(Lima, 15. Dezember 2020, ANRed).- Als Gastdozentin für Gender Studies an der Universidad de Peru in Lima sprach die argentinische Anthropologin und Feministin Rita Segato zum Thema „Neue Politisierung in Zeiten der Pandemie und die neuen Feminismen“. Zur gegenwärtigen Abtreibungsdebatte in Argentinien erklärte Segato: „Der Gesetzesentwurf wird durchkommen, aber im Anschluss gilt es, mit der gesellschaftlichen Heuchelei aufzuräumen, sonst wird es schwierig, das neue Gesetz in die Praxis umzusetzen. Die Entkriminalisierung ist ein wichtiger Schritt, keine Frage. Der Kampf muss jedoch immer auch in der Gesellschaft geführt werden. Der Staat und seine Gesetze sind nur ein Bereich, kein Kampf um Veränderung kann auf den staatlichen Bereich der Gesetzgebung beschränkt bleiben. Ein großer Teil der Gesellschaft ist unzufrieden, und er bewegt sich leider auch außerhalb des staatlichen Einflusses und seiner Institutionen.“
ANRed: Ich wollte mit dir über das Gesetz zum freiwilligen Schwangerschaftsabbruch sprechen, das gerade von der Abgeordnetenkammer in Argentinien verabschiedet wurde. Sobald das Gesetz vom Senat ratifiziert ist, wird Argentinien neben Mexiko, Kuba und Uruguay zu den wenigen lateinamerikanischen Ländern gehören, in denen Abtreibung nicht als Verbrechen gilt. Welchen Stellenwert hat die Gesetzesänderung? Noch agiert das Patriarchat als gewalttätige Ordnungsmacht, die die Körper und das Verlangen von Frauen kontrolliert. Meinst du, damit ist bald Schluss?
Rita Segato: Ich denke, wir sind nahe dran an diesem Schritt, an dieser grundlegenden Veränderung, und das aus mehreren Gründen. Unsere Antagonisten in diesem historischen Projekt sind ultra-rechte Kräfte, die sich der Spiritualität vieler Menschen bemächtigt haben und die Kirchen dominieren. Auf unserem Kontinent, und in Peru ist es ganz offensichtlich, ist die Kirche von rechten Kräften durchsetzt, die sich mit Händen und Füßen gegen die Entpatriarchalisierung zur Wehr setzen. Das wiederum führt uns vor Augen, dass die Bekämpfung des Patriarchats der revolutionäre Prozess schlechthin ist: keine Revolution ohne vorherige Abschaffung des Patriarchats! Das ist der erste Schritt zur Beendigung von Hierarchien und Mächten, von Entrechtung und Ungleichheit, der Prototyp der revolutionären Umwälzung. Die Eile, die Angst und Verzweiflung, mit der unsere Gegner versucht haben, Menschen gegen unser Vorhaben zu mobilisieren, sagen uns: Es geht voran mit unserem Kampf. Wir mussten viele Schwierigkeiten überwinden, aber die Stimme des Feminismus hat sich überallhin ausgebreitet und sich im gesamten diskursiven Raum ihren Platz erobert. Es gibt heute kein Diskursspektrum, keinen literarischen oder kommunikativen Raum, keine Wahlkampagne und keine Gesetzgebung, die es sich leisten könnte, die Geschlechterfrage auszublenden, und sei es nur, dass emanzipatorische Standpunkte reine Alibifunktion haben. Was also den Aspekt des Diskursiven angeht, haben wir in den letzten zehn Jahren unheimlich viel erreicht, was das Thema Gewalt angeht, leider nicht, noch nicht. In verhältnismäßig kurzer Zeit ist es uns gelungen, unsere Forderungen, unsere Themen und unsere Positionen überall zu platzieren. Die verzweifelten Versuche, sich uns in den Weg zu stellen, zeigen uns, wie wichtig dieser Weg ist. Wenn man sich beispielsweise diese Bewegung #Con mis hijos no te metas („Lasst unsere Kinder in Ruhe“) und ihr reflexartiges Festhalten am traditionellen Familienmodell anguckt, kann man sehen, dass wir schon einen weiten Weg gegangen sind.
