(Buenos Aires, 11. Juli 2021, Agencia Paco Urondo).- Anahí Pérez Pavez ist Schriftstellerin, Journalistin und Autorin des Buches Tango y feminismo (erschienen bei Tinta Roja Ediciones del Sur Siglo XXI). Im Gespräch mit APU berichtet sie unter anderem über den queeren Tango, der das historisch binäre Geschlechtermodell und die traditionellen Strukturen des Tangos in Frage stellt.
Pérez Pavez spricht über die Formen des Widerstands, die Frauen im Laufe der Zeit genutzt haben, um sich in einer machistischen Gesellschaft sichtbar zu machen und anerkannt zu werden. Im Interview erzählt die Autorin auch von ihrer Vorbildfigur, der Schauspielerin, Sängerin und Tänzerin Tita Merello und darüber, was die feministische Bewegung Ni Una Menos für die Tango-Welt bedeutet.
Agencia Paco Urondo: Wie kamen Sie auf die Idee, das Buch Tango y Feminismo zu schreiben? Der Titel liest sich wie ein Widerspruch…
Anahí Pérez Pavez: Mein neues Buch hat mit dem aktuellen Zeitgeist zu tun. Und es wäre ohne den Beitrag der Aktiven in der Tangoszene nicht möglich gewesen. Ich habe für diese Arbeit einige der feministischen Workshops und Aktivitäten im Tango, an denen ich teilgenommen habe, transkribiert. Dem habe ich einen Aufsatz hinzugefügt, der ausführlich analysiert, warum wir heute über Tango und Feminismus zusammen sprechen können und warum das eben kein Widerspruch ist.
Was wollten Sie mit Ihrem neuen Werk aussagen?
Mit Tango y Feminismo habe ich versucht, mich auf neuere Perspektiven, wie es die queere ist, zu fokussieren. Es geht darum, Menschen mit unterschiedlichen Geschlechtsidentitäten ins Auge nehmen und um die Frage, wie diese den Tanz aus einer feministischen Position aus praktizieren. Ich denke, dass daran etwas neu ist. Und das wollte ich dokumentieren, damit in Zukunft jeder, der wissen will, was sich in den letzten Jahren zwischen Tango und Frauen getan hat, Informationen darüber bekommt.
Wieso entschieden Sie sich für einen Intellektuellen wie Gustavo Varela, um den Klappentext des Buches zu verfassen?
Gustavo Varela ist unter anderem akademischer Leiter des Postgraduiertenkurses zur sozialen und politischen Geschichte des argentinischen Tangos an der Lateinamerikanischen Fakultät für Sozialwissenschaften (FLACSO). Gleichzeitig betreut er auch meine Diplomarbeit in Kommunikationswissenschaft. Deshalb und, weil er ausgewiesener Experte in diesem Bereich ist, wollte ich seine Stimme in meiner Arbeit haben. Ich erinnere mich, dass er einmal zu mir sagte: „Ich bin altmodisch, aber für mich ist das total neu“. Denn obwohl Gustavo ein Experte ist und viel über queeren Tango weiß, gibt es dennoch Stimmen, die er gar nicht kannte oder noch nicht gehört hatte.
Tanzen Sie selbst gerne Tango?
Auf jeden Fall! Ich bin seit über zehn Jahren als Amateurtänzerin in der Tango-Szene aktiv. Als ich anfing, in die Milongas (Clubs, in denen Tango getanzt wird, Anm. d. Red.) zu gehen, studierte ich Publizistik an der Universität. Das Wissen, das ich mir im Studium aneignete, weckte gemeinsam mit jener allseits bekannten Unruhe auch in mir Widersprüche. Denn ich erinnere mich, dass ich an der Universität begann, mich mit Genderfragen zu beschäftigen. Dadurch wurde mir auch bewusster, dass die Vorstellung eines binären Geschlechts den ganzen Tango durchzieht, selbst in den grundlegenden Rollenkonzepten. Es wird ein Stereotyp festgelegt: Der Mann führt und die Frau wird stets geführt. Auf der anderen Seite hatte ich das Gefühl, dass ich einen Raum gefunden hatte, in dem ich Leidenschaft, Herzlichkeit und Zuneigung zeigen konnte. Denn oft ist es so, dass man sich bei der intellektuellen Arbeit entfremdet und den Körper vergisst. Deshalb sage ich, dass der Tango mich irgendwie dazu brachte, mich wieder mit mir selbst zu identifizieren und eine neue Beziehung zu meinem Körper und folglich auch zu dem anderer herzustellen.
