(Buenos Aires, 29. April 2020, Marcha).- Männliche Fotojournalisten fotografieren in den Gefängnissen weibliche Angehörige, die gerade Opfer von Repression werden, und laden die Bilder in die sozialen Netzwerke hoch, wo sie ohne Rücksicht auf die Integrität der abgebildeten Frauen zirkulieren ‑ ist das einfach nur ein Fehler? Wir Feminist*innen verteidigen den Schutz des Lebens. Wir kämpfen für die Anerkennung des Lebens aller Menschen und dafür, dass jedes Leben in Würde gelebt werden kann. Als feministische Fotografin frage ich mich in diesen Tagen, von welchem Schutz des Lebens die Rede ist, wenn die Spektakularisierung der Bilder über allem steht?
Polizeiliche Angriffe auf weibliche Angehörige
Die Szene: Proteste von Inhaftierten im Gefängnis von Devoto, der inzwischen einzigen Haftanstalt in Buenos Aires. Ich sage lieber „Protest“ als „Aufstand“, weil die Inhaftierten das taten, was wir auch tun, wenn wir eine Straßenblockade errichten und uns mobilisieren: bessere Lebensumstände fordern. In einem Raum, der anscheinend bewusst so angelegt wurde, dass selbst das bisschen Menschlichkeit verlorengeht, das die Nachrichtensendungen noch zugestehen, lehnte sich eine Gruppe Gefangener auf und forderte Schutz vor der Coronavirus-Pandemie, die derzeit die etablierte Normalität unserer kapitalistischen Gesellschaft in Frage stellt. Angehörige- die meisten von ihnen Frauen–, die sich angesichts der Situation besorgt zum Gefängnis begeben hatten, wurden von der Polizei angegriffen. Ich war nicht dort; die folgende Erzählung der Ereignisse basiert auf Augenzeugenberichten, Kommuniqués und vor allem Fotos, weil auch Fotoreporter*innen vor Ort waren. In den sozialen Netzwerken konnte nachvollzogen werden, was geschehen war; dazu entstand aufgrund der Bilder ein weiterer Blick auf die Ereignisse. Einige dieser Bilder berühren eine Wut in mir, die sich schon lange angestaut hatte. An welchem Punkt hatte die Ästhetik das Ruder übernommen und die Ethik verschlungen? Es hatte sicher nicht an diesem Freitagnachmittag in Devoto begonnen. Fast würde ich sagen, das „Festessen“ begann mit dem Fotojournalismus selbst – einem Fotojournalismus, in dem bislang vor allem der Blickwinkel des BBVAh [blanco, burgués, varón, adulto, heterosexual], des weißen, bürgerlichen, männlichen, heteronormativen erwachsenen Subjekts dominierte. Amaia Pérez Orozco, Autorin und Entwicklerin der Definition, erklärt dazu: „Um dieses Subjekt herum konzentrieren sich Macht und Ressourcen; das Leben an sich wird hier definiert“; und das gilt auch für die Fotografie.
Traditionelle fotografische Perspektive steht zunehmend in der Kritik
Seit einiger Zeit stellen wir Fotograf*innen die Zentralität der BBVAh-Perspektive in den verschiedenen Bereichen unserer Disziplin in Frage; vom Journalismus bis zur Modefotografie, von der street photography bis zur konzeptuellen Fotografie. Eine Welt, die immer mit dem gleichen Blick erfasst wird, ist opak, ganz egal, wessen Blick es ist: Unserer traditionellen fotografischen Ausbildung, die auf den Konzepten von Heldentum und großen historischen Ereignissen aufbaut, ist dieser Blick eingraviert, der Stereotype von Klasse, gender und Rasse reproduziert und die gegenwärtigen Machtverhältnisse perpetuiert. Diesen Blick abzulegen ist eine lebenslange Aufgabe, der sich niemand entziehen kann –das gilt auch für uns Frauen.
Speziell im Bereich des Fotojournalismus und der Dokumentarfotografie sind unzählige Kritiken über bedeutende Bilder geschrieben worden, die die Geschichte unseres Berufsstandes geprägt haben. Nicht alles ist so wie zu der Zeit, als Robert Capa das Foto vom Fallenden Soldaten machte. Heute mehr denn je hat die Ästhetik die Oberhand gewonnen. Zum Beispiel gibt es Kriegsfotografen mit Plattenkameras, die Bilder auf dem Schlachtfeld eines vom Krieg zerstörten Landes machen, um sie in renommierten Galerien zu verkaufen oder damit sie in die Sammlung eines Magnaten oder eines Museums eingehen. Das Individualbild tötet die Geschichte, und hot news töten Alltagsleben; je ausgeschmückter, desto besser.