Für das Patriarchat ist Abtreibung ein neuralgisches Thema
Aber wie erreicht man, dass sich die Welt verändert? Das Thema Abtreibung ist zentral, aber das ist die Transformation von Männlichkeit auch. Die Demontage des Mandats der Männlichkeit ist ein wichtiger Prozess, den viele Männer in ihrem privaten Leben in Angriff nehmen, als Einzelpersonen darüber reflektieren oder sich in Gruppen zusammentun, um männlichen Ungehorsam als politischen Akt zu entwickeln… Abtreibung jedoch ist ein neuralgisches Thema, ein Schwerpunkt des Patriarchats, anders ist es nicht zu erklären, wieso Abtreibung so viel Gegenwehr mobilisiert. Lass uns einmal ruhig und vernünftig darüber nachdenken, was es mit der Verteidigung dessen, was Leben genannt wird, auf sich hat. Sagen wir mal, Salat ist Leben. Wenn wir ihn essen, wird niemand dem Salat hinterherweinen. Leben ist ein so großes Wort. Es wird davon ausgegangen, dass in dieser Ansammlung von Zellen so etwas existiert wie eine Person, diese Zellansammlung besitzt keine körperliche oder moralische Autonomie, ist in jeder Hinsicht abhängig vom Körper der Mutter; stirbt ihr Körper, stirbt auch dieser Fötus, zumindest bis zu einer bestimmten Anzahl von Monaten. Unter Umständen wird das Leben des Fötus auch über den Tod der Mutter hinaus erhalten, so einen Fall zeigt zum Beispiel der großartige Film „¡Que sea Ley!“ von Juan Solanas. Ein junges Mädchen auf dem Land war an Krebs erkrankt. Sie ließen sie unter extremen Schmerzen sterben, ein Arzt und ein örtlicher Priester ließen sie ans Bett fesseln, bis sie starb, weil die katholische Familie sich entschieden hatte, den Fötus zu schützen. Mehrere kleine Kinder wurden zu Waisen. Damit das Baby zur Welt kommen kann, haben sie das Leben der Mutter geopfert, und das war wirklich ein Opfer. In dem Film sieht man ihr Gesicht, man sieht, wie sie leidet.
Die Kriminalisierung von Abtreibungen bedeutet Aggression und Gewalt gegen Frauen
Den Abtreibungsgegnern geht es um Aggression und Gewalt gegen Frauen, der Schutz des ungeborenen Lebens ist eigentlich Nebensache. Das ist ganz leicht zu beweisen. Wenn man sich anguckt, was mit den so genannten Retortenbabys passiert, erkennt man eine absolute Inkonsistenz, Inkongruenz, rechtliche Inkohärenz. Machen wir uns nichts vor: Die durch In-vitro-Fertilisation entstandenen Reagenzglas-Embryonen, die Reagenzglas-Babys werden zu einem großen Teil einfach weggeworfen. Da gibt es ein rechtliches Vakuum. Warum wird im Kontext von Abtreibung nicht auch ein rechtliches Vakuum geduldet? Retortenbabys interessieren niemanden, weil es keine Mutter dazu gibt, es steht keine Frau dahinter. Es gibt keine Auswirkungen auf das Leben irgendeiner Frau. Ich wüsste kein Beispiel einer rechtlichen Inkonsequenz von solch einem Ausmaß wie das rechtliche Vakuum im Zusammenhang mit Reagenzglas-Embryonen. Mehrere Eizellen werden befruchtet, eine wird eingepflanzt und die anderen werden aufbewahrt. Wie lange? Wie viele gibt es? Weltweit wahrscheinlich Tausende. Sie werden ein paar Jahre aufbewahrt, dann wird der Strom abgeschaltet. Und das Rechtsvakuum? Dann sollen sie es doch wenigstens einheitlich handhaben und ein rechtliches Vakuum bezüglich der Abtreibung einführen, aber nein. Das Beharren auf Kriminalisierung der Abtreibung ist ein Beharren auf der Kriminalisierung von Frauen, deren Lebenssituation es nicht hergibt, Mutter zu sein.
Frauen treiben ab, um das Leben ihrer Kinder zu schützen
Die Dozentin und Philosophin Ana Amuchástegui führt seit mehreren Jahren eine sehr wichtige Untersuchung in Mexiko-Stadt durch. Schwangerschaftsabbrüche können dort legal durchgeführt werden. Amuchástegui sprach mit Frauen, die abgetrieben hatten, und fand heraus, dass die meisten Frauen sich nicht zu diesem Schritt entschlossen hatten, um der Rolle der Alleinerziehenden zu entgehen, sondern um das Überleben ihrer übrigen Kinder zu schützen. Das heißt, um zu vermeiden, dass Leben gefährdet wird, das in gewissem Maße bereits in Not war. Das ist weibliches praktisches Denken, eine weibliche Art, die Dinge anzugehen: Man kümmert sich um das, was da ist und sorgt für das Leben.