An welchem Punkt wurden Sie sich der Zusammenhänge und Codes bewusst, die Teil der Milonga als Raum sind, in dem sich patriarchale Machtverhältnisse so deutlich niederschlagen?
Ich war sehr jung, als ich anfing, in die Milongas zu gehen. Damals tanzen wir als eine Gruppe von Freundinnen normalerweise mit Männern verschiedener Generationen. Und wir waren überrascht über die Macho-Attitüden, die uns gleichzeitig zum Nachdenken anregten. Ich begann, das Umfeld des Tangos genauer zu studieren, den Tanzboden, wie er verteilt war, was mit der Musik geschah, welche Rolle der Cabeceo (die gegenseitige Einladung und Aufforderung zum Tanzen mittels Augenkontakt, Anm. d. Red.) hatte und warum ich warten musste, um angesprochen zu werden. All diese Dinge, die in der Milonga vorkommen und die für mich bedeutend waren. Mit der Zeit stellte ich dann fest, dass ich mir diese Fragen schon einmal gestellt hatte, und zwar bei der Arbeit an meinem fiktiven Roman über die Tangoszene namens Formosa (2019). Damals hatte ich entdeckt, dass es eine ganze Reihe von Autoren gibt, die über das Tango-Genre im Allgemeinen, Lyrik, Lunfardo, mit einer historiographischen Absicht und auch Studien über den Tanz selbst geschrieben haben. Das Neueste ist das Kapitel über den queeren Tango, den ich in meinem jüngsten Buch als Bestandteil der feministischen Strömung betrachte.
Die Sprechrolle im Tango war schon immer fest in Männerhand. Die Frau wird zu einem Lustobjekt und zur Quelle allen Übels reduziert…
Genau, unsere feministische Perspektive ist relativ neu. Denn es waren immer die Männer, die den Tango beschrieben. Und obwohl es einige Texte gibt, die von Frauen verfasst wurden, kommt die Erzählstimme immer aus einer patriarchalen Haltung. Wie Sie schon richtig sagten, sah man Frauen immer als Objekte der Begierde, als launenhaft oder flüchtig. Es gab keine erzählende Stimme von und mit den Empfindungen einer Frau. Hinzu kommt, dass in der Tango-Lyrik Frauen als Urheberinnen fehlen, sie tauchen als Tote auf, ohne dass man von Femizid spricht. Also haben wir uns gesagt: „Warum fangen wir nicht an, selbst etwas zu schreiben?“
Was wissen Sie über die ersten Tango-Frauen, die es geschafft hatten, eine gewisse Berühmtheit zu erlangen, zum Beispiel über Tita Merello, Eladia Blázquez und Ada Falcón?
Tita Merello, Eladia Blázquez und Ada Falcón sind große Persönlichkeiten des Tangos, die ich wegen der Relevanz ihrer Arbeit sehr bewundere. Außerdem habe ich gegrübelt, wie sie sich in ihrer Zeit selbst darstellten, und das hat bei mir gewisse Fragen aufgeworfen. Während der Recherchen für das Buch konnte ich ein Interview lesen, das Victoria Ocampo, eine liberal-feministische Intellektuelle, die wegen der von ihr herausgegebenen Zeitschrift Sur aber sehr unbeliebt war, in den 1970er Jahren mit Tita Merello führte. Sie bat sie um ihre Meinung in Genderfragen. Eine der Fragen betraf das Thema Abtreibung, worauf Tita antwortete, dass sie ausdrücklich damit einverstanden sei, dass Frauen über ihren eigenen Körper entscheiden sollten. Eine sehr starke Aussage, wie ich fand. Die Aussage wurde damals nicht weiter verbreitet und die Publikation hatte nur eine sehr kleine Leserschaft.
Besonders bei Tita Merello fiel mir immer die Maskulinisierung auf, die man bei ihr sehen konnte. Die Art, wie sie sprach und rauchte, zum Beispiel.