Mit diesem Gedanken im Hinterkopf nun zurück zum Anfang
Mehrere Fotografen machen Fotos von Frauen, die Gewalt ausgesetzt sind, und veröffentlichen sie in den sozialen Netzwerken, bearbeiten die Bilder und schreiben ihre eigenen Bildunterschriften. Diese Bilder erscheinen auf meinem Monitor und auf den Monitoren anderer compañeras, und ich weiß nicht, ob ich den Computer ausschalten oder kaputtschlagen soll. Am liebsten würde ich ihn denen, die die Bilder gemacht haben, über den Kopf ziehen. Ich versuche, mich zu beruhigen – etwas, das mich nach einem Monat der präventiven und obligatorischen gesellschaftlichen Isolation viel Kraft kostet. Ich spreche mit meinen Freundinnen, schaue mir weitere Bilder dieses Tages an, trinke ein paar Mate-Tees, lese die Überlegungen anderer Kolleginnen (wie die von Lucía Merle) und denke viel nach. Warum fühle ich mich so? Während ich versuche zu schlafen, beginne ich zu verstehen: Was mich stört, sind nicht (nur) die Fotos. Es sind die Kommentare derjenigen, die sich die Bilder ansehen. Das Lob, dass sie kübelweise über denen ausschütten, die die Bilder gemacht haben, zerreißt mich. Was ist es, das sie sehen und ich nicht? Was ist es, das ich sehe und sie nicht? Und noch eine weitere Frage kommt mir in den Sinn, wenn ich an die Kollegen denke, die die Bilder im Cyberspace in Umlauf bringen: Welchen Sinn hat es, den Überbringer zu töten, wenn es ein fanatisches Publikum für die Botschaft gibt, das es dem Überbringer ermöglicht, im harten Wettbewerb um die wenigen Jobs zu überleben, die es in der Fotojournalismusbranche noch gibt? Achtung: Ihn nicht zu töten bedeutet nicht, ihn von Verantwortung freizusprechen und ihm die Aufforderung zum Nachdenken zu ersparen.
Die Person mit der Kamera hat nicht die ganze Macht, aber in Szenen wie der der polizeilichen Repression gegen Angehörige von Gefangenen hat sie viel mehr Macht als die porträtierten Personen, die nicht zufällig Frauen waren. Männliche Fotografen porträtieren nicht-hegemoniale Frauen, die von der Polizei angegangen werden; später erscheinen deren Bilder ohne die geringste Rücksicht auf ihre Integrität in den sozialen Netzwerken – ist das nur ein Fehler, oder gibt es in vielen von uns einen Chip, der auf Autopilot läuft und der von uns entdeckt und dann zerlegt werden muss?
Ein gutes Bild?
Ich nehme das Publikum in den Blick. Was geschieht, damit so viele ein Bild voller Gewalt, eines, das gröbste Gewalt zeigt, als ein gutes Bild verstehen? Wo ist die Stimme dieser Angehörigen? Was sind ihre Geschichten? Verlassen wir für fünf Minuten das selbstmörderische System des Strafens [punitivismo], das uns dazu bringt, mit gedämpfter Stimme zu flüstern, dass diese Männer auf dem Gefängnisdach es in Wirklichkeit verdienen, vom Coronavirus infiziert zu werden und zu sterben. Nur weil sie Gefängnisinsassen sind, werden sie automatisch von allen Rechten, einschließlich des Rechts auf Leben, ausgeschlossen. Es gibt einen Durst nach Rache, nach Lynchjustiz; man zeigt mit dem Finger auf die Gefangenen. Und dazwischen: die Frauen.
Bilder sind Teil diskursiver Formationen
Können Medienschaffende behaupten, sie seien unschuldig, und einfach sagen „Ich berichte nur“, wenn die Gesellschaft, in der sie leben, diese Bilder dazu benutzt, um ihren Hass zu bekräftigen? Michel Foucault führte in seinem 1969 erschienenen Buch Die Archäologie des Wissens das Konzept der diskursiven Formationen ein, um zu zeigen, wie ein und dieselbe Aussage je nach Kontext verschiedene Dinge bedeuten kann. In der heutigen Zeit, in der fast alles digitalisiert wird, können wir die von uns produzierten Bilder als Aussagen, als Teil diskursiver Formationen verstehen. Bilder entstehen nicht im luftleeren Raum: Sie stehen im Dialog mit der Menge der Bilder und Diskurse, die in einer bestimmten Gesellschaft und Zeit im Umlauf sind. Dies zu leugnen bedeutet, die Fähigkeit der Fotografie zu leugnen, Bedeutungen zu produzieren. Die Fotografien dieser Frauen werden zu einer Zeit produziert und in Umlauf gebracht, in der Militante und feministische Organisationen die Ausrufung des Ausnahmezustands für geschlechtsspezifische Gewalt fordern, in einem Land, in dem alle 32 Stunden ein Femizid verübt wird, in dem die latente, durch die Quarantäne befeuerte Gefahr, Opfer von Missbrauch durch die Sicherheitskräfte zu werden, uns daran zweifeln lässt, ob wir vor die Tür gehen, Lebensmittel einkaufen oder mit dem Hund Gassi gehen sollen. Als Frau, als Feministin, fühle ich mich durch diese Bilder verletzt, und ich verlange, dass wir uns wenigstens etwas Zeit nehmen, um zu verstehen, warum ich mich, warum wir uns uns verletzt fühlen.
Recht auf Information versus menschliche Würde
Wir Feministinnen wollen alles ändern. Wir wollen die zwischenmenschlichen Beziehungen umgestalten, die unterdrückerischen Bindungen herausfordern, die uns der heteropatriarchale und koloniale Kapitalismus als einzige Option aufzwingt. Die Fotografie ist keine Disziplin, die von diesem Wandel ausgenommen werden kann. Wenn wir uns eine Kamera schnappen und beschließen, das, was wir produzieren, in Umlauf zu bringen, können wir es uns nicht leisten, naiv zu sein. Wir nehmen einