(Oaxaca, 8. März 2023, npla).- Zu Beginn des Jahres 2020 hörten die Bewohner*innen der indigenen Kommunen Oaxacas zum ersten Mal vom Coronavirus. Sie erfuhren, dass Menschen in fernen Ländern daran gestorben waren, und bald darauf, dass sich auch Bekannte in großen Städten angesteckt hatten. Nach einigen Wochen erreichte das Virus Dörfer in ihrer Nachbarschaft. Und von einem Tag auf den anderen schotteten sich die Gemeinden nach außen ab, untersagten den Menschen, die Gebiete zu verlassen und begrenzten den Zugang zu ihrem Territorium. Mit diesen Schutzmaßnahmen endete auch die Lebensfreude, die die indigenen Gemeinden Oaxacas charakterisiert. Das komplette Gemeinschaftsleben, die Dorffeste, die Gemeindeversammlungen, die gegenseitige Unterstützung – alles kam zum Erliegen.
Das Leben änderte sich von einem Tag auf den nächsten
Mit ihren 83 Jahren glaubte Juana María, bereits alles Denkbare erlebt zu haben. Nie hätte sie gedacht, dass sich ihr Dorf Santa Catarina Cuixtla, gelegen am Rande der Sierra Sur, einem Gebirgszug im südmexikanischen Bundesstaat Oaxaca, von einem Tag auf den anderen dermaßen verändern könnte. Für Maria Juana wurde das Leben sehr trist. Denn plötzlich waren alle Türen verschlossen, sie konnte das Haus nicht mehr verlassen, bekam keinen Besuch. Einkaufen ging nicht. Nur noch die Familie nahm die Mahlzeiten gemeinsam ein, niemand von außerhalb kam dazu. Deshalb war sie sehr traurig, fast verzweifelt, auch im zweiten Jahr der Pandemie. Die Trennung von Gemeinschaft und Individuum ließt Juana María das Leben an sich in Frage stellen. Denn die indigenen Gemeinden Oaxacas leben im Kollektiv, in der Dorfgemeinschaft. Das Leben und Denken im Kollektiv drückt sich vor allem in den Dorffesten aus, erklärt uns Ricardo Peralta. Peralta lehrt an der Universidad Autónoma Comunal de Oaxaca zu Formen des Lernens und der Selbstorganisation aus Sicht indigener Gemeinschaften.
Dorffeste sind fester Bestandteil des Lebens
Die Fiestas, die Dorffeste, sind im Bundesstaat Oaxaca von höchster Bedeutung für die kulturelle Identität seiner acht sehr verschiedenen Regionen. Die Fiesta ist das wichtigste Mittel, um den kommunalen Zusammenhalt zu stärken, erklärt Peralta. Maria Juana liebt die Fiestas und die Tradition, das Dorffest gemeinsam zu organisieren. Das ganze Dorf hilft denen, die das Fest organisieren. Die Leute steuern einen Kasten Bier, eine Flasche Mezcal oder den Mais für die Tamales bei. Und alle helfen den Frauen, die das Essen vorbereiten, weiß Maria Juana zu berichten. Es ist diese gegenseitige Unterstützung, die das Gemeinschaftsgefühl stärkt. Freundschaft wird zur Grundlage für Geselligkeit, was wiederum erlaubt, das soziale Umfeld gemeinsam zu gestalten. Das ist etwas, das dem vom Kapitalismus geprägten westlichen Denken diametral entgegensteht.
Die Mayodormía: ein Dorffest der besonderen Art
Als Mayordomía wird in Oaxaca ein religiöses Ehrenamt und das Dorffest bezeichnet. Die Mayordomos, die für die Ausgestaltung des Fests verantwortlich sind, bewerben sich um dieses Amt und organisieren alle Feierlichkeiten zu Ehren der oder des katholischen Dorfheiligen für ein ganzes Jahr. Um eine Mayordomia organisieren zu können, arbeiten die Mayordomos mit vielen Menschen zusammen. Sie bauen ein Netzwerk aus Familienangehörigen, Nachbar*innen und Freund*innen auf, das ihnen dabei hilft, all das bereitzustellen und abzusichern, was für das Dorffest wichtig ist. Das fängt bei der Suche nach Köchinnen an, geht über die Erledigung der Einkäufe bis hin zur Vorbereitung des Essens. Dieser Prozess hilft, den sozialen Zusammenhalt innerhalb der Dorfgemeinschaft zu stärken. Und deshalb spielt das Dorffest eine so bedeutende Rolle im Leben der Gemeinde. Juan Carlos war bereits zweimal Mayordomo in Santa Catarina Cuixla. Die Mayordomía 2020 war für ihn eine besondere Herausforderung. Denn der wichtige Prozess der Selbstorganisation der Dorfgemeinschaft wurde durch die Corona-Maßnahmen stark eingeschränkt. Deshalb erfüllte ihn seine erneute Ernennung zum Mayordomo mit einem tiefen Glücksgefühl. Er und seine Frau sind dankbar für das Vertrauen, das ihnen die Dorfgemeinschaft entgegengebracht hat.
Dorffeste stärken den kommunalen Zusammenhalt
Die Fiesta ist Arbeit. Sie zollt den Gottheiten, den Bräuchen und dem Leben an sich Respekt. Gleichzeitig hat sie eine soziale Funktion: Sie dient dazu, die Stimmung in der Gemeinde zu steuern. Ricardo Peralta beschreibt das wie folgt: „Das Dorffest wirkt auch wie eine Art Ventil und hilft, Konflikte zu entschärfen. Das Glücksgefühl und die gegenseitige Unterstützung vor, während und nach den Feierlichkeiten ermöglicht den Menschen ein Zusammenleben in einem entspannten, von Wohlwollen erfülltem Umfeld, in dem Vorurteile und Unstimmigkeiten beiseitegelegt werden. Dieses Umfeld ist die Voraussetzung dafür, Kollektivität zu schaffen.“ Mit anderen Worten: Die Fiesta schweißt zusammen, schafft ein Gefühl der Zugehörigkeit, stärkt den Zusammenhalt in der Gemeinde und wirkt somit der Entwurzelung entgegen. Sie stärkt ein Gefühl der Autonomie und hilft, darüber zu reflektieren, welchen Platz jede und jeder in der Gemeinde einnimmt.
Auch wenn die Coronapandemie noch nicht ganz überwunden ist, kehren viele indigene Gemeinden zu ihrem gewohnten Lebensrhythmus zurück. In Cuixtla wird am 30. April die Mayordomía wieder wie vor Covid gefeiert. Das Fest bietet der Gemeinde die Möglichkeit, die Schrecken der Pandemie hinter sich zu lassen und die Prozesse der Selbstorganisation und gegenseitigen Unterstützung wieder aufzunehmen.
Diesen Bericht gibt’s auch auf Spanisch.
Einen Audiobeitrag von Radio Matraca zu diesem spannenden Thema findest du hier.
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