Evangelikaler Fundamentalismus auf dem Vormarsch

(Santiago de Chile, 24.09.2020, Prensaopal).- In diesen Zeiten stecken tief im christlichen Glauben verwurzelte Gruppierungen hinter dem Aufstieg Donald Trumps zum Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika, hinter dem Triumph des Militärs Jair Bolsonaro in Brasilien und hinter dem Staatsstreich, der Evo Morales zu Fall brachte.

Die Präsenz evangelikaler Gruppen unter den Drahtzieher*innen des Putsches gegen den bolivianischen Expräsidenten Evo Morales geht über dieses spezifische Ereignis hinaus und kann als politisches Phänomen auf dem gesamten amerikanischen Kontinent gesehen werden: Es handelt sich um eine konservative Kraft, die in die Politik in Amerika eindringt. Als solche wird sie von Ariel Goldstein in seinem kürzlich in Argentinien veröffentlichten Essay „Poder Evangélico“ (Evangelische Macht) beschrieben.

Für den jungen argentinischen Forscher der Fakultät für Sozialwissenschaften der Universität von Buenos Aires (UBA) besteht das Problem darin, dass diese Akteure in die Politik „religiöse Kategorien des absolut Guten und Bösen“ einführen, in denen der Gegner ausgerottet werden muss. Am Ende führe dies laut Goldstein zur Beschädigung des politischen und sozialen Zusammenlebens, denn: „Wenn der Gegner mit dem Teufel identifiziert wird und die Machthabenden ihre Aufgabe als göttliche Mission zu verstehen geben, steigt die Gefahr eines autoritären Abdriftens. Und so ist das demokratische Zusammenleben auf Grundlage der Wertschätzung von Pluralität in Gefahr.“

Warum haben Evangelikale so viel politische Macht gewonnen?

In diesem Zusammenhang fragt sich Goldstein: Warum haben Evangelikale in den letzten Jahrzehnten so viel politische Macht gewonnen? Er begründet dies unter anderem mit ihrer wachsenden sozialen Legitimität durch ihre territoriale Arbeit in verletzlichen Gesellschaftsbereichen und darüber hinaus mit einem Prozess der wirtschaftlichen Bereicherung, der es ihnen ermöglicht, ihre eigenen Medien und Kommunikationskanäle aufzubauen.

Verbindungen sowohl mit der Rechten als auch mit der reformistischen Linken

Wahrscheinlich ist es für viele besonders beunruhigend, dass diese evangelikalen Gruppen nicht nur in der Lage sind, sich mit rechten Politiker*innen aufgrund einer ideologischen Gemeinsamkeit zu verbünden, sondern auch mit Vertreter*innen der reformistischen Linken, wie im Fall von Nicolás Maduro in Venezuela oder Andrés Manuel López Obrador in Mexiko. Nach der Ansicht des Forschers zeigt dies den Pragmatismus der Evangelikalen, wenn es darum geht, Einfluss auf die politische Entscheidungsfindung zu erlangen.

Das Buch „Poder Evangélico“ gibt einen Überblick über den Werdegang und die aktuelle Ausbreitung dieser Religionsgemeinschaft auf dem Kontinent, die durch eine gemeinsame Agenda zusammengehalten wird und von lateinamerikanischen „Pastoren“ geleitet wird, die in einigen Fällen in den USA ausgebildet wurden oder von dort aus predigen.

Autor Goldstein stellt jedoch klar, dass wir uns nicht auf die Idee einer internationalen Verschwörung versteifen sollten, denn das würde diesem Prozess nicht gerecht. „Es ist offensichtlich“, betont er, „dass es eine gemeinsame und sehr gut organisierte Strategie gibt, die sich durch ihre Flexibilität auszeichnet und es evangelikalen Kräften erlaubt, sich an alle Arten von sozialen und politischen Systemen anzupassen, vom Zweiparteiensystem der USA bis zum Mehrparteiensystem in Brasilien.“

Politik und Religion – zwei Seiten einer Medaille?

Der Boom dieser evangelikalen Glaubensgemeinschaften auf dem amerikanischen Kontinent mag aus europäischer Perspektive von einer politischen Realität weit entfernt erscheinen, die sich selbst als „rationales Projekt“ darstellt, das auf einer klaren Trennung zwischen Politik und Religion beruht und bei dem Religion klar auf das Private beschränkt ist. In der Realität jedoch schreitet die Religion auch in Europa als Ausdruck eines sozialen Konfliktes voran. Man braucht sich nur die politische Theologie der bekanntesten rechtsextremen Parteien in Europa anzusehen.

Auch ohne den mythologischen Hintergrund unserer globalisierten Kultur zu verstehen, der durch das Christliche bestimmt ist, wird es uns nicht möglich sein, dieser Realität mit einem so engen Politikverständnis zu begegnen. Nicht zufällig verkündete der marxistische französische Philosoph Daniel Bensaïd, dass die Gegenwart wieder in den „Nebel des Heiligen“ gefallen sei und in den „Schoß der Theologie“ zurückkehre. Eine Idee, die zweifellos mit dem übereinstimmt, was Marx bereits dachte: Der Staat hat „christliche Voraussetzungen“. Das muss man sich sehr klar vor Augen halten.

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Eine Antwort zu “Evangelikaler Fundamentalismus auf dem Vormarsch”

  1. 1. Man kann nicht über das Fortschreiten evangelikaler Gruppierungen in LA schreiben, ohne sie ins Verhältnis zur katholischen Kirche zu setzen. Die Zurückdrängung der Befreiungstheologie unter Johannes Paul II. nahm vielen, besonders armen Menschen, ihr spirituelles zuhause. Diese Lücke wird von evangelikalen Kirchen ausgefüllt. Die katholische Kirche hat insgesamt an Glaubwürdigkeit verloren – zurecht.
    2. Nicht alle evangelikalen Gruppen sind rechts, auch wenn die Mehrheit fundamentalistisch christlich ist. Es ist zu simpel sie alle gleichzusetzen. Die meisten Gruppen sind durchaus fatal.
    3. Analysiert mal gut, ob es sich in Bolivien um einen Staatsstreich handelte oder nicht. Es tut mir leid, aber der edle indigene ist nicht so edel, wie viele Leute ihn wahrnehmen möchten. Es war Wahlbetrug, der ein Comeback der rassisitischen Rechten ermöglichte.
    4. Nach eurem Artikel unterstützen die evangelikalen Kirchen rechte und reformistische Linke. Wie schätzt ihr den evangelikal-esoterischen Diskurs der nicaraguanischen Diktatur ein?

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