(Guatemala-Stadt, 14. Dezember 2021).- Der Hochschuldozent, Forscher und politische Analyst Kajkoj Maximo Ba Tiul beschreibt auf eindringliche Weise die Hoffnungen der Enttäuschungen von Menschen, die ihr Land auf der Suche nach einem besseren Leben verlassen, und beleuchtet dazu die politischen Dimensionen der Migration.
Zufällige Begegnung mit einem Bekannten
Einer der vielen verregneten Vormittage, wie sie in den nördlichen Regionen Guatemalas häufig vorkommen. Ich habe einige Dinge in einem Nachbarort zu erledigen und halte ein Taxi an. Der Fahrer ist zufällig jemand, den ich kenne, ein Freund, den ich seit einiger Zeit nicht mehr gesehen hatte. Ein junger Mann, etwa 25 bis 30 Jahre alt. „Hallo“, sage ich, „Wie geht’s, wie steht’s? Kannst du mich mitnehmen?“ „Mit Vergnügen“, antwortet er. Kaum sitze ich im Wagen, beginnt unser Gespräch. Wir reden ein bisschen, und ich frage ihn: „Wieso habe ich dich eigentlich so lange Zeit nicht gesehen?“ „Nun, ich wollte in den Norden“, antwortet er. „Nach Petén?“, unterbreche ich ihn scherzhaft. „Nein“, antwortet er lachend, „ich wollte in die USA. Die Einwanderungsbehörde hat mich aber nicht gelassen, und nun bin ich seit einer Woche zurück.“ „Und wie und wo haben sie dich erwischt?“ „In der Wüste“, sagt er und fährt fort: „In der Wüste zu sein macht einen traurig. Die Kojoten messen exakt die Menge Wasser ab, die du mitnehmen musst, und du wirst niemanden finden, der seine Ration mit dir teilt, weil er dann vielleicht selbst nicht mehr genug hat. Du kannst nur eine kleine Tasche mitnehmen, vielleicht ein Hemd zum Wechseln oder ein paar andere Kleidungsstücke, aber auf keinen Fall mehr als 10 kg, denn du musst ja eine Weile damit laufen können.“ „Und was war jetzt so traurig in der Wüste?“, frage ich ihn. „Der Geruch. Die Wüste riecht nach Menschenfleisch, man findet Blutspuren, Knochen aller Art, überall. Ich habe diesen Geruch immer noch in der Nase, er verschwindet nicht und lässt mich nicht zur Ruhe kommen.“ „Und was wirst du jetzt tun?“, frage ich weiter. „Nun, zunächst einmal sehen, wie ich den Kojoten bezahle.“ „Wie viel schuldest du ihm?“ „Siebzigtausend Quetzales“, antwortet er. „Und wie kommst du an das Geld?“ „Mein Vater musste das andere Taxi verkaufen, und auf das Haus hat er eine Hypothek aufgenommen.“ Bevor ich aus dem Taxi steige, sagt er: „Aber ich werde es noch einmal versuchen. So viele Leute gehen hier weg. Ich hatte mich zusammen mit meinem Cousin auf den Weg gemacht. Sie haben uns gemeinsam zurückgeschickt, und er ist schon wiederlosgezogen, und diesmal hat er es geschafft. Weißt du, es gibt hier einfach keine Arbeit.“ Wir verabschieden uns.
