Perspektiven und Probleme intersektional betrachten

(Havanna, 29. November 2022, Red SEMLAC).- Nach und nach findet der intersektionale Ansatz Eingang in die sozialen Analysen und den Umgang mit den verschiedenen Formen patriarchaler Gewalt in Kuba. Afrofeministinnen aus dem akademischen Spektrum, Cyber-Aktivistinnen, Unternehmerinnen, Künstlerinnen und Frauen aus der Stadtteilorganisierung haben diese Entwicklung wesentlich vorangetrieben.

Während ihres mehr als 30-jährigen Engagements als Sozialpsychologin und Aktivistin hat Norma Rita Guillard Limonta beobachten können, wie sich verschiedene Formen der Unterdrückung bei schwarzen, lesbischen, trans oder HIV-positiven Frauen überschneiden. Zusätzliche Faktoren wie ein migrantischer Hintergrund, Armut, eine Behinderung, ein ländliches Umfeld oder ein gehobenes Lebensalter verstärken den Grad der Unterdrückung. Die Vorsitzende der Sektion Identität und Diversität in der sozialen Kommunikation im Kubanischen Psycholog*innenverband warnt vor den Folgen von Missachtung und Gewalt, die schon von klein auf erlebt werden, da hegemoniale Muster kulturell verankert seien und durch familiäre Beziehungen und Gewohnheiten weitergegeben würden. Guillard Limonta ist Mitglied im Vorstand des Kubanischen Netzwerks von Frauen afrikanischer Abstammung. Als Aktivistin leistet sie einen zentralen Beitrag zur Untersuchung der geschlechtsspezifischen Gewalt in Kuba.

Warum ist die intersektionale Analyse von Gewalt gegen Frauen und Mädchen so wichtig?

Es gibt viele Überschneidungen bei einem geschlechtsspezifischen Gewaltakt, weshalb der Einbezug aller beteiligten Faktoren in die Untersuchung unabdingbar ist. Die Analyse mit intersektionalem Fokus impliziert von Anfang an die Suche nach dem Ursprung der Ungleichheit, der Ungerechtigkeit und vor allem die Frage nach den Privilegien, die dem Besitz von Macht zugrundeliegen. Es geht darum, das hegemoniale Paradigma des weißen, heterosexuellen Mannes offenzulegen, der so lebt, als hätte er eine Generalerlaubnis, sich immer und überall als Besitzer und Hausherr aufzuführen. Die intersektionale Untersuchung ist wie ein Vergrößerungsglas, das die verschiedenen Formen von Unterdrückung veranschaulicht, die wir als Frauen*, als Mädchen und vor allem eben als schwarze und indigene Frauen* erleben. Der Ansatz erlaubt es uns, Personen, die als minderwertig angesehen wurden, aus dieser pauschalisierenden Abwertung zu befreien, Schemata aufzubrechen, mit denen jahrzehntelang verschiedene Formen von Gewalt ausgeübt wurden, und schrittweise ein geschichtlich verankertes Herrschaftssystem aufzubrechen. Seit Beginn der Sklaverei haben wir zahlreiche verschiedene Unterdrückungsformen erlebt, in denen Geschlecht, soziale Klasse, ethnische Abstammung und Sexualität interagiert und verschiedenen Formen von Aggression und Gewalt provoziert haben. Es ist an der Zeit aufzuwachen, und da ist die intersektionale Analyse sehr hilfreich und unterstützend – und deshalb von zentraler Bedeutung.

Wie sollte sich dieser Ansatz Ihrer Meinung nach auf die Bekämpfung von geschlechtsspezifischer Gewalt auswirken?

Die Theorie der Intersektionalität ist ein neuer Ansatz, der es ermöglicht, Ungleichheiten zu identifizieren und zu untersuchen. Dadurch gelangen genau diejenigen Aspekte, die sonst oft unsichtbar bleiben, in den Fokus einer kritischen Untersuchung. Antworten auf die verschiedenen Formen geschlechtsspezifischer Gewalt findet man nur, wenn man den intersektionalen Ansatz einbezieht, das gilt auch für die öffentliche Politik. Nur so lassen sich die verschiedenen Formen von Betroffenheit wirklich präzise identifizieren, und nur indem die unterschiedlichen Faktoren einbezogen werden, die im Leben von Frauen und Männern eine Rolle spielen, kann die Politik entsprechend reagieren und die Bekämpfung von Ungleichheiten multidimensional angehen. Eine andere Möglichkeit, den intersektionalen Ansatz einzubinden, wäre, sich die strukturellen Grundlagen sexistischer, rassistischer und schichtenspezifischer Konstruktionen vorzunehmen, sie in ihrem sozialen Kontext zu analysieren und zu untersuchen, wie sie sich auf die Betroffenen auswirken und ihre Fähigkeit, die eigene Unterdrückung zu erkennen, beeinträchtigen. Wenn es um die Untersuchungen von Gewalt geht, könnte man Variablen wie Privilegien oder Ausgrenzung miteinbeziehen und Ungleichheiten mitberücksichtigen, die sonst eher heruntergespielt und daher nicht immer so deutlich wahrgenommen werden. Man könnte auch eine sozialwissenschaftliche Perspektive einnehmen und die Situation aus einem psychologischen Blickwinkel betrachten, um detaillierter verstehen zu können, wie verschiedene Unterdrückungssysteme arbeiten und sich in einem bestimmten Kontext verbinden und so das Leben der Menschen beeinflussen.

