
Foto: Ericwaltr via wikimedia
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(Valencia, 17. Juni 2025, El Salto).- Chahim A’jam Vásquez Leal ist Aktivistin, Heilerin und „mit körperlichen Eigenschaften geboren, mit denen man hierzulande als intersexuell gilt“. In verschiedenen Initiativen wie dem Espacio de Resistencia Jalanil aj Q’eqchi engagiert sie sich für Rechte indigener und rassifizierter Frauen. Das Interview fand in Valencia statt, wo Chahim an der Periferies-Konferenz zur Unterstützung von Menschenrechtsverteidiger*innen teilnahm. In dem Gespräch spricht sie über ihre Vision von Widerstand und erzählt von den Herausforderungen, mit denen die Gemeinschaften in Guatemala konfrontiert sind.
Wie definierst du dich?
Ich bin eine Frau, die mit den körperlichen Merkmalen geboren wurde, mit denen man hierzulande als intersexuell gilt, mit einem Körper, der von Anfang an anders war und anders wächst. Meine Wurzeln gehen auf drei verschiedene Völker zurück, aus denen sich meine politische und geistige Kraft speist: Ich bin Maya Q’eqchi‘, Afro und Roma. Ich bin Teil des Widerstands in dem Gebiet, in dem ich lebe, sowohl politisch als auch im Alltag. Und ich bin Teil des Espacio de Resistencia Jalanil aj Q’eqchi‘ Resistance Space, in dem die Frauen im Widerstand in ihrer Pluralität zu Hause sind. In Ixim Ulew, dem heutigen Guatemala, leisten die Menschen im Gebiet der Maya Q’eqchi‘ seit vielen Jahren Widerstand. Insbesondere in der Gegend von Tezulutlán, wo zuerst die koloniale Invasion und dann die Invasion der Gringos und Deutschen die Bevölkerung heimsuchte. Meine Großmutter, eine afro-indigene Garífuna, hat mich gelehrt, andere Frauen zu begleiten, ohne in ihre Prozesse und Organisationsstrukturen einzudringen. Gegen das Vergessen und den Ausschluss von politischen Prozessen Widerstand zu leisten, habe ich von meiner Roma-Mutter gelernt, und sie wiederum von ihrer Mutter, die eine Zapatistin war. Die Politik nimmt in meiner Familie also traditionell großen Raum ein. Das wichtigste Erbe, das mir die Frauen meiner Familie mit auf den Weg gegeben haben, ist die Fähigkeit zu überleben, und das beziehe ich nicht auf die Viktimisierung, sondern schlicht auf meine Realität.
Wie lebst du deine verschiedenen Identitäten in Guatemala? Was bedeuten Rassismus und der tägliche Machismo in deinem Alltag?
Guatemala ist ein Land, das immerzu geschunden wurde, die Gesellschaft ist sehr verwundet und kann sich nicht erholen. Daraus sind die Institutionen des guatemaltekischen kolonialen Nationalstaats hervorgegangen, ein politisches Labyrinth. Du trittst mit den besten politischen Absichten an, doch dann wird alles dermaßen verzögert und verschleppt, bis es schließlich verlorengeht. Den Alltag bestimmt eine ständige Wunde der Frustration, die sich aus den kleinsten Details ergibt, z.B. kann eine Fahrt mit dem Taxi mich in eine sexuelle Gewalt-Situation bringen, oder sie lassen mich nicht einsteigen, weil ihnen meine androgyne körperliche Erscheinung nicht passt, oder sie haben mir irgendeine Art von spiritueller Praxis angesehen. Die alltäglichen Situationen bewirken eine Art Abnutzungserscheinung, die die Vitalität schwächen. Durch all‘ das gehe ich hindurch, lasse mich ein, gehe über mich hinaus, aber ich grenze mich auch ab. Da kommt dann auch die Heilkunde ins Spiel, Kräuterbäder, Beschwörungen der Ahnen, Feuer, Tabak, Weihrauch. Um den bösen Blick auf Macho-Männer zu werfen. Nicht als magischer, religiöser, animistischer Gedanke, mit Kristallen und gefärbtem Wasser, sondern als politische Aktion. Als Akt des Widerstands, aber auch, um zu leben. Die Märtyrer-Identität des westlichen Widerstands ist stark instrumentalisiert worden. Ich glaube aber nicht, dass das so funktioniert, sondern dass Widerstand mit Vitalisierung verbunden sein muss: Orgasmen, Essen, Musik, Genuss, Feiern. Persönliche Trangsression, gemeinschaftliche Emanzipation.
