(Mexiko-Stadt, 15. August 2019, Pie de Página).- Am 5. August bestätigte der Bundesgerichtshof in Mexiko den Beschluss, dass es Aufgabe des Staates ist, das Recht auf Abtreibung nach einer Vergewaltigung landesweit durchzusetzen. Dieses Gesetz NOM046 wurde bereits 2016 verabschiedet. Voraussetzung dafür, dass es zur Anwendung kommt, ist, dass die betroffene Person erklärt, vergewaltigt worden zu sein. Wie Feministinnen jedoch berichten, setzen sich in Bundesstaaten wie Aguascalientes und Baja California die Konservativen, die gegen die Reform gestimmt hatten, über die gesetzliche Regelung hinweg. Bereits kurz nach der Verabschiedung des Gesetzes wurde es von den beiden genannten Bundesstaaten aufgrund angeblicher Verfassungswidrigkeit nicht angewendet. Nach drei Jahren hat der Bundesgerichtshof diese Begründung nun zurückgewiesen. Feministische Organisationen betonten jedoch, dass der freie Zugang zu Abtreibung nach sexueller Gewalt trotzdem nicht gegeben sei, da es den Konservativen in den beiden Bundesstaaten gelinge, bürokratische und moralische Hindernisse zu überwinden und sich über den Beschluss hinwegzusetzen.
Die Situation in Aguascalientes
In diesem Bundesstaat gebe es keine Ärzt*innen, die die Durchführung eines Schwangerschaftsabbruchs mit ihren moralischen Prinzipien und religiösen Überzeugungen vereinbaren könnten. So zumindest argumentieren die Gesundheitszentren, um die Durchführung straffreier Abbrüche nach einer Vergewaltigung zu umgehen. Wer sich nach einer Vergewaltigung für einen Schwangerschaftsabbruch in einer staatlichen Gesundheitseinrichtung anmeldet, muss mit einer mehr als zwölfwöchigen Wartezeit rechnen. Damit läuft die Frist, in der legal abgetrieben werden kann, ab. Andere Frauen werden mit der Begründung abgewiesen, es gebe nicht genügend Personal, das den Eingriff durchführen würde. Für die Anwältin Marcela Martínez Roaro liegt hier ein Rechtsbruch seitens des Bundesstaats vor: „Das Gesetz NOM046 sieht vor, dass für genügend Personal zu sorgen ist. Also wird hier geltendes Recht einfach nicht erfüllt, und zwar nicht, weil kein Personal da ist, sondern weil die Bereitschaft fehlt”. Die Feministin der ersten Stunde kämpft seit über 20 Jahren für Frauenrechte in Aguascalientes. Die Führungselite des Bundesstaates stelle ihren Glauben über geltendes Recht; dies sei ein klarer Verstoß gegen die NOM046, das Opferschutzgesetz und die Frauenrechte, erklärt sie aufgebracht. Dass moralische und religiöse Einwände zu berücksichtigen seien, ist sogar in der Gesetzesverordnung NOM046 enthalten. Doch dies wird von den staatlichen Gesundheitseinrichtungen benutzt, um vergewaltigten Personen, die nicht auch noch das Kind des Täters auf die Welt bringen wollen, das Recht auf Abtreibung vorzuenthalten.
Lourdes Mártinez ist seit 17 Jahren im Bereich der reproduktiven Gesundheit im Programm Häusliche und Sexuelle Gewalt tätig und weiß, wie es in der Praxis aussieht: „Wie sollten die hier einen Schwangerschaftsabbruch durchgehen lassen, wo doch die derzeitige Regierung so eng mit der Nationalen Front für die Familie verbandelt ist? Außerdem wissen sie genau: Wenn sie einmal nachgeben, werden sie das immer wieder tun müssen.” Wenn eine Frau nach einer Vergewaltigung versucht, sich in Aguascalientes für einen Schwangerschaftsabbruch anzumelden, werde ihr alles Mögliche angeboten, damit es nicht zu dem Abbruch kommt, erzählt Lourdes: Adoptionsprogramme, finanzielle Unterstützung während der Schwangerschaft und (dieser Vorschlag wird am häufigsten gemacht) die Empfehlung, den Abbruch in Mexiko-Stadt durchzuführen.
