Von Gerold Schmidt
Mexiko-Stadt, 23. August 2016, npl).- Interview mit dem mexikanischen Autor, Journalisten, Leitartikler der Tageszeitung La Jornada und Gewerkschafter Luis Hernández Navarro über den Kampf der Lehrergewerkschaft CNTE gegen die mexikanische Bildungsreform, die Repression und das Konzept der pädagogischen Hochschulen „Normales“.
Warum wird die mexikanische Bildungsreform der Situation im Land nicht gerecht?
Mexiko hat große Probleme im Bildungssektor. Ich möchte sie kurz aufzählen. Erstens: Mehr als fünf Millionen Menschen zwischen 15 und 65 Jahren können weder lesen noch schreiben. Das bedeute eine extrem hohe Analphabetenrate. Die wahre Zahl ist wahrscheinlich viel höher, aber die genannte Zahl ist die offiziell anerkannte. Zweitens: 40 Prozent der Erwachsenen, das heißt der Personen älter als 15 Jahre, haben keine weiterführende Schulbildung nach der Grundschule abgeschlossen, obwohl diese nach Artikel 3 der Verfassung zur Grundbildung gehört. Das stellt ein extremes Bildungsdefizit dar. Drittens: Jedes Jahr bricht eine große Zahl Schüler die Schulausbildung ab.
Keines dieser Probleme wird mit der Reform angegangen. Ebensowenig ein Problem, das alle anderen umfasst: die fehlende soziale Gerechtigkeit, die totale Ungleichheit im Bildungssystem. Die überwältigende Mehrheit der Mittel wird den Schulen gewidmet, die sich in den reichsten Teilen des Landes befinden. 43 Prozent der Schulen Mexikos sind jahrgangsübergreifende Schulen. Was bedeutet das? Es bedeutet, dass ein einziger Lehrer im selben Klassenzimmer gleichzeitig Kinder der Klassenstufen eins bis drei bzw. vier bis sechs betreuen muss. Und das sind die Schulen, die die wenigsten Mittel zugewiesen bekommen.
Diese jahrgangsübergreifenden Schulen befinden sich in den ärmsten Teilen des Landes. Ihnen fehlt eine angemessene Ausstattung. Die Fußböden sind aus Lehm, die Dächer aus Wellblech. Viele haben keinen Strom, kein Trinkwasser. Die Kinder kommen in die Schulen, nachdem sie oftmals viele Stunden gelaufen sind, und ohne etwas im Magen zu haben. In der Regel schickt man in diese Schulen die schlechteren Lehrer, oder die, die entweder gerade ihren Schuldienst beginnen oder keine Beförderung mehr zu erwarten haben. Das sind die real existierenden Probleme und diese Probleme werden mit der Reform nicht angegangen.
Theoretisch versucht diese Reform, sich zwei Herausforderungen zu stellen. Zum einen der Wiedererlangung der staatlichen Kontrolle über den Schulsektor, der sich nach Ansicht der Regierung in den Händen der Gewerkschaft befindet. Zum anderen der Verbesserung der Bildungsqualität. Wenn es allerdings darum geht, zu definieren, was die Qualität der Bildung ist, werden widersprüchliche und sehr heuchlerische Antworten gegeben. Kurz: Die Reform gibt keine Antwort auf die tatsächlichen, tiefgehenden Probleme im mexikanischen Bildungssektor.
Du erwähnst die Wiedererlangung der staatlichen Kontrolle als ein Argument. Für viele ist die Reform aber ein weiterer Schritt Richtung Privatisierung des Bildungssektors. Wie stehst Du dazu?
So ist es. Auf der einen Seite ist es eine Reform, welche dem Diktat der mexikanischen Unternehmerverbände folgt. Den rechten Unternehmerkreisen, die eine für sie maßgeschneiderte und so auch umgesetzte Reform gefordert haben. Weiterhin haben Institutionen wie die OECD, die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, eine Reihe von allgemeinen Empfehlungen formuliert, die Bestandteil der Reform geworden sind. Das heißt: Diese Reform ist weit davon entfernt, dem Staat zu erlauben, die Kontrolle über den Bildungsprozess zu übernehmen. Sie dereguliert, um den Marktkräften eine viel umfassendere Beteiligung zu eröffnen. Tatsächlich macht diese Reform die Tür für eine Privatisierung des Bildungssektors auf. Sie schafft die Voraussetzungen – das ist zwar noch nicht verabschiedet, aber als nächster Schritt geplant – für die Genehmigung sogenannter Vertrags(hoch)schulen. In diesem Kontext sind Mittel von fast 100 Millionen Dollar für die Privatwirtschaft zur Ausbildung von Lehrern vorgesehen. Dies gibt der Privatwirtschaft nicht nur die Möglichkeit, die Lehrer weiterzubilden sondern in ihrem Sinne zu formen. Mit dem Argument, den Schulen mehr Selbstständigkeit zu gewähren, soll den Eltern zudem die Verantwortung das Funktionieren der Schulen übertragen werden.
