Gewalt gegen Frauen ist staatliches Versagen. Interview mit Richterin Sasaki

(Mexiko-Stadt, 17.02.2020, Cimacnoticias).- Überwiegend junge Frauen treiben Wut und Trauer auf die Straße angesichts der Unfähigkeit des Staates und der regionalen Regierungen, mit wirksamen Strategien gegen die steigenden Femizide vorzugehen. Seit dem brutalen Mord an Ingrid Escamilla kommt es verstärkt zu Protesten. Die Demonstrant*innen prangerten insbesondere die Viktimisierung der Ermordeten an: Wie bereits schon mit anderen Frauen geschehen, waren kurze Zeit nach Ingrids Ermordung Fotos der Toten im Netz und in diversen Straßenzeitungen erschienen.

Celia Marín Sasaki, Richterin an der Fünften Strafkammer des Obersten Gerichtshofes von Mexiko-Stadt, hat bereits mehrere Femizid-Prozesse verhandelt, darunter auch den von Lesvy Berlín Rivera.  Die Organisation feministischer Journalistinnen Cimacnoticias sprach mit über die Pflicht des Staates, die Sicherheit der Frauen zu garantieren.

 

Sonja Gerth (Cimacnoticias): Worin liegt die Verantwortung des Staates hinsichtlich geschlechtsbezogener Gewalt?

Celia Marín Sasaki (Richterin): Laut einem Urteil der Interamerikanischen Menschenrechtkommission CIDH wurde dem mexikanische Staat bereits 2013 die Verantwortung für die Verletzung der Frauenrechte zugesprochen. Die sogenannte „Resolution Campo Algodonero“ bezieht sich auf die uns allen leider nur zu bekannte Serie von Frauenmorden in Ciudad Juárez. Hier führte der CIDH eine ausführliche Untersuchung durch, die ergab, dass der mexikanische Staat sich mehrerer Menschenrechtsverletzungen von Frauen schuldig gemacht hatte. Konkret ging es um Verletzungen strafrechtlicher Prinzipien, der angemessenen Sorgfalt, der strafrechtlichen Fürsorge, um den Schutz der Mädchen, denn zwei der Ermordeten waren minderjährig, und es ging um das Recht auf Leben und auf körperliche Unversehrtheit. Der Staat trägt die Schuld an den Verletzungen all dieser Rechte, weil er den Frauen nicht den Schutz gewährleistete, den sie benötigt hätten, um ein gewaltfreies Leben führen zu können.  Außerdem wurden die Behörden nicht mit der gebotenen Sorgfalt tätig. Was geschah, als Familienangehörige das Verschwinden der Frauen anzeigten? Sie sagten ihnen – und damit erfüllten sie alle Klischees –:  „Nein, wir werden die Ermittlungen erst nach 48 oder 72 Stunden einleiten, diese Mädchen sind bestimmt mit ihren Freunden tanzen gegangen“, und das, obwohl in dieser Art von Delikten jede Minute zählt! Und wenn das Verbrechen dann entdeckt wird, haben wir das Problem mit den Ermittlungen und der Einleitung der gerichtlichen Schritte. Zehn Jahre nach der “Resolution Campo Algodonero” haben wir die Auflagen immer noch nicht umgesetzt, und es werden immer und immer mehr Frauen umgebracht, die Femizide nehmen weiterhin zu. Jeden Tag werden zehn Frauen umgebracht, nur weil sie Frauen sind.

Frage nach der Verantwortlichkeit

SG: Und wer ist nun dafür verantwortlich? Olga Sánchez Cordero?

CMS: Die Verantwortlichkeit liegt bei verschiedenen Stellen. Als Erstes sind die Exekutive und alle Behörden des Landes verantwortlich, so steht es in der “Resolution Campo Algodonero”;  wir sind die Garanten für die Achtung der Menschenrechte der Frauen. Die Exekutive durch eine effektive staatliche Politik. Die Legislative durch eine entsprechende und umsetzbare Gesetzgebung der Legislative, und die Judikative durch entsprechende Resolutionen zur geschlechtsspezifischen Gewalt: von den minder schweren Gewaltverbrechen –sofern es zur Einleitung eines Verfahrens kommt– bis hin zum Femizid als extremstem Tatbestand. Es sind also alle Staatsgewalten angesprochen.

