„Sagt mir, wie kann ich nicht empört sein?“

Femizid
Foto: Prensa TV Pública via flickr
CC BY 2.0

(Quito, 19. September 2024, wambra).- Als ich das Gesicht von Mercedes Vera zum ersten Mal sehe, steht sie vor der Universidad Central del Ecuador und schwenkt unermüdlich eine lila Fahne in ihren Händen. Sie ist eine Frau aus Manabí mit einem warmen Hautton und einer sicheren, widerstandsfähigen Körperhaltung. Unsere Blicke treffen sich in dem Moment, als ihre Stimme die Stille durchbricht:

– Kommt, kommt hierher– sie zeigt auf Ángelly, meine Begleitung und auf mich; mit fast 10 Leuten warten wir auf die Ankunft des Busses (in Ecuador: Chiva), der in der „Karawane gegen das Vergessen“ drei Stationen in Quito anfahren und der Ermordung von María Belén Bernal gedenken wird, die vor zwei Jahren in der Escuela Superior de Policía General Alberto Enríquez Gallo umgebracht wurde.

Mercedes ist nachdenklich und unruhig. Sie scheint in der Luft zu schweben, ungeduldig schaut sie immer wieder auf ihre Uhr; mit jedem Blick werden die Minuten länger:

– Sie sagten, dass die Chiva um 13 Uhr kommen würde, aber sie ist immer noch nicht da – sagt sie frustriert.

– Sie muss gleich da sein – antworte ich ihr, um sie zu beruhigen.

„In Ecuador herrscht keine Gerechtigkeit“

Ihre lila Fahne trägt die Aufschrift „Ni una menos“ (Nicht eine weniger). Sie steht in einem schmerzhaften Kontrast zu ihrem T-Shirt, auf dem das Gesicht einer jungen Frau zu sehen ist. Maribel Loor Vera war ihre Tochter; sie war 36 Jahre alt und von Beruf Kosmetikerin. Am 16. Oktober 2016 wurde sie von ihrem Partner, dem Vater einer ihrer Töchter, getötet. Der Frauenmörder versuchte sich nach der Tat selbst das Leben zu nehmen, scheiterte jedoch und überlebte mit einer dauerhaften Behinderung. Der Schmerz hat Mercedes in eine starke und widerstandsfähige Frau verwandelt. Ihre Hände sind kräftig; ihre scharfen Stimmescheint die Luft zu zerteilen. Als Maribel ermordet wurde, zog Mercedes mit ihren Enkeln aus Angst nach Kolumbien. Sich um ihre Enkel zu kümmern habe am ehesten etwas mit Gerechtigkeit zu tun, denn, so sagt Mercedes, in Ecuador herrsche keine Gerechtigkeit, und wenn doch, dann immer zu spät, und das sei in den Augen der Angehörigen die größte Ungerechtigkeit überhaupt. Ohne die Geschichte ihrer Tochter zu kennen, fotografierte ich Mercedes in der Nacht vom 11. September 2023 vor dem Polizeihauptquartier in Quito während einer Demonstration nach dem Femizid an María Belén Bernaval. Auf dem Bild sieht man sie nur von hinten. Erst ein Jahr später sollte ich sie kennenlernen und ihr Gesicht sehen. Ich zeigte ihr das Foto, dass ich damals gemacht hatteIch wusste, dass sie es war, wegen des Namens ihrer Tochter, der auf auf der Rückseite ihres T-Shirts abgedruckt war. Mercedes ist eine von Tausenden Müttern, die in der „Karawane gegen das Vergessen“ Gerechtigkeit für ihre Töchter, Enkelinnen und Enkel einfordern.

„Euer Tod wird nicht vergessen“

Die Chiva erreicht die Universidad Central, sammelt uns ein und beginnt die Rundfahrt. Die Frauen schwenken die lila Fahnen im Wind. Wir sind nicht mehr nur 10; jetzt sind wir über 20 Frauen unterschiedlichen Alters. Alle gemeinsam sind wir in der „Karawane gegen das Vergessen“. Wie es auf einem der Banner heißt: „Keine Geschäfte mit dem Leben von Frauen“, „Euer Tod wird nicht vergessen!“. Uns Frauen verbinden unsere Vielfalt, der Schmerz, die Freude, aber auch unsere Lieder: „Canción Sin Miedo“ (Lied ohne Angst) von der Mexikanerin Vivir Quintana begleitet die Karawane. Es ist eine Hymne gegen die patriarchale Gewalt und Femizide überall auf der Welt. Seit 2020 ist das Lied bei Protesten, Demonstrationen und Zusammenkünften von Frauen aus unterschiedlichen Ländern präsent. Es prangert an und fordert Gerechtigkeit für die Frauen, Freundinnen, Schwestern, Mütter, Töchter, Cousinen und Tanten, die ermordet wurden.