Viele sehen in der vorgeblichen Bildungsreform eher eine Arbeitsrechtsreform. Eine Reform, die direkt auf die Rechte der Lehrer zielt.
Exakt. Die Reform dreht die Uhr bezüglich der Errungenschaften der Arbeitsrechte um 50 Jahre zurück. Warum rede ich von 50 Jahren? Vor etwas mehr als 50 Jahren wurde eine Sondergesetzgebung für Staatsangestellte verabschiedet. Sie konkretisierte den Abschnitt B des Verfassungsartikels 123 der Verfassung und schrieb eine Reihe von Rechten fest. Das Recht auf Arbeitsplatzsicherheit, auf Unersetzbarkeit, usw. Heute sind alle diese Rechte null und nichtig. Die Reform kündigt in der Realität einen Pakt auf. Einen Pakt zwischen dem Staat und den Lehrern, in dem die Lehrer sich verpflichteten, die Aufgabe der öffentlichen Bildung wahrzunehmen, welche der Verfassungsartikel 3 als Aufgabe des Staates bestimmt. Im Gegenzug gab der Staat eine Arbeitsplatzgarantie. Diese Arbeitsplatzsicherheit ist heute in Frage gestellt. Über die Köpfe der Lehrer wurde ein Damoklesschwert gehängt. Die Lehrer haben ihren Job nur noch auf Probe, können entlassen werden. Auf diese Weise ändert sich der Lehrerberuf von einer Staatsanstellung zu einem freien, oder fast freien Beruf. Parallel dazu verschwindet das Merkmal der Bilateralität im Verhältnis von Lehrern und Staat, in dessen Kontext die Arbeitsbedingungen ausgehandelt wurden. Sie wird durch Unilateralität ersetzt.
Ein großes Thema ist die Evaluierung der Lehrer. Es gibt Stimmen, die sagen, eine Evaluierung ist nicht per se schlecht. Doch die Lehrer sagen, unter diesen Bedingungen nicht. Warum so viel Widerstand?
Die Lehrer verweigern sich einer Evaluierung nicht. Sie werden während ihres ganzen Lebens bewertet. Sie werden geprüft, um das Lehramtsstudium aufnehmen zu können. Sie werden während und am Ende ihres Studiums geprüft. Einmal im Dienst, werden diejenigen, die die feste Lehrerlaufbahn einschlagen, jedes Jahr evaluiert. Die Mär, dass sich die Lehrer einer Überprüfung widersetzen, ist daher nicht wahr. Wogegen wenden sich die Lehrer? Sie wehren sich gegen die Einführung einer bestrafenden Evaluierung. Einer Evaluierung die anstatt das Gute ihrer Arbeit hervorzuheben und Lösungen für die Defizite zu suchen, das Hauptaugenmerk auf Sanktionen legt und ihnen die Arbeitsplatzsicherheit nimmt. Sie lehnen ein standardisiertes Multiple-Choice-Verfahren ab, das weder die kulturelle und sozioökonomische Diversität des Landes noch die Einschätzung der Kollegen und die Arbeit, die sie im Klassenraum leisten, berücksichtigt. Sie wollen keine Prüfung, die in vielen Fällen nichts mit ihrer Arbeitsrealität zu tun hat.
Das mexikanische Konzept der sogenannten „Normales“ und „Normales Rurales“, der pädagogischen Hochschulen in Stadt und Land, ist für Außenstehende manchmal etwas schwer verständlich. Kannst Du es erläutern?