SG: Lässt sich denn ein struktureller Wandel beobachten, seit vor zehn Jahren das Urteil gefällt wurde?

CMS: Ja, natürlich, die staatliche Politik hat sich verändert, die Gesetzgebung auch. Sie wurde gewissermaßen dazu gezwungen, weil die Empfehlungen ja da waren. Der Femizid wurde als Tatbestand eingeführt. Damit wird der Aspekt des Geschlechts beachtet, so wie die „Resolution Campo Algodonero“ es vorgibt. Dort wird es zur Pflicht erhoben, die Gender-Perspektive zu berücksichtigen. Es gab einige Verfassungsreformen, wir haben also bereits viele Maßnahmen und formale Instrumente zur Hand. Was hat uns der Interamerikanische Gerichtshof gesagt? Mexiko, du hast internationale Verträge unterschrieben, du hast Verfassungs- und Gesetzesreformen durchgeführt, du hast entsprechende Vorschriften… das einzige, was dir fehlt, ist, diese formale Normativität in die Praxis umzusetzen, sie auf das Leben all dieser Frauen und auf alle Getöteten anzuwenden.

SG: Stimmt. Letztes Jahr hat Cimacnoticias eine Reportage über mehrere Fälle von patriarchaler Justiz veröffentlicht, wo wir genau das feststellen mussten: Der Staat hat die Werkzeuge – aber er benutzt sie nicht!

CMS: Genau. Schau, all diese Gesetze sind ein formaler Bestandteil des Rechtssystems, aber damit dieses System funktioniert, müssen die Rechtsprechenden sie anwenden, sie müssen für konkrete Fälle herangezogen werden. Sie müssen zur Realität werden, und da hakt es bei uns noch, weil viele den Aspekt des Geschlechts nicht verstehen. Eben diese Sichtweise stellt für den gesamten Staatsapparat eine Methode dar, die versuchen soll, Machtgefälle auszugleichen. Nur mal als Beispiel: Normalerweise sind Frauen und Männer nicht gleichberechtigt. Wenn du dann die Genderperspektive nicht berücksichtigst, setzt du das Machtgefälle fort, das heißt, die Frau zieht immer den Kürzeren. Der Oberste Gerichtshof in Mexiko hat sogar eine Schritt-für-Schritt-Anleitung mit dem Titel „Der Weg zur gleichberechtigten Rechtsprechung. Wegweiser für den Urteilsspruch unter Berücksichtigung der Genderperspektive“ veröffentlicht, die erklärt, worauf du als Richter*in achten musst,  um diese Asymmetrien abzubauen, die die Ausübung von Gerechtigkeit verhindern. Am Anfang heißt es: „Der oder die Richter*in muss Folgendes berücksichtigen: Zunächst ist festzustellen, ob Machtverhältnisse im Raum stehen, die aufgrund geschlechterspezifischer Aspekte Ungleichheiten zwischen den streitenden Parteien erzeugen.“

Kluft zwischen Norm und Praxis

SG: Ja, ich kenne die Rechtsprechung. Mir ging es eher darum, wie man die Staatsdiener*innen dazu bringen kann, eine geschlechterspezifische Sichtweise in der Praxis anzuwenden. Dabei geht es nicht nur um Richter*innen, sondern auch um Polizist*innen, Gutachter*innen, etc. Es gibt ja nicht nur das Problem, dass die Perspektive nicht angewendet wird, sondern es gibt ja auch direkte Verletzungen von Frauenrechten durch die Mitarbeiter dieser Institutionen.  Wie häufig sind zum Beispiel Prozesse gegen Staatsbedienstete in Mexiko-Stadt?

CMS: Nein, nein, nein. In meiner gesamten Tätigkeit als Richterin habe ich nie so etwas erlebt, dass es als Delikt eingestuft wurde, also dass ein Delikt wegen Behinderung der Justiz vor Gericht kam, weil der Gender-Aspekt nicht berücksichtigt wurde, das habe ich bis heute noch nicht miterlebt.

