politischer und traumatischer Gewalt. Mit alledem offenbarte sich ein pädagogischer Prozess, um Visionen für eine Zukunft in Frieden herzustellen”, erzählt Trautmann.
Freire und die Entwicklungszusammenarbeit
Joachim Schröder brachte in diesem Kontext das Thema Entwicklungszusammenarbeit auf den Tisch: „Für Freire hatte der Dialog immer eine internationale Dimension. Er hat über internationale antiadialogische Beziehungen geschrieben – und über die allgemeine Frage, wie die internationale Entwicklungszusammenarbeit sich auf kooperative Art und Weise organisieren kann. Auch für Ilse war das ein zentrales Problem in ihrer Arbeit. Sie hat viele Projekte auf den Weg gebracht, um Menschen aus Deutschland in Dialog und Solidarität mit Menschen aus anderen Ländern zu bringen.”
An eines dieser Projekte erinnerte sich Gladys Ayllón noch genau. So habe Ilse Schimpf-Herken im Jahr 2015, während der vermehrten Einwanderung nach Deutschland, zusammen mit anderen Vereinsmitgliedern darüber nachgedacht, wie man vor allem migrantische Kinder und Familien aufnehmen könne und eine sichere Umgebung weit weg von der Gewalt, aus der sie kamen, für sie schaffen könne. “Ilse schaffte also ein Projekt mit zwei Phasen: einen Prozess der Integration, damit die Kinder ein wenig Deutsch lernen können – aber nicht auf die traditionelle Weise der Erziehung, sondern mit Liedern, Zeichnungen und Theaterspielen. Damit die Kinder die Angst verlieren konnten, anfangen zu spielen, Sinn zu finden und Stück für Stück Deutsch lernen”, so Ayllón. Auch die Arbeit mit den Familien der Kinder war dabei wichtig. “In der zweiten Phase des Projektes lud sie also die Väter und Mütter der Familien zum Kennenlernen ein. Dabei beobachtete Ilse, dass viel weniger Frauen kamen und es stark von den Männern abhing, ob Frauen kamen – das lag an der Kultur des Mittleren Ostens. Da beschloss sie, ein Projekt nur für Frauen ins Leben zu rufen.”
Mariana Schmidt erinnerte sich an ein weiteres Projekt und stellte das Buch Desaprender para Transformar: encuentros, experiencias y reflexiones inspiradas en Paulo Freire („Verlernen, um zu verändern: Von Paulo Freire inspirierte Begegnungen, Erfahrungen und Reflektionen“) vor. “Wir haben damit im Jahr 2017 angefangen und es hat uns fast zwei Jahre gekostet. 50 Autoren und Autorinnen aus Lateinamerika und Deutschland versuchen darin, 20 Jahre des Dialogs, den Ilse eröffnet hat, zu sammeln”, erzählt Mariana Schmidt. Sehr unterschiedliche Menschen seien dabei zusammen gekommen. “Die Arbeit begeisterte uns wirklich sehr, verlangte uns aber auch viel ab. Freire hatte immer davon gesprochen, den Unterschied zwischen dem, was man sagt und dem, was man macht, zu verringern. Wir haben versucht, dem zu folgen. Schließlich haben wir das Buch. Es beginnt mit einem wirklich schönen Text von Ilse, den ich allen mehr als empfehle.”
Vom Radio Matraca gab es noch eine persönliche Anmerkung: „Danke, liebe Ilse für die Nachmittage mit Kaffee und guten Ratschlägen. Irgendwann werden wir uns wiedersehen.“ Dann ging die gut zweistündige Veranstaltung auch schon zu Ende. Angepasst an die neue Normalität, die uns die Pandemie auferlegt, wurde online ein transnationaler Dialog auf Portugiesisch, Spanisch und Deutsch eröffnet. In diesem Sinne lohnte es sich, nochmal auf Paulo Freire zurückzugreifen. Denn er hat eine politische Botschaft hinterlassen, die 100 Jahre nach seiner Geburt dringender ist als je zuvor: “Miteinander sprechen, um die Realität kennenzulernen und sie zu verändern: Abgelenkt werden wir gewinnen!”.
Übersetzung & Bearbeitung: Susanne Brust
Hier findet ihr eine Zusammenfassung der Veranstaltung als deutschen Audio-Beitrag.
Hier geht es zum spanischsprachigen Beitrag bei Radio Matraca, hier zur Aufzeichnung des Livestreams der Veranstaltung!
“Miteinander sprechen, Realität verändern” – 100 Jahre Paulo Freire von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
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