Das Konzept des „Normalismo“ ist eine Bildungsdoktrin, die Ende des 19. Jahrhunderts, also noch vor der mexikanischen Revolution, im Land ankommt. Es handelt sich um ein von Frankreich übernommenes Erbe. Dort entstand das Konzept der „Normales“ während der französischen Revolution mit dem Gedanken, die Revolution solle den „neuen Menschen“ formen. Dies sollte über das Schulsystem geschehen, unter bestimmten Vorgaben, einem „Normenbündel“. Daher kommt der Begriff. Die „Normales“ weiteten sich aus und haben eine lebendige Geschichte. Heute versucht man, sie abzuschaffen.
Seit den 1920-er Jahren entstanden „Normales Rurales“. Dort sollen Lehrer ausgebildet werden, die den speziellen Anforderungen der ländlichen Regionen gerecht werden können. Diese Lehrerschulen greifen die zwei großen Forderungen der mexikanischen Revolution auf: freie, kostenlose, weltliche und obligatorische Bildung für alle sowie die Agrarreform. Die Landlehrer brachten sich entsprechend ein bei der Landverteilung und später bei der Bewirtschaftung. Aber seit Jahren gibt es eine Offensive gegen die „Normales Rurales“. Einige dieser Ausbildungsstätten sind geschlossen worden. Bei anderen wurde versucht, den Lehrplan zu homogenisieren, um die Unterschiede zu den städtischen „Normales“ oder ähnlichen Einrichtungen einzuebnen.
Die „Normales Rurales“ sind Schulen von Armen für Arme. Sie sind immer als Internat konzipiert, so dass die Studenten nicht nur in den Genuss einer kostenlosen Ausbildung kommen, sondern ihnen auch Unterkunft, Verköstigung und der Zugang zu Büchern usw. geboten wird. In der Regel studieren dort Menschen mit geringem Einkommen, mehrheitlich Kinder von Kleinbauern. Nach dem Abschluss ihres Studiums haben sie die Mission, andere Menschen bäuerlicher Herkunft zu unterrichten. Wie ich im Zusammenhang mit den jahrgangsübergreifenden Schulen erläutert habe, befinden sich 40 Prozent von ihnen im ländlichen Raum. Dorthin müssten diese Lehrer gehen. Aber jetzt versucht man diese Ausbildungsschulen abzuschaffen. Es gibt eine Offensive gegen die „Normales“ im allgemeinen und gegen die „Normales Rurales“ im Besonderen. Diese Offensive wird mit der Bildungsreform noch verstärkt.
Der Widerstand der Lehrer ist besonders stark in Bundesstaaten wie Chiapas und Oaxaca, in Bundesstaaten mit viel Landbevölkerung. Vielfach gibt es Unterstützung der Schuleltern. Welche Rolle spielt die Figur des Lehrers auf dem Land, in indigenen und kleinbäuerlichen Gemeinden?
Die Lehrer sind in Landgemeinden und Armenvierteln so etwas wie die institutionellen Intellektuellen. Sie sind die Gelehrten. Sie sind in der Lage, Dokumente zu verfassen, welche die Menschen hin und wieder für Behördengänge benötigen. Sind die Lehrer zweisprachig, können sie übersetzen, eine Sprecherrolle einnehmen, mit dem zuständigen Behördenvertreter verhandeln. Darüber hinaus schieben sie Initiativen an: zur Einhaltung der Hygiene, Respekt der Menschenrechte, gegen den religiösen Fanatismus, Erste-Hilfe-Kurse. Deshalb legen die Gemeinden ihr ganzes Vertrauen in die Lehrer. In vielen Orten ist der Lehrer so wichtig wie der Pfarrer. Das erklärt die enorme Unterstützung für die Lehrer in ihrem Kampf gegen die Reform durch Gemeinden in Bundesstaaten wie Chiapas oder Oaxaca. Denn die Reform stellt diese umfassende Arbeit der Lehrer infrage.
Welches sind die Hauptforderungen der Lehrer und Lehrerinnen in diesem Konflikt?
Sie haben zwei allgemeine Hauptforderungen. Erstens: Verteidigung der öffentlichen Bildung, die heute durch die Reform, die Privatisierungskräfte und rechte Unternehmerkreise gefährdet ist. Zweitens: Die Aufhebung der Bildungsreform. Das ist eine politische Forderung. Das bedeutet, dass zumindest die am meisten strafenden und verletzenden Aspekte des Gesetzespakets geändert werden müssten, damit die Lehrer ihrer Aufgabe unter den bestmöglichen Bedingungen nachkommen können.