Eigentlich reicht das Wort der betroffenen Person
Im Laufe ihres 10 jährigen Bestehens hat die zivilgesellschaftliche Organisation Abtreibungsfond für soziale Gerechtigkeit MARIA (Mujeres, Aborto, Reproducción, Información y Acompañamiento = Frauen, Abtreibung, Fortpflanzung, Information und Begleitung) 133 Frauen aus Aguascalientes zu ihrem Schwangerschaftsabbruch in Mexiko-Stadt begleitet. Dort befindet sich die einzige Klinik, in der es möglich ist, innerhalb der ersten zwölf Wochen der Schwangerschaft einen freiwilligen Abbruch durchführen zu lassen. Selbst Ärzt*innen rieten dazu, nach Mexiko-Stadt zu fahren, erzählt Lourdes. Auch sie hat für den Fond MARIA Frauen in die Hauptstadt begleitet. „Die Ärzt*innen haben Angst, den Abbruch vorzunehmen, weil sie die Aussagen der Betroffenen anzweifeln. Über den Wahrheitsgehalt zu entscheiden, steht ihnen eigentlich gar nicht zu, aber sie fürchten, dass sie betrogen werden und in rechtliche Schwierigkeiten geraten.” Dabei sei gerade der Ansatz der NOM046, der betroffenen Person grundsätzlich zu glauben, ein wichtiger Fortschritt für die Frauenrechte, meint Daniela Tejas, Koordinatorin des Fondo MARIA: „In einem Kontext, in dem den Betroffenen fast nichts geglaubt wird, ist das auf jeden Fall ein symbolischer Fortschritt. Außerdem hilft diese Praxis, Hürden abzubauen und Frauen den Zugang zu sicheren und straffreien Abtreibungen zu ermöglichen”. Die konservative Mehrheit unterbinde jedoch die Ausübung der Frauenrechte, darin sind sich Lourdes Martínez und Marcela Martínez Roara einig. Und es sei auch davon auszugehen, dass das fürs Erste so bleiben werde, so die Feministinnen.
Die Macht der katholischen Kirche
Wie Marcela Martínez Roara ist auch Verona Valiencia ein Urgestein der feministischen Bewegung in Aguascalientes. Beide unterstützen heute die jüngere Generationen der Feminist*innen. Eine der größten Schwierigkeiten bereite nach wie vor das enge Verhältnis des Staats zur katholischen Kirche: „Die Regierung von Aguascalientes hat sich schon immer am Bischof der Diözese orientiert. Seit Jahren leiten sie schon gemeinsam die Initiative ‚Das Leben beginnt mit der Empfängnis’“, erzählt Valencia. Dazu Marcela Martínez: „Das Problem ist nicht die Gesetzeslage, das Problem sind die gelebte Praxis und die Behörden, die persönliche und religiöse Überzeugungen höher bewerten als das geltende Recht.”, konstatiert die Feministin empört.
Angie Contreras, ebenfalls Aktivistin der feministischen Bewegung in Aguascalientes erinnert sich an die Aussagen der katholischen Kirche: „Als die Diözese von der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs erfuhr, hat Bischof Martín José María de la Torre gleich in seiner wöchentlichen Pressekonferenz erklärt, man werde sich nicht unterwerfen, sondern standhaft an seinen Überzeugungen festhalten.” Erhebungen des Nationales Institut für Statistik und Geographie INEGI zufolge sind 92 Prozent der Bevölkerung katholisch. Für Lourdes und die anderen Feminist*innen liegt es auf der Hand, dass die Interessen der Kirche vor denen des „laizistischen“ Staats stehen und dass die konservative Mehrheit in der Bevölkerung die Umsetzung der NOM46 zu unterbinden weiß.
Einer der fortlaufenden Kämpfe ist die Mobilisierung gegen die Initiative „Das Leben beginnt mit der Empfängnis“, die seit 2002 alle fünf Monate im Kongress eingebracht werde, erzählt Contreras. Beim letzten Mal habe eine Frauengruppe vor dem Kongress protestiert und der Vorschlag wurde mit einer knappen Stimmenmehrheit abgewiesen. Die Feministinnen wissen, dass dies nicht der letzte Versuch war.
In Aguascalientes sei die feministische Bewegung sehr jung, erzählt die Lehrerin Marcela Martínez. Als sie und Verona Valencia aktiv wurden, seien sie nur sehr wenige gewesen: „Vor 20 Jahren gab es überhaupt nichts. Die Bewegung steckte noch ganz am Anfang und die Aktivist*innen waren alle sehr jung. Aber es wird, und nach und nach bringen wir die Frauenstandpunkte in der Politik unter.”
Die Situation in Baja California
In Baja California gaben christlichen Gruppen vor, nicht gewusst zu haben, dass die NOM046 bereits seit drei Jahren existiert. Nach der Ratifizierung der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs, die besagt, dass nach einer Vergewaltigung bis zur zwölften Schwangwerschaftswoche straffrei abgetrieben werden kann, organisierten kirchliche Kreise eine Pressekonferenz und erklärten, man werde diese Praxis nicht übernehmen. Sie befürchteten, dass nun massenhaft Frauen behaupten würden, vergewaltigt worden zu sein, um straffrei abtreiben zu können. Nach Auffassung des feministischen Begleitkollektivs Las Borders ist dies keine schlüssige Begründung, als ob Frauen Freude an einer Abtreibung hätten.