Das ist eine Widerstandsform, die wir Frauen oft einsetzen mussten. Das Maskuline war im Tango immer sehr präsent. Deshalb pflegten die ersten Tangueras, sich als Männer zu verkleiden oder a lo macho zu singen. Tatsächlich habe ich in einem Dokumentarfilm über das Leben von Chavela Vargas gelernt, dass auch sie sich anfangs als Mann verkleiden musste, um auf mexikanischen Bühnen auftreten zu können.
Hinter der Maskulinisierung steckte auch die Idee, darauf zu reagieren, dass Frauen auf ihre Rolle als Sexualobjekte reduziert wurden, meinen Sie nicht auch?
Frauen wurden schon immer sexualisiert. Wenn eine Frau etwas machen will, steht nämlich immer zuerst die sexuelle Frage im Raum. Außerdem muss man anscheinend immer heiß aussehen und einem Stereotyp entsprechen. Das ist auch der Grund, weshalb sich Tango y Feminismo sehr auf Tangotänzerinnen konzentriert. Denn die Frauen, die früher in der Tangoszene tanzten, wurden genau wie die Schauspielerinnen von weiten Teilen der Gesellschaft als Huren betrachtet. Wir konnten das Tanzen nicht genießen. Wenn wir uns gerne bewegten oder mit den Hüften wippten, waren wir dem Sex ausgeliefert. Wir konnten nicht zum Spaß tanzen. Es wurde angenommen, dass wir es nur machten, um dem anderem Lust zu bereiten oder weil wir die Männer verführen wollten. Das sind alles falsche Vorstellungen. Zum Glück schaffen wir es, sie allmählich abzubauen.
Sie nannten die Maskulinisierung vieler Frauen eine der Widerstandsformen gegen das Patriarchat. Was wäre eine weitere?
Zum Beispiel kann man in der Musik am Anfang ein Groupie sein und schließlich die Frau eines mächtigen Mannes werden. Und sich dann, sobald man ein bestimmtes Standing erobert hat, selbst kraft des eigenes Talents in dieser patriarchalen Struktur unterstützten. Uns Frauen wurde nämlich nur die Rolle des Fans zugewiesen. Wir waren nie an der Reihe, Macher zu sein, selbst wenn wir talentiert waren. Viele junge Frauen mussten sich in die Nähe des Idols begeben, um selbst etwas Raum für Sichtbarkeit und Macht zu bekommen. Wenn man nämlich keine absolut umwerfende Persönlichkeit hat, um Kunst zu machen und sich zu exponieren, dann verpassen wir als Publikum am Ende sehr interessante Künstler. Das ist richtig unfair, finde ich.
Diese Vorstellung ist in der Gesellschaft sehr selbstverständlich, auch für die Frauen selbst. Wenn eine Frau eine Machtposition bekleidet oder in irgendeinem Bereich erfolgreich ist, lag sie zuvor sicherlich schon im Bett eines angesehenen Mannes…
Genau. Ich erinnere mich an ein Gespräch, das ich vor einiger Zeit hatte, zugegeben ziemlich machoesk. Es ging um ein Mädchen mit einer Schwester. Sie sagte zu mir: „Es kann sein, dass diese Frau, von der Sie sprechen, mit einem mächtigen Mann geschlafen hat, um dahin zu kommen. Aber es war ihr Verdienst, dass sie durchgehalten hat“. Und weil ich ihr Recht gab, musste ich sofort an etwas denken, das ich vor einiger Zeit von der Essayistin Josefina Ludmer gelesen hatte. Sie sagte, dass man als Unterdrückte einige der Verhaltensweisen des Unterdrückers als Widerstandstaktiken einsetzen muss, um etwas mehr Handlungsspielraum zu haben, auch wenn man es nicht will. Um auf Frauen zurückzukommen, die mit mächtigen Männern schlafen: Viele müssen oft darauf zurückgreifen, um ihre Talente und ihren Wert in der Politik, der Kunst usw. beweisen zu können.
Inzwischen gibt es den Alternativtango. Was fällt Ihrer Meinung nach dabei auf und worauf sollten wir achten?
Aus der Undergroundszene gefällt mir sehr gut, was Künstlerinnen wie Marisa Vázquez, Flor Ubertalli, Ana Sofía Stamponi, Brisa Videla, Julieta Laso und andere machen. Was die Veranstaltungsorte angeht, so gibt es die Milongas wie El Tortazo und La Furiosa, die Liliana Furió moderiert. Von den Tänzerinnen kann ich unter anderem Inés Muzzopappa, Mariana Ocampo und Natalia Fures empfehlen.