Es hat Vorfälle gegeben, wo Einheiten der Bundespolizei trotz einer Vielzahl von Morden aus Narco-Hochburgen wie Iguala und Taxco im Bundesstaat Guerrero abgezogen worden, um – so wurde zumindest gemutmaßt – in Chiapas und Oaxaca die Lehrer zu unterdrücken. Welche Lösungen und Verhandlungsmöglichkeiten sind in der angespannten Situation denkbar?
Im Juli gab es das Paradox, dass einerseits die gewaltsamen Tode im ganzen Land enorm anstiegen, eine intensivierte Gewalt zu verzeichnen war. Gleichzeitig aber wurde die Bundespolizei wie schon in vorherigen Monaten anstatt gegen das organisierte Verbrechen zur Unterdrückung der Lehrer und ihrer Proteste eingesetzt. Diese Tendenz wird sich vermutlich fortsetzen. Es hat einen ganz zähen Dialog zwischen der Regierung und den demokratischen Lehrern gegeben. Wichtige Kräfte innerhalb der Regierung haben auf ein Scheitern und die Repression gesetzt. Die Lehrer haben begleitet von den Schuleltern eine große Standhaftigkeit gezeigt, aber auch die Bereitschaft zu einer verhandelten Lösung. Hoffentlich setzt sich der Weg der Einigung gegenüber dem Weg der Repression durch.
Eine Repression, die bisher drei Lehrern das Leben gekostet hat: Claudio Castillo in Guerrero, ermordet durch die Polizei. Daniel Ruiz in Chiapas, ermordet durch die Polizei und Antonio Vivar in der Region La Montaña in Guerrero, ebenfalls ermordet durch die Polizei. Hunderte Lehrer wurden geschlagen, vierzig verhaftet, acht wieder freigelassen. Es gibt mehr als 60 Haftbefehle gegen Lehrer und wir reden von 3.600 Entlassenen. Theoretisch wird ihre Wiedereinstellung verhandelt. Der Saldo der Gewalt gegen die Lehrer ist heftig, schrecklich. Hoffentlich können die Verhandlungen das wieder ins Lot bringen.
Du hast von den „demokratischen“ Lehrern gesprochen. Kannst Du bitte den für Außenstehende etwas komplizierten Unterschied zwischen der Nationalen Lehrergewerkschaft SNTE und der Nationalen Lehrerkoordination CNTE sowie das Kräfteverhältnis erklären?
Das öffentliche Schulsystem in Mexiko ist breit gefächert und umfasst etwa 1,3 Millionen Lehrer. Formal gesehen ist die Bildung eine Aufgabe der Bundesstaaten. Doch mit der Reform gibt es wieder eine Zentralisierungstendenz. Die überwältigende Mehrheit der Lehrer gehört der 1943 gegründeten Nationalen Gewerkschaft der Bildungsbeschäftigten, der SNTE an. Die SNTE wurde durch eine sehr gewalttätige und korrupte Führungsriege vereinnahmt, die stets der Regierungspartei PRI ganz nahe stand. Ab 1979 entwickelte sich eine Strömung innerhalb der Gewerkschaft welche anstrebte, die SNTE selbst, das Bildungssystem und das ganze Land zu demokratisieren. Und diese Strömung nennt sich Nationale Koordination der Bildungsbeschäftigten. Also gibt es einmal die SNTE mit „S“ und einmal die CNTE mit „C“. Beide sind Teil der Gewerkschaft, der eine Teil ist der institutionelle, der andere der dissidente.
Die dissidenten Lehrer, die für die Demokratisierung eintreten, stellen die Mehrheit in den südlichen, vorwiegend indigenen Bundesstaaten, wie Chiapas, Oaxaca, Guerrero, auch beispielsweise auch in Michoacán. Sie sind im ganzen Land aktiv, haben aber in den genannten Bundesstaaten ihre stärksten Kräfte. Mindestens um die vierhunderttausend Lehrer sind Mitglieder der CNTE mit „C“. Es ist eine Kraft, die mobilisiert, die sich zeitweise zurückzieht, aber seit dem Jahr 1979 ohne Unterbrechung aktiv ist.
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