Las Borders bietet virtuelle Begleitung und Beratung für Frauen in ganz Mexiko, die sich entscheiden abzutreiben. Die Initiative gründete sich in Baja California, nachdem zwei der Gründungsmitglieder ihre Erfahrungen mit Abtreibung zusammengetragen und beschlossen hatten, dass keine Frau, die abtreiben möchte, sich jemals wieder einsam fühlen oder Angst haben muss. Die fünf Mitglieder baten darum, bei ihrem Bericht nicht namentlich genannt zu werden, um ihre Sicherheit nicht zu gefährden. „Die Regierung von Baja California argumentiert, dass noch nie Frauen gekommen sind, die vergewaltigt wurden und sich für eine Abtreibung anmelden wollten. Traurigerweise ist der Bundesstaat für seine konservative Grundhaltung bekannt. Wir kennen Paulinas Fall: Der Krankenhausleiter und eine Gruppe von Frauen haben auf sie eingeredet und ihr Angst gemacht. Am Ende beschloss sie, das Baby zur Welt zu bringen”, erzählt eine der Aktivistinnen. In den vergangenen zehn Jahren hat Fondo MARIA vier Frauen aus Baja California begleitet, die nach einer Vergewaltigung abtreiben wollten. Wie die Las Borders-Aktivist*innen erzählen, entscheiden sich viele Frauen, den Abbruch mit Hilfe des Hormonpräparats Misoprostol selbst durchzuführen. Die Aktivist*innen sind der Meinung, der Widerstand gegen die NOM046 sei auf die verbreitete konservative Weltsicht und die Doppelmoral der Bevölkerung zurückzuführen, die kein Mitgefühl gegenüber den wirtschaftlich benachteiligten Frauen empfinde.
Im Jahr 2008 wurde eine Verfassungsreform gebilligt, die vom Beginn des menschlichen Lebens ab dem Zeitpunkt der Empfängnis ausgeht. „Die Mehrheit der Menschen aus der gehobenen Mittelklasse kann einfach nach San Diego in Kalifornien gehen und dort abtreiben, ihr Gewissen reinwaschen und in ihr normales Leben zurückkehren. Am härtesten trifft es Frauen in prekären Lebensumständen. Diese Gegend hier war immer Hochburg der konservativen Partei, jeder weiß, dass sie eng mit der katholischen Kirche verwoben ist.”, so eine der Aktivistinnen.
Mehr Information über Schwangerschaft, Abtreibung und die Rechtslage
Ein wichtiger Teil der Arbeit von Las Borders ist der Informationsaustausch zum Abtreibungsrecht. Hier wurde klar, dass insgesamt wenig über die Ausübung dieses Rechts bekannt ist. Selbst einigen Frauen aus Mexiko-Stadt, die die Begleitung in Anspruch genommen hatten, war nicht bekannt, dass in ihrem Bundesstaat Abtreibungen bis zur zwölften Schwangerschaftswoche generell straffrei sind. „Wir haben ein kleines Treffen in der Medizinischen Fakultät der Universität von Baja California veranstaltet und die Teilnehmenden – selbst die, die kurz vorm Examen standen – hatten bisher noch nie von der NOM046 gehört. Daher nehmen wir an, dass auch beim medizinischen Personal ein Informationsdefizit herrscht. Und auch wenn wir die Sache mit den Gewissens- und Glaubensgründen im Prinzip respektieren, wissen wir auch, dass die Gesundheitseinrichtungen extra Steine in den Weg legen, damit die 12-Wochen-Frist verstreicht und die Frauen nicht mehr legal abtreiben können”, erzählt die Aktivistin. Nach Ansicht von Las Borders bekommen angehende Mediziner*innen bereits in den Hörsälen eine konservative Bildung und Fehlinformationen mit auf den Weg gegeben: „Die Mehrzahl der Ärzte spricht nicht von Fötus oder Embryo sondern von Baby. Das macht die Suche nach Verbündeten nicht eben leichter, trotzdem ist es uns gelungen, die eine oder andere Ärztin zu finden, der es gelingt, Zweifel auszuräumen.” Auch Daniela Tejas von Fondo MARIA ist der Ansicht, dass bezogen auf das Thema Abtreibung in Mexiko viel Unkenntnis herrscht: „Eigentlich sollten die Gesundheitseinrichtungen umfassende Informationen liefern können, aber die Krankenhäuser sträuben sich da sehr und über die NOM046 wird fast nirgendwo gesprochen. Angesichts der zahlreichen Sexualverbrechen müssten diese Infos flächendeckend verbreitet werden, aber das passiert nicht. Das können nicht allein die feministischen Organisationen übernehmen, da müssen auch Regierungsverbände und Medien einsteigen und das publik machen, dass Frauen direkt auf diese Gesundheitsdienstleistung zurückgreifen, dass Frauen sich direkt ans die Gesundheitszentren wenden können, ohne erst den Umweg über die Behörden zu machen,” so Daniela Tejas.
Und zum Kampf gegen das Informationsdefizit sagen die Feminist*innen aus Baja California: „Man muss gegen die Stigmatisierung vorgehen. Es muss mehr über dieses Thema gesprochen werden. Die Leute müssen darüber Bescheid wissen, dass sie das Recht haben zu entscheiden, gehört zu werden, weiterzukommen, statt im Trauma zu erstarren, sich begleitet zu fühlen während des gesamten Prozesses, vorher, währenddessen und danach. Deshalb haben wir uns mit anderen zusammengeschlossen, denn es ist toll, zu wissen, dass wir viele sind und für das Gleiche kämpfen.”
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