In Argentinien hat mit Ni Una Menos eine neue Etappe des Feminismus begonnen. Um die zu verstehen, muss man natürlich die erste Masssendemonstration im Jahr 2015 aufzählen…
Wir argentinischen Frauen halten das Ni Una Menos für ein Musterbeispiel. Denn seit 2015 haben mit den Protestmärschen und den neuen feministischen Bewegungen im ganzen Land so viele Frauen wie noch nie zuvor begonnen, unbequeme Fragen auszusprechen, die wir schon vorher hatten. Denn nicht alle von uns waren vor 2015 sexistisch. Und wie jedes Ereignis, das sich prozesshaft vollzieht und nicht von einem Tag auf den anderen eintritt, gab es viele von uns Tangueras, die von diesem neuen, sich entwickelnden Klima herausgefordert wurden. Wir konnten nicht aufhören, über unsere Praxis nachzudenken. Künstlerinnen wie Verónica Bellini komponierten im Eifer der Massenmobilisierungen den Tango Ni una menos. Es entstanden neue Ideen, die uns herausforderten und uns halfen, insbesondere den Femizid zu verstehen. Und von da an glaubten wir, dass wir als Gesellschaft gegenüber dieser verschärften Gewalt, die Frauen erleiden, nicht länger tatenlos zusehen können.
Ab wann konnten Sie einen definitiven Schnitt im Verständnis der Tangokultur erkennen, der schließlich durch den Feminismus und den queeren Tango überschritten wurde?
Der feministische Klick kam später. Ich hatte damals angefangen, dezidiert binär zu tanzen, mich von einem Mann führen zu lassen, gefiel mir. Irgendwann kam ein Punkt, an dem ich mich zu fragen begann, warum ich nicht die andere Rolle spielen konnte. Auch wenn ich es nicht gut beherrsche und auf der Tanzfläche weiterhin die Rolle der Geführten übernehme, erzeugt dies bei vielen von uns feministischen Tänzerinnen und Aktivistinnen ein Paradoxon. Was queerer Tango also impliziert ist, dass er diese binäre oder biologistische Vorstellung von Tango durchbricht. So ist man in der Lage, jede der beiden Rollen zu spielen, einfach weil man ein Mensch ist – unabhängig von seiner Geschlechtsidentität. Du kannst aus jeder Rolle heraus tanzen und genießen und während des Stücks so oft die Rolle wechseln, wie du willst. Andererseits habe ich mich anfangs nicht besonders mit dieser Tanzform identifizieren können, und obwohl ich rational gesehen diese neue Art zu tanzen ausprobieren wollte, genoss mein Körper es mehr, getragen zu werden.
Wie lange haben Sie gebraucht, um Tango y Feminismo zu schreiben?
Ich habe drei Jahre gebraucht, um das Buch fertigzustellen, denn es bestand aus viel Recherche und Feldarbeit. In der Pandemie habe ich tatsächlich gemerkt, dass ich zwar viel gearbeitet, aber nicht alles bis zu Ende niedergeschrieben hatte. Der Lockdown gab mir also dieses klaffende Loch, das ich mit Leben füllen konnte. Und der Ärger darüber, dass ich keine anderen Dinge tun konnte, ließ mich das Schreiben zu Ende führen. Denn irgendwie hatte ich das Gefühl, dass in all diesem Material, das zusammenkam, ein Text schlummerte, der ans Licht kommen musste.
Die Pandemie wird eine baldige Buchpräsentation wahrscheinlich unmöglich machen – gibt es Ideen für die Zeit, wenn es mehr Möglichkeiten gibt und die Beschränkungen gelockert werden?
Mit Contemporánea Ediciones, dem Verlag, der von Vanina Steiner geleitet wird und der zum Verbund von Tinta Roja Ediciones de Siglo XXI gehört, gibt es die Idee, eine Tournee durch die Milongas im ganzen Land zu machen, sobald die Pandemie vorbei ist. Da ich so stolz auf dieses Buch bin und den Rahmen der heute noch bestehenden Einschränkungen berücksichtige, mache ich das Buch bis dahin so gut ich kann bekannt. Ich hoffe, dass es die Menschen erreicht, die es erreichen soll.
Übersetzung: Pia-Felicitas Hawle
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