(La Paz, 2. Juli 2019, npl).- Als sich vor 50 Jahren Schwule in New York gegen Polizeigewalt wehrten, war in Bolivien gerade eine ganz andere Revolution im Gange. Schwule Travesties tanzten auf den großen populären Umzügen, der Gran Poder oder dem Karneval von Oruro und wurden vom Publikum frenetisch gefeiert. Diese Geschichte geriet lange in Vergessenheit, bis vor zwanzig Jahren eine neue Generation schwuler Aktivisten diese Tradition wieder aufnahmen. David Aruquipa hat die Geschichten der China Morenas recherchiert und in einem Dokumentarfilm festgehalten. Thomas Guthmann führte ein Interview mit David Aruquipa, Schwulenaktivist und Direktor der Kampagne für ein Recht auf Bildung.
Wie bereitest du dich auf den Karneval vor?
Karneval ist für mich das ganze Jahr, Karnevalssamstag ist nur der jährliche Höhepunkt. Den Rest des Jahres finden Vorbereitungen statt, die Arbeiten am Kostüm zum Beispiel. Karneval ist ein ritueller Zyklus, den wir mit viel Leidenschaft leben.
Wann hast du zum ersten Mal am Karneval teilgenommen?
Es ist mein 20. Jahr beim Karneval von Oruro. Zunächst bin ich mit wenig Zuversicht zum Karneval gegangen. Ich dachte damals: mal sehen wie es ausgeht. Wir sind damals als Familie Galán, einer Gruppe von Schwulenaktivisten dort hingegangen. Zuvor waren wir in La Paz durch Street Performances aufgefallen. Mit schwindelerregenden Absätzen von bis zu 30 cm, farbigen Perücken, langen lackierten Fingernägeln und angeklebten Wimpern warben wir vor dem Präsidentenpalast und anderen wichtigen Orten des Regierungssitzes um Respekt für die sexuelle Vielfalt. 1999 kam die Idee auf, an den populären Festen teilzunehmen. Wir dachten, verdammt, wenn wir unsere Performances veranstalten, sehen uns vielleicht 50, 100 oder 200 Menschen; wenn wir Seminare zur Sensibilisierung veranstalten, erreichen wir maximal zwei Dutzend Personen. Warum nicht die populären Feste nutzen, wo jährlich mehrere zehntausend Zuschauer*innen da sind.
Was sind die populären Feste oder Umzüge, wie der Karneval in Oruro oder die Gran Poder in La Paz?
Das populäre Fest in Bolivien ist etwas sehr Komplexes, das man nicht nur aus ästhetischer oder folkloristischer Perspektive betrachten darf, sondern vor allem aus einer sozio-politischen Perspektive betrachten muss. Im Fest manifestieren sich die sozialen Beziehungen innerhalb einer lokalen Gemeinschaft und innerhalb der Gesellschaft. Wer tanzt in welcher Vereinigung (Fraternidad), wer bezahlt die Kostüme, die Getränke und so weiter. Hier zeigen sich soziale Beziehungen und auch ökonomische Potenz. Aus historischer Perspektive hat das Fest auch dazu beigetragen, dass die präkolumbianischen Kulturen unter der kolonialen Herrschaft überleben konnten. Die Fest-Umzüge fanden immer zu Ehren eines katholischen Heiligen, wie zum Beispiel Jesus de Gran Poder statt, darin versteckt zeigten sich die andinen Gottheiten, wie Mutter Erde. Die Gran Poder, heute das größte Fest in La Paz, entstand als immer größere Bevölkerungsteile vom Land begannen gen Regierungssitz zu migrieren und sich an dessen Rändern niederließen. Im Norden der Stadt, beim Zentralfriedhof, wo bis heute der Umzug der Gran Poder beginnt, trafen sich von Beginn an alle Ausgeschlossenen der (postkolonialen) Gesellschaft und dazu gehörten neben den ‚Indios‘ und der Boheme auch die Schwulen und die Transen.
Wie war euer erster Auftritt beim Karneval?
Wir waren uns überhaupt nicht sicher. So weit ich mich erinnere, sagten wir damals, warten wir es ab, sollte es nach nach einigen Metern eindeutige Ablehnung wie Pfiffe oder Buhrufe geben, gehen wir aus dem Umzug raus. Stattdessen wurden wir mit Applaus empfangen. Ein wahnsinniges Gefühl, wir dachten wir machen die Revolution!
War dem so? Habt ihr die Revolution gemacht?
Nein, wir wurden auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. Die älteren Zuschauer*innen erzählten uns nach dem Umzug, dass wir sie an Orfelia und Barbarella erinnerten. Wir traten lediglich in ihre Fußstapfen, ohne es zu wissen.
Wer waren Orfelia und Barbarella?