Innenpolitisch bedingte Migrationswellen
Fälle wie dieser sind in unseren Gemeinden an der Tagesordnung. Früher hörte man solche Geschichten nur von den Menschen aus dem westlichen Teil des Landes (Huehuetenango, San Marcos, Quetzaltenango). Während des Krieges sind auch immer wieder Leute nach Mexiko, in die Vereinigten Staaten und nach Europa ausgewandert, um der staatlichen Repression und der Verfolgung durch die Armee zu entkommen. Anfang der 1990er Jahre kehrten einige zurück, andere nicht. Ich erinnere mich noch sehr gut daran, wie junge Menschen aus den Flüchtlingslagern zurückkehrten und begannen, Orte wie „Victoria 20 de Enero“ zu gründen. Als sie sahen, dass fast die Hälfte des ihnen zugewiesenen Landes jedes Jahr durch die Regenfälle und Überflutungen des Flusses weggeschwemmt wurde, wollten sie nach Mexiko zurück. Einige gingen direkt in die Vereinigten Staaten. Die neue Migrationswelle setzte etwa zwei Jahre nach der Unterzeichnung des Friedensabkommens ein. Das Abkommen war gescheitert, und der Neoliberalismus war auf dem Vormarsch. Die Leute gingen fort, um ihre Lebensbedingungen zu verbessern. Der neoliberale Kapitalismus und nun auch der Extraktivismus vermitteln das Gefühl, dass sogar das bloße Überleben erkämpft werden muss. Hunderte von Brüdern und Schwestern aus ganz Guatemala und aus anderen Ländern, die wirtschaftlich und politisch von den entwickelten Staaten abhängig sind, sehen sich gezwungen, in die Vereinigten Staaten und nach Europa zu migrieren. Man erhöht unseren Lebensstandard, allerdings nur scheinbar, und redet uns ein, um der Armut zu entkommen, müsse man eben Geld haben, egal, was man dafür in Kauf nehmen muss. Hinter der Migration in die urbanen Zentren der Industrieländer steht die Hoffnung auf ein „besseres Leben“ für die Familie und besonders für die Kinder, zumindest in finanzieller Hinsicht.
Migration ist kein Aufbruch in die Freiheit
Kapitalismus bedeutet jedoch nicht Leben, sondern Tod. Geld und Konkurrenz täuschen uns und machen uns unfrei. Im Kapitalismus besteht die vorrangige Bemühung der Familien darin, die Grundversorgung zu sichern. In Ländern wie unseren sind die Löhne niedrig und reichen nicht einmal, um satt zu werden. Das profitorientierte System lockt uns in die großen Städte und flüstert uns ein, dass wir nur dort erreichen können, was wir wollen und wovon wir träumen. Wir streben nicht nach dem amerikanischen Traum, sondern nach einem besseren Leben für unser Volk, doch auch dieser Traum erfüllt sich fast nie. Kapitalismus bedeutet freier Markt, nicht freie Menschen. Migration ist kein Aufbruch in die Freiheit. Man macht aus Menschen billige Arbeitskräfte und Konsument*innen. Dass Menschen auswandern und ihr Leben riskieren, fällt in die Verantwortung dieses Systems. Arme Menschen werden zur Handelsware. Die Entwertung ihres Lebens steigert den Profit der anderen.
Migration und Extraktivismus bedingen einander
Kürzlich sagte jemand zu mir: „Wissen Sie, ich muss nicht arbeiten. Für die Leute, die ich auf die Fincas bringe, kriege ich Geld vom Bauern und vom Verwalter und natürlich von den Arbeiter*innen. Davon kann ich zwei oder drei Monate lang gut leben, bis zur nächsten Ernte.“ Das Geschäft mit dem Leben von Migrant*innen, der Menschenhandel der heutigen Zeit, ist ein gut organisiertes Verbrechen. Die Kojoten arbeiten auch transnational und sind unter anderem mit Banden, Drogenhändlern, Polizei, Militär und Migrationsbehörden vernetzt. Kapitalismus und Extraktivismus zwingen die Menschen zu migrieren. Der neoliberale Kapitalismus verursacht Armut und extreme Armut und lässt den Menschen keine Wahl, als zu gehen und ihr Land den Monokulturen und Wasserkraftwerken und dem Bergbau zu überlassen. Nicht zufällig migrieren die meisten Menschen aus den Gebieten, in denen afrikanisches Palmöl produziert, Staudämme gebaut und Minen ausgebeutet werden und wo Drogenhandel und organisierte Kriminalität besonders stark vertreten sind.
Wenn es uns nicht gelingt, den neoliberalen Kapitalismus in seinem Ehrgeiz und Egoismus zu stoppen, werden sich erzwungene Migration, Armut, Konsumdenken und Kolonisierung endlos fortsetzen, das heißt, wir würden weiter glauben, dass mehr als das nackte Überleben für uns nicht drinsitzt, und der Traum vom Leben in Wohlstand bliebe für immer ein Traum.
Mit freundlicher Genehmigung des Autors.
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