SG: Um einige Beispiele zu nennen: Der Richter, der den Ex-CEO von Amazon freigesprochen hat, der seine Frau Abril Pérez getötet hatte, das Leaken von Daten, die zu erneuter Viktimisierung führen, und andere Menschenrechtsverletzungen…so etwas ist Ihnen nie begegnet?

CMS: Ich habe noch nie eine Anschuldigung, eine Untersuchung, eine Akte oder eine Vorermittlung gesehen, die in Verbindung mit solchem Verhalten stand. Wirklich nie. Aber ich denke, es gibt ein großes Problem, was die Spezialisierung dieser Organe betrifft. Der Femizid ist ein komplexes Verbrechen, das sich auf den Schutz zweier Rechtsgüter bezieht: das Leben der Frauen und das Geschlecht an sich. Das hat der Gesetzgeber im Strafrecht perfekt zusammengebracht. Aber dann kommt das Problem: Die Unwissenheit gepaart mit dem Widerstand zu verstehen, worin die Reichweite dieses Tatbestandes liegt. Das ist dem männlichen und patriarchalen Einfluss geschuldet. Jetzt überleg mal, welche staatlichen Organe darauf spezialisiert sind. Es gibt keine! Um ein staatliches Organ in so etwas zu schulen, muss erst einmal die Gender-Theorie bekannt sein. Und sie kennen sie nicht, nicht einmal ansatzweise. Also gibt es keine Spezialisierung, und es gibt auch keine fokussierte klare Weiterbildung dazu. Es gibt für Institutionen die Vorgabe, aus einer Gender-Perspektive zu untersuchen und zu urteilen. Aber die Leute, die dort arbeiten, haben davon keine Ahnung.

SG: Ach echt? Auch die Sonderstaatsanwaltschaft nicht?

CSM: Was soll ich sagen? Es gibt ja verschiedene Institutionen, die mit dem Thema befasst sind. Und wo sind die Schulungsunterlagen dazu? Wer kümmert sich darum? Die Leute müssten eigentlich eine grundlegende Weiterbildung erhalten. Und sie müssen vor allem dahinter stehen. Wenn du diese Positionen mit eingefleischten Sexisten besetzt, wird sich da ja nie was ändern.

Tatbestand „Femizid“ zu selten identifiziert

SG: Sie würden also sagen, dass der tatbestand Femizid maßgebend sein soll?

CMS: Natürlich! Denn ihn zu löschen oder zu ignorieren bedeutet, die Schwere der Menschenrechtsverletzung zu verkennen. Er darf nicht verschwinden! Er darf auch nicht abgeändert werden. Die Vereinten Nationen haben uns dazu geraten, der Interamerikanische Gerichtshof hat es uns nahegelegt, nein… das wäre ein Rückschritt. Ich denke, wir müssen vorankommen. Die entsprechende Gesetzgebung haben wir schon, die politischen Maßnahmen. Jetzt müssen wir die Staatsbeamt*innen richtig ausbilden.

SG: Wollen Sie noch etwas hinzufügen?

CMS: Ich glaube, wir dürfen das Thema Gewalt gegen Frauen niemals aus den Augen verlieren. Die Vereinten Nationen sprechen von einer Pandemie. Wenn ich höre, dass die Gewalt ein ‚kulturelles Problem‘ sei, welche Aussage wird damit transportiert? Dass es keine Abhilfe gibt. Und das stimmt nicht, ich weigere mich, dieser unheilvollen Schlussfolgerung zuzustimmen. Was wir tun müssen, ist Präventionsarbeit. Wir müssen uns auf die Bildung konzentrieren, in die Schulen gehen, schon früh ansetzen, um die Gender-Theorie zu vermitteln, am besten schon in der Grundschule, dann in den weiterführenden Schulen, in den Unis, in den Postgraduierten-Seminaren. Wir müssen dieses Thema dauerhaft präsent machen, wie ein Pflichtfach. Denn wenn nicht, dann wird sich nie etwas ändern – und was wollen wir? Dass das Töten von Frauen ein Ende hat. Wenn ein Mord stattgefunden hat, ist natürlich der Justizapparat gefragt, die Strafverfolgung und all das, aber besser ist doch, dass keine Frau umgebracht wird, oder?

Übersetzung: Miriam Blaimer

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