Ein Auszug aus dem Lied sagt:

Ich bin Claudia, ich bin Esther und ich bin Teresa

Ich bin Ingrid, ich bin Fabiola und ich bin Valeria

Ich bin das Mädchen, dass du gewalttätig überwältigt hast

Ich bin die Mutter, die um ihre Toten weint

Und ich werde dich zur Rechenschaft ziehen

Gerechtigkeit! Gerechtigkeit! Gerechtigkeit!

Canción sin miedo“ und andere Lieder wie „Qué la vida vale“ (Was ist das Leben wert) von Natalia Lafourcade werden während der gesamten Karawane immer wieder gesungen. Wir kommen im Stadtteil El Condado an, wo uns bereits eine Menschenmenge erwartet. Elisabeth Otavalo, Luis Ati, Miroslava Cando, Familienmitglieder von Femizid-Opfern, rufen ohne Unterlass: „Wir geben nicht auf. Für Aidita; wir geben nicht auf; für Pamelita; wir geben nicht auf; für Majhito geben wir nicht auf, wir geben nicht auf, wir geben nicht auf, wir geben nicht auf.“

Seilschaften und Korruption bei der Polizei

So beginnt die „Karawane gegen das Vergessen“. Turum-pa-tún, turum-pa-tún. Die Trommeln ertönen, während die Frauen von Butaka Batumbá laut rufen: „Vivas nos queremos!“ (Wir wollen leben). Die Menge zieht mit Luftballons und lila Fahnen durch die Straße Nogales. Sie bewegt sich auf die erste Station der Route zu: das Gefängnis 4 von El Condado. Ein Ort, den schon Richter, Politiker und Polizisten von innen gesehen haben. Polizisten wie Germán Cáceres del Salto, der Mörder von María Belén Bernal, der seit April 2023 dort inhaftiert ist. Zuvor war er im Hochsicherheitsgefängnis La Roca in Guayaquil.„Germán Cáceres, auch für dich kein Vergessen. Hier spricht die Stimme von María Belén. Scheiß Polizist!“, schreit Elizabeth Otavalo. Der Ruf hallt nach und die Menge stimmt mit ein: „Polizisten sind Komplizen, Polizisten sind korrupt!“Eine der kräftigsten Stimmen ist die von Isaac. Er ist der Sohn von María Belén. Er erhebt wütend seine Stimmte: „Der Sohn von Dr. María Belén Bernal wird kämpfen, nicht nur für sie, sondern für meine Geschwister, die anderen Opfer“, ruft Isaac. „Cáceres nach La Roca!“, fordert der kollektive Ruf. Elizabeth ruft immer wieder, das Gefängnis 4 sei viel zu gut für einen Frauenmörder, es sei „ein Fünf-Sterne-Hotel“. „Dorthin bringen sie die Frauenmörder. Dort ist der Mörder von Katherine Singaña. ER hat auf sie geschossen, um sie zu töten“, erklärt sie.

Wut und Trauer

Die Demonstrierenden protestieren; Militärs und Polizisten schützen das Gefängnis 4. Deutlicher lassen sich Strukturen fast nicht darstellen. Doch die Demonstrierenden haben ein lila Tuch ausgebreitet, auf dem Fotos von Hunderten von ermordeten Frauen zu sehen sind, viele durch Polizisten und Militärs.Wir leben in einem Land, das weitermacht und fortbesteht, selbst wenn wir Frauen verschwinden und umgebracht werden. Dieser Gedanke kommt mir, als wir uns gerade in einer der belebtesten Gegenden befinden, voller Menschen und Autos. Wir stehen vor einem Einkaufszentrum, das täglich Tausende von Menschen anzieht, aber es scheint, als würde nichts passieren. Die Menschen, die vorbeigehen, wollen nicht anhalten, die Autos hupen und hupen, damit die Frauen endlich die Straße frei machen. Die Demonstrant*innen rufen ohne Unterlass, wütend und empört. Manche weinen. Andere schreien trotz ihrer Trauer weiter. Ich verspüre einen unkontrollierbaren Drang, meiner Trauer freien Lauf zu lassen. Noch halte ich mich zurück, später dann nicht mehr. Mir tut dieses Land weh, die Ungerechtigkeit, die Stille, die Komplizenschaft zwischen den staatlichen Institutionen, der öffentlichen Gewalt und denen, die sie zusammenhalten. Wir steigen in die Chivas ein und fahren weiter. Dies war nur der erste Stopp.