Inwiefern trägt der kubanische Afrofeminismus zur intersektionalen Betrachtung von Diskriminierung als Form von geschlechtsspezifischer Gewalt bei?

Im kubanischen Afrofeminismus sind Dekolonialisierung und die Konfrontation mit unserer historischen Unterdrückung wichtige Themen. Wir brechen bewusst Denkmuster auf, um Veränderungen in den Köpfen herbeizuführen. Es gibt bereits verschiedene unabhängige Gruppierungen und Zusammenhänge, die sich, teils explizit, teils nicht explizit, mit Afrofeminismus und Antirassismus auseinandersetzen. Sie fordern die Anerkennung ihrer Geschichte als Schwarze Personen bis weit in die Vergangenheit hinein; sie benennen die verschiedenen Formen von Diskriminierung und Rassismus, von denen sie häufig ausgegrenzt werden, und versuchen, sich dem entgegenzustellen. In Kuba gibt es verschiedene Projekte und Bereiche, die Schulungen zu Themen anbieten, die sich mit den historischen Formen der Herrschaft, Unterdrückung und Ungleichheiten befassen und Empowerment-Workshops anbieten. Benachteiligte Frauen können ihre wirtschaftliche Situation dadurch verbessern. Die Treffen dieser Frauenvereinigungen setzen auf Stärkung des Selbstwertgefühls und gesellschaftliche Einbindung, so dass die Frauen aufgrund der erlebten Selbstermächtigung den Antrieb bekommen, um für den Unterhalt ihrer Familien zu sorgen. Manche Projekte greifen die Abwertung oder Geringschätzung im Zusammenhang mit Hautfarbe, Haaren oder phänotypischen Merkmalen wie Nase, Mund oder Körperbau auf, die die Betroffene von Geburt an erlebt haben, und vermitteln Möglichkeiten, die eigene ethnische Identität durch Style und Frisuren zu betonen und zu genießen. In den Workshops für Familien wird sich mit Vorurteilen und Stereotypen auseinandergesetzt, die sich in Aussagen wie „sie ist genauso schwarz wie ihre Großmutter“, „diese Haare kann doch niemand bändigen“, was für dicke Lippen die Natur ihr verpasst hat“, „was für eine breite Nase“ oder „hübsches Mädchen, aber leider hast du die Nase deines Vaters“ widerspiegeln. Solche Äußerungen prägen ab der frühesten Kindheit die Konstruktion der eigenen Subjektivität; aber jetzt, wo ein größeres Bewusstsein dafür herrscht, kann man auf die familiäre Erziehung Einfluss nehmen und die Betroffenen mit Handlungshilfen ausstatten, wenn sie außerhalb des Elternhauses auf Probleme oder Hindernisse stoßen. Auch das Fehlen nicht-rassistischer Vorbilder und die Grenzen des Bildungssystems oder des sozialen Umfelds der Gemeinschaft als schützendes und ausgleichendes Element für den Umgang mit rassistischen Stereotypen und Vorteilen werden hier thematisiert.

Hier in Kuba arbeitet unser Netzwerk [Red Cubana de Mujeres Afrolatinoamericanas, Afrocaribeñas y de la diáspora: Kubanisches Netzwerk lateinamerikanischer und karibischer Frauen afrikanischer Abstammung und ethnischer Minderheiten] daran, diese antirassistischen Zusammenhänge gezielt anzusprechen und zu unterstützen. Wir wollen deutlich machen, dass das Leben in einer rassistischen Kultur mit Gewalt einhergeht und dass die Angst vor „dem Schwarzen“ noch immer Realität ist. Außerdem wollen wir eine Beobachtungsstelle einrichten, die sich mit der Diskriminierung in den Medien, in der Literatur und in allen anderen Formen der öffentlichen Kommunikation auseinandersetzt. Auch die Untersuchung der Bedeutung der Spiritualität aus psychologischer Perspektive sowie der Macht der Werte, der aus den afrikanischen und indigenen Kulturen überlieferten Kodexe steht noch aus. Diese Komponenten werden traditionell in Untersuchungen ausgelassen und verschwiegen. Einer der jüngsten Fortschritte ist die Bildung des Netzwerks Articulación Afrofeminista Cubana, dem sich alle Gruppen, Zentren und Projekte anschließen können, die zu diesen Themen arbeiten, um gemeinsam gegen jede Form und Facette von Gewalt und Diskriminierung vorzugehen. Die Bewegungen wachsen auch mit Hilfe des staatlichen Programms gegen Rassismus und Diskriminierung. Außerdem wurde eine Regierungskommission gegründet, die diese Themen auf Landesebene zusammenbringt und diskutiert. Aber – trotz einzelner Fortschritte – bleibt noch einiges zu tun, um effektiver gegen die verschiedenen Formen von Gewalt und Rassismus vorzugehen. Dazu müssen alle gesellschaftlichen Bereiche für diese Themen sensibilisiert werden.

Übersetzung: Chantal Diercks

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