Sogar die Nichte des Bischoffs würde abtreiben, wenn es sein muss
Das gesetzliche Abtreibungsverbot hatte noch nie eine symbolische Wirkung, und ohne symbolische Wirkung keine materielle Wirkung, das ist meine Schlussfolgerung. Niemand lässt sich davon abbringen abzutreiben, sogar die Nichte eines Bischofs würde abtreiben, wenn für sie die Notwendigkeit bestünde, ihre Schwangerschaft zu unterbrechen. Die Tatsache, dass es ein Gesetz gibt, das Abtreibung verbietet, hindert niemanden, es trotzdem zu tun. Darin zeigt sich, dass das Gesetz nicht dazu gedacht ist, Verhalten zu steuern. Das Gesetz hat keine kausale Wirkung, es überzeugt nicht. Ein Gesetz braucht eine symbolische Wirksamkeit, die überzeugt, damit sie sich auf das Verhalten der Menschen auswirkt. Hier stellt sich die andere Frage: Warum der Kampf um das Gesetz? Um zu zeigen, wer in einem Land die Macht hat, Gesetze zu machen. Wer führt die Feder, die das Gesetz schreibt? Eine Gruppe grün angemalter Mädchen, die eine ganze Nacht lang feiernd und singend und einander umarmend auf der Straße verbringt – dürfen die das Gesetz schreiben? Sollen die Staatsgeschäfte etwa in die Hände dieser Mädchen gelegt werden? Unmöglich, die herrschende Vision von Gesetz und Staat lässt es nicht zu, dass ein Feld von solcher Macht und Autorität so einfach übergeben wird. Auch hier geht es wieder viel um Heuchelei, die sehr leicht nachgewiesen werden kann, und das bringt uns zur nächsten Frage: Wird sich ab jetzt die Welt verändern? Wie wir in den europäischen Ländern sehen, ändert sich die Welt nicht durch neue Gesetze, denn dort können Abtreibungen ohne Probleme durchgeführt werden. Wir ahmen die europäischen Länder in allem Möglichen nach, außer in den Punkten, wo es wirklich sinnvoll wäre. Wir sind in allem eurozentrisch, nur nicht da, wo wir es sein sollten. Dafür gibt es hier etliche Argumentationen und Zwischentöne. In Italien verweigern Ärzte die Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen aus Gewissensgründen. Wahnsinn. Als Anthropologin beschäftige ich mich viel mit solchen Fragen. Dann wiederum kenne ich den Fall eines Arzts in meinem Land, der als militanter Abtreibungsgegner ebenfalls Schwangerschaftsabbrüche aus Gewissensgründen verweigert, bei seiner Tochter jedoch eine Abtreibung durchgeführt hat. Sowas gibt es auch! Ich kenne Leute, die dieser Familie sehr nahe stehen, daher weiß ich, dass es stimmt.
Die Weigerung aus Gewissensgründen ist eine Farce
Was bedeutet „Weigerung aus Gewissensgründen“? Wer sind die Abtreibungsgegner in unserer Gesellschaft? Als ich ein Kind war, habe ich öfter diesen Satz gehört: „Ich bin zu einer Engelmacherin gegangen“. Heutzutage ist Option Nummer eins für Frauen, die einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen wollen, eine Reise in ein anderes Land, in dem Abtreibungen legal durchgeführt werden können, der zweite Weg führt in eine teure Klinik, wie es sie in allen lateinamerikanischen Ländern gibt, in der Regel gibt es sogar mehrere. Der dritte Weg ist der Gang zur Engelmacherin. Und wer sind diese Engelmacherinnen? Es sind arme, meist nicht-weiße Menschen, Krankenschwestern, Hebammen. Menschen, die nicht das soziale Prestige einer ärztlichen Position haben. Der Subtext der Weigerung aus Gewissensgründen lautet: Ich werde mich in meinem Beruf nicht auf das Niveau des Engelmachers herablassen. Es geht um den Schutz des Status und des Ansehens des Arztes, der „das Leben schützt“. Und das stimmt noch nicht einmal, denn er schützt kein Leben. Die betroffene Frau wird trotzdem abtreiben, zur Not an einem Ort, an dem sie sterben kann. Das Argument des Lebensschutzes ist eine Farce. So sehe ich das, und ich denke, es wird sehr schwierig sein, das zu widerlegen.
Übersetzung: Lui Lüdicke
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