Die Karawane geht weiter. Die zweite Station ist die Militärschule Eloy Alfaro. Als wir ankommen, erblicken wir schon von weitem die Militärs. Genau wie die Polizei schützen sie die Schule mit ihren Körpern und ihren Waffen. Die Demonstrantinnen rufen unaufhörlich: „Gerechtigkeit, Gerechtigkeit, Gerechtigkeit für Aidita!“ Aiditia wurde im Juni 2024 ermordet. Ähnlich wie die Geschichte von María Belén Bernal erschütterte auch ihre Geschichte das ganze Land. Aidita wurde in ihrem Zimmer in der Militärbasis der Brigade 19 Napo in der Provinz Orellana getötet. Eine Autopsie ergab, dass sie vor ihrem Tod Opfer körperlicher und sexueller Gewalt wurde. Eine der Stimmen, die vor der Militärschule erklingen, gehört Luis Ati, ihrem Vater. Aber er ist nicht der Einzige, der seine Tochter in einer ecuadorianischen Militärschule verloren hat. Miroslava Cando verlor ebenfalls ihre Tochter Majhito, Unterleutnant der Armee, während einer Schwimmprüfung im Río Napo. Laut den Streitkräften verfing sich die Offizierin während der Prüfung im Treibholz und ertrank, weil sie sich nicht rechtzeitig befreien konnte. Was Miroslava der Militärschule vorwirft, ist, dass weder das Wetter noch die Risiken berücksichtigt wurden und ihrer Tochter niemand Erste Hilfe geleistet hatte oder den Notfallprotokollen gefolgt war.

Mehr als hundert bewaffnete Soldaten schüchtern die Demonstrierenden ein und filmen sie mit ihren Handys, um sie zum Verlassen der Militärschule zu bewegen. Mütter wie Mercedes, Elizabeth und andere leisten Widerstand und fordern die Militärs mit ihrem Körper, ihrer Stimme, ihrem Blick heraus: „Fasst uns nicht an. Ich fordere Gerechtigkeit für meine Tochter. Wir sind Mütter, die Gerechtigkeit fordern“, schreien sie wütend. Ich höre ihre Worte und halte diesen Moment mit meinem Kopf und meinem Handy fest. Ich sehe Mütter, die wütend und traurig, aber kämpferisch sind. Ebenso sehe ich auch die kalten Blicke der Soldaten. Sie scheinen nicht einmal zu blinzeln. Wo schauen sie hin? Was sehen sie? Fühlen sie überhaupt etwas? Was fühlen sie? Was bedeutet ihr Motto „Ehre, Disziplin, Loyalität“? Ehre für wen oder was? Disziplin über wen oder was? Loyalität gegenüber wem oder was?, frage ich mich. Ich frage mich aus Schmerz und Empörung. Seit 2014, als der Femizid in Ecuador zur Normalität wurde, wurden laut der Stiftung Aldea insgesamt 1.812 Morde aus geschlechtsspezifischen Gründen registriert.