Ich wusste es selber nicht. Für mich war das eine total unbekannte Geschichte. Ich begann zu recherchieren. Es gibt beim Tanz der Morenada eine Figur, die heißt China Morena. Die China Morena war eine weibliche Figur. In den 60er Jahren wurde sie jedoch von Männern getanzt. Auf eine grobschlächtige und burleske Art und Weise. Man musste sehen, dass es Männer sind. Mit Perücke, aber Bart, mit Rock aber den behaarten Beinen. Orfelia lebte in Oruro und begann als schwuler Mann die Rolle der China Morena neu zu definieren. Auch sie tanzte die China Morena, aber mit Minirock, geschminkt, hochhackigen Stiefeln und natürlich mit enthaarten Beinen. Orfelia revolutionierte gewissermaßen die Figur der China Morena. Mit diesem neuen Kostüm kamen Orfelia und weitere Mitstreiter*innen nach La Paz. Dort trafen sie Barbarella. Gemeinsam feierten sie Erfolge bei den Aufzügen. Die neue China Morena schlug ein wie ein Bombe. Die neuen Kostüme verbreiteten sich in Windeseile auf anderen Festen und in La Paz kamen voluminöse Frisuren dazu. Zu dieser Zeit war allen klar, dass es Transvestiten sind, die tanzen. Sie wurden gefeiert wie Stars und bekamen nicht nur die Kleidung bezahlt, sondern wurden auch dafür bezahlt, dass sie bei den Aufzügen auftraten (Normalerweise müssen die Tänzer*innen ihre Ausrüstung und die Band selber bezahlen, Anm. d. I.). Es war die sexuelle Revolution, weil mit ihren attraktiven Outfits plötzlich über sexuelle Wünsche und Verlangen diskutiert wurde, vor allem bei den Frauen. 1975 endete dieser Erfolg.
Warum?
1975 wollte der Diktator Banzer die Unterstützung der städtischen indigenen Bevölkerung. Um diese Bevölkerungsschicht zu umschmeicheln, erlaubte er zum ersten Mal, dass die Gran Poder durch das Stadtzentrum zog. Er empfing den Umzug auf einer Ehrentribüne. Als Barbarella vorbeizog, ging sie kurzentschlossen auf die Tribüne und küsste den Diktator.
Banzer behauptete danach, er hätte nicht gewusst, dass Barbarella ein Mann in Frauenkleider war?
Das kann glauben wer mag, ich bitte dich! Alle wussten, dass sie eine Transe war! Das war eine politische Haltung von Barbarella und Co. Die Geschichte, dass der arme Diktator betrogen wurde, ist lächerlich. Sie wollten immer, dass man sie als Schwule erkannte! Sie wollten nicht als Frauen durchgehen, sondern klar erkennbar sein als Transvestiten. Erst später, als ihre Auftritte verboten wurden, versuchten sie als Frauen durchzugehen. Und Banzer selbst wollte mit seiner Schutzbehauptung den politischen Akt ausradieren, den Barbarella vollzog. Die Diktatur wurde durch einen schwulen Kuss markiert. Das war das Politische und unterstrich die Präsenz der Chinas Morenas.
Was geschah danach?
Es setzte ein moralischer Diskurs ein, mit dem Ziel, den Auftritt der Chinas Morenas gesellschaftlich zu ächten. ‚Diese Schwulen untergraben unsere Sexualmoral‘ wurde kolportiert, oder ‚wir verlieren die Kontrolle über unsere Frauen, sie sind eine gesellschaftliche Gefahr‘. Die Chinas Morenas wurden damals unter dem Aspekt des Genderregimes, das im Land herrschte, diskutiert und nicht als Schwule, die für sexuelle Vielfalt eintraten. Diese Geschichte fing erst in den 90er Jahren mit Mujeres Creando (Frauen Kreieren) oder uns, der Familie Galán, an. Die Chinas Morenas regten vielmehr eine Debatte über den Körper in einer sehr konservativen Gesellschaft unter den Bedingungen der Diktatur an.
Und die Chinas Morenas von damals?
Orfelia lebt noch, viele andere sind gestorben. Es gibt wenige, die die Geschichte erzählen können. Zum einen ist die Lebenserwartung von Transpersonen bis heute sehr niedrig, etwa 35 Jahre, wie du weißt. Viele sind also längst gestorben. Andere, wie Orfelia, haben sich zurückgezogen und eingeigelt. Es war sehr schwer ihr Vertrauen zu gewinnen. Als ich es endlich geschafft hatte, sagte sie mir: ‚Ich habe gesehen, wie du beim Karneval getanzt hast! Wenn du keine tanzende Schwuchtel wärst, hätte ich dir die Tür nie geöffnet‘. Es war diese Komplizenschaft, die es mir ermöglichte, dass ich heute ihre Geschichte erzählen kann. Wäre ich nur ein schwuler Akademiker gewesen, wäre ich leer ausgegangen. Deswegen bin ich froh, dass ich beim Karneval mit dem Tanzen angefangen habe.
Anmerkung des Interviewers: Es ist nicht möglich, genaue statistische Daten über die Lebenserwartung der Bevölkerungsgruppe zu erhalten. Es gibt einige Versuche, Hassverbrechen an Transpersonen zu dokumentieren, und es gibt Arbeiten zur Diskriminierung der Personengruppe beim Zugang zum Gesundheitswesen. Es gibt allerdings keine soliden Statistiken zur Lebenserwartung von Transpersonen. Die Bevölkerungsgruppe wird nicht gesondert erfasst. Klar ist, dass Transpersonen vielfältiger Diskriminierung unterworfen sind, oft in sehr prekären Verhältnissen leben und Prostitution eine der wenigen Einkommensmöglichkeiten sind. Seit 2016 gibt es ein neues Identitätsgesetz, das jeder Person, die es möchte, ermöglicht, das Geschlecht (männlich oder weiblich) selbst zu wählen. Die allgemeine Lebenserwartung betrug in Bolivien 2017 69,5 Jahre.
Zu den Chinas Morenas gibt es auch ein Audio, das ihr hier hören könnt.
Interview: China Morenas – Tanzen für die sexuelle Befreiung von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
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