Die stärkste Macht aller hegemonialen Systeme ist der Entzug der Identität. Denn wenn sie dich deiner Identität berauben, sind sie in der Lage, dir alles in dein Bewusstsein zu setzen. Das ist wie eine patriarchale Fata Morgana. Sie drücken dir Bilder von Situationen auf, die es in ihrer Welt tatsächlich gibt, die aber in deinem Kosmos nicht existieren, zum Beispiel: „…früher waren die indigenen Frauen respektvoller, und ihr provoziert mich sogar mit euren Augen…“. Es ist ein staatlicher Rassismus, der die Beteiligung von Frauen zulässt, aber nur dort, wo sie als emanzipatorische Folklore dienen soll. Und selbst mit der heutigen Regierung sieht es so aus, als wollten sie alle Kämpfe von Frauen vereinnahmen. Rassismus und Patriarchat sind wie Tintentropfen, die das ganze Wasserglas beflecken. Sie erreichen jeden einzelnen Bereich, in dem wir leben, sogar unser Bewusstsein, unsere Identität, unser Selbstverständnis als Frauen, sie beeinflussen, wie wir unsere Körper wahrnehmen und prägen unsere Lebenserfahrung. Ich glaube, das ist der heftigste Kampf, den wir führen müssen, denn wenn man sich ständig verteidigt, verinnerlicht man vieles und verpasst manchmal die schönen Dinge des Lebens.
Worin besteht dein Aktivismus?
Hauptsächlich darin, mit dem zu leben, womit Frauen und Gemeinschaften konfrontiert sind: der versperrte Zugang zu unserem Land, die Bergbau-Megaprojekte, die ausgedehnten Monokulturen, das, was den guatemaltekischen kolonialen Nationalstaat ausmacht, der indigene Machismo, die Instrumentalisierung einer Zusammenarbeit, in der wir politisch nicht als gleichwertig wahrgenommen werden. Wir priorisieren praktisch das, was am dringendsten ist: der Hunger unserer Genossinnen und Genossen und das, was das Leben in seinen vielen Ausdrucksformen ausmacht: Schutz vor Gewalt, der Mangel an medizinischer Versorgung bei Geburten, sexuelle Gewalt, die Verfolgung durch das transnationale Unternehmen Jesus Christus. Wir treffen uns mit Compañeras, die trans sind, Afro-Q’eqchi‘, Q’eqchi‘ Frauen, Frauen, die nicht in die ihnen zugewiesene Identität in der Gesellschaft und in den Gemeinschaften reinpassen und nicht einmal einen Platz finden, um in Ruhe zu schlafen oder 15 Minuten in einem sicheren Raum zu verbringen.
Warum kritisierst du die Entwicklungszusammenarbeit?
Weil wir erkannt haben, wie die Hilfswirtschaft funktioniert: Sie wird von den Körpern der am schlechtesten bezahlten, rassifizierten Frauen getragen. Zum Beispiel kann ein weißer Mann Steuern zahlen, weil er seine rassifizierte Mitarbeiterin nicht gut bezahlt. Wir wissen auch, dass die Hilfsgelder uns gehören, sie gehören unseren Großmüttern. Das ist keine Solidarität. Das ganze System, das hier aufgebaut wurde, die Emanzipation, die hier entstanden ist, wurden auf den Schultern und dem Rücken der rassifizierten Frauen ausgetragen, die Zusammenarbeit wurde geschaffen, um zu kontrollieren. Die Weltbank sah, dass der Widerstand wuchs, und sagte: „Wir sollten uns ihr Schweigen erkaufen“. Gemeinschaften, deren Töchter durch Megaprojekte vergewaltigt werden, müssen „besonnen“ handeln, um Hilfe zu erhalten. Ich will damit nicht sagen, dass es in den NGOs keine netten Menschen mit noblen Absichten gibt, es gibt dort, tolle, starke Leute, die ich liebe und schätze. Das Problem ist das Geld, das den Widerstand bindet. Aus Sicht der Entwicklungszusammenarbeit wird es prima gefunden, wenn wir Pocahontas-mäßig als Opfer aus der Dritten Welt auftreten und weinen, und auf jede Träne, die wir vergießen, reagieren sie mit einem weiteren Scheck. Aber wenn eine Frau aufsteht und sagt: „Ich weiß, was ich brauche, nämlich dies und das. Und ich will, dass meine Arbeit so und so entlohnt wird“ – das mögen sie nicht. Sie mögen Opfer, sie mögen diese Reden, dass wir ja so leiden. Sie lassen uns glauben, dies sei für uns der einzige Weg, an dieses Geld zu kommen: Es ist die Belohnung dafür, dass wir die ärmsten Opfer sind.
Wie ist dein Verhältnis zur guatemaltekischen Linken?
Ich habe bei den Linken in meinem Land immer eine Art bürgerliche Bestrebungen gesehen. Wie gesagt, ich respektiere alle, die sich mit viel Herzblut für das einsetzen, woran sie glauben, aber so wie die Linke aufgestellt ist, fühle ich mich nicht einbezogen. Zum Beispiel war 2015 bei Treffen der Linken noch von „unseren Völkern, unseren Ureinwohnern“ die Rede. In den anderen Momenten gab es auch Probleme mit Machismo, Paternalismus und einer Art romantischen Blick auf die Armut und die Ermordung von Genossinnen und Genossen. Ich glaube, dass die Linke in Guatemala sich neu konfigurieren muss, sie muss sich eine territoriale politische Identität erarbeiten, wissen, wo sie sich wie äußert, sich klarmachen, was es heißt, Mestizen zu sein, und einsehen, dass nicht sie das warme Wasser entdeckt haben.
Warum arbeitest du im Radio und welche Bedeutung hat das Mündliche für dich?
Ich liebe Community-Radios. Ich bin mit dem Radio aufgewachsen, weil mein Vater in San Juan Chamelco bei einigen Sendern als Moderator gearbeitet hat. Später hatte ich Gelegenheit, mit den Genossinnen und Genossen von COPINH in Honduras Radio zu machen, mit Rebeca Sánchez. Für mich ist das Radio wie ein augenzwinkerndes Gespräch über alles, was wir tun. Man stellt sich die Stimme, das Gesicht der Person vor, der man gerade zuhört. Das Radio ist eine beeindruckende Form der Mündlichkeit. Es ist viel über Frauen geschrieben worden, die kämpfen, viele Interpretationen, die groß rauskamen und jetzt weit entfernt, von wo sie entstanden sind, gelesen werden oder Projekte angestoßen haben, aber die Mündlichkeit bricht, sie fordert heraus, sie besitzt eine politische Gewissheit über den Individualismus. Und das hat mir glaube ich am besten gefallen. Es ist eine Sache, über persönliche Prozesse zu sprechen, es ist eine andere Sache, etwas individuell zu erleben. Und ich denke, wenn wir die Mündlichkeit verlieren, verlieren wir das gemeinschaftliche Bewusstsein, dass wir Teil von allem sind. Eine geschriebene Nachricht ist keine Mündlichkeit, sie ist nur Schreiben und Lesen, sie ist Intellektualität. Mündlichkeit, das sind Töne, die einen aufregen, nervös machen oder beruhigen können. Mündlichkeit ist eine Maßnahme der politischen Verteidigung. Ich bin sehr dankbar für die Möglichkeit, das Wort als einen Akt der Gerechtigkeit weiterzugeben. Gerechtigkeit für Frauen wird sehr oft verweigert, relativiert, und ich denke, der Gerechtigkeit unser eigenes Gesicht zu geben, bedeutet, wirklich Teil des Prozesses zu sein und nicht nur als Show. Nicht als Zeugnis, sondern als wirkliche Kritik an dem, was wir erleben, aber auch als Rebellion gegen das Schweigen, das wir oft tagtäglich praktizieren, weil wir essen müssen, arbeiten müssen, all die Tragödien, die wir erleben, überwinden und vorwärts gehen müssen. Deshalb möchte ich zuallererst allen Frauen in den verschiedenen Ecken der Erde, für alles danken, was sie tun müssen, damit die Menschen ihr Leben leben können. Und ich möchte auch allen Frauen danken, die unsere Auflehnung begleiten, mit ihren Träumen, ihren Nöten und Hoffnungen, ihren Ideen, Gefühlen und ihren ganz eigenen Strategien.
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Möglicherweise ist das Engagement für eine gewaltfreie Kindererziehung (SDG 16.2.) ebenfalls entscheidend für die Erfolge des Feminismus – meinte unlängst der Friedensforscher Franz Jedlicka in einer Podcast Episode (die es auch auf spanisch gibt).
LG Ulrike