Wir erreichen die dritte und letzte Station, die Polizeischule General Alberto Enríquez Gallo im Stadtteil Pusuquí. Wir Frauen überqueren die Avenida Manuel Córdova Galarza. Der Verkehr kommt für einige Minuten zum Stillstand. In diesem Moment sind wir mehr als hundert. „Taub, blind und stumm am 11. September, warum? Wer hat Germán Cáceres geholfen?“, brüllt Elizabeth. Sie hinterfragt das Schweigen derer, die zur Schule gehören, angefangen von den Auszubildenden bis hin zu hochrangigen Offizieren, sowohl Frauen als auch Männer. Der Korpsgeist und die Institution, auch hier: Schweigen und Straffreiheit. Die Demonstrantinnen legen Rosenblätter und Banner mit den Namen und Fotografien der Frauen ab, die Opfer eines Femizids geworden sind. Eine Performance stellt die brutalen Morde, das Schweigen und die Ungerechtigkeit, die die Körper der Frauen durchdringen, durch weiße Kleidung dar. Lila Farbabdrücke verkörpern das vergossene Blut der Frauen. Die Angehörigen umarmen sich, begleiten einander und geben sich Halt. Die Musik, der Tanz und die Performance für das Leben erschüttern, berühren und geben Halt auch inmitten des Schmerzes. Um 17:40 Uhr wird „Pobre corazón“ (Armes Herz) gespielt, ein Klassiker der ecuadorianischen Musik voller Nostalgie, dessen Rhythmus und Text die Menschen berührt. Die Stimmen der Musiker erklingen in der Luft. Der Refrain lautet:

„Armes Herz, betrübt,

ich kann nicht mehr, aushalten,

und beim Abschied sage ich Lebewohl,

mit der Seele, mit dem Leben,

mit dem Herz, betrübt.“

„Ich bin die Tante von Yuli. Ich bin der Vater von Majhito“. So stellen sich die Angehörigen der ermordeten Frauen vor. Ihre eigenen Namen sind auf der Strecke geblieben; sie präsentieren sich it den Namen ihrer verstorbenen Familienmitglieder. Inmitten des Schmerzes, den ich als meinen eigenen wahrnehme, umarme ich eine meiner Freundinnen. Wie wunderbar diese Umarmung! Ich kann sie noch umarmen, und sie mich, denke ich.

„Der Tod von María Belén ist wie ein Stoppschild gegenüber all den Aggressionen. Wir stehen hier für die Wahrheit, Gerechtigkeit, Wiedergutmachung und dafür, dass sich solche Dinge nicht wiederholen. Ich schicke an all die Frauen, die dort drinnen sind, eine schwesterliche Umarmung. Versteht, dass der Verlust einer Tochter einer Mutter die Seele herausreißt, und der Verlust einer Mutter, wie ihn Isaac erlebt hat, nimmt einem für den Rest des Lebens die Kraft zu lächeln“, das ist die Botschaft von Elizabeth an die Frauen, die bei der Polizei arbeiten.

Elizabeth ruft und die Frauen stimmen mit ein:

„Für María Belém. Wir geben nicht auf.

Für Aidita. Wir geben nicht auf.

Für Pamela. Wir geben nicht auf.

Für alle Frauen. Wir geben nicht auf.

Für unsere Töchter Wir geben nicht auf.

Für sie alle. Wir geben nicht auf.“

Am 11. September 2024 jährte sich der Femizid an María Belén Bernal zum zweiten Mal. Heute denke ich an sie und an die Tausenden von Frauen, die durch patriarchale Gewalt ermordet wurden. Sagt mir, wie soll ich mich nicht empören, wenn Mütter selbst zu Anwältinnen werden müssen, auf der Suche nach Gerechtigkeit? Sagt mir, wie soll ich mich nicht empören, wenn Frauen und Mütter nicht aufhören können, für ihre Töchter und alle anderen zu kämpfen? Was mich tröstet und auffängt, ist das Wissen darum, dass noch jemand anderes den Schmerz spürt, denn wie die Aktivistinnen und Verteidigerinnen des Lebens sagen: „Dein Kampf ist mein Kampf“. Und solange das so bleibt, gibt es Gerechtigkeit.

Es schmerzt in einem Land mit einem patriarchalen, gewalttätigen, abwesenden, nachlässigen Staat zu leben, der stumm bleibt und sich noch vieles mehr zu Schulden kommen lässt. Diesen Text schreibe ich nicht als Journalistin; ich schreibe ihn als das Mädchen, dass ich einst war und als die erwachsene Frau, die ich jetzt bin; als Tochter und Enkelin zweier Frauen, die ebenso irgendwann in ihrem Leben patriarchale Gewalt erlebt haben. Ich schreibe den Text, weil es auf diesem Leidensweg auch Hoffnung, Liebe und Kampfgeist gibt.

Übersetzung: Valerie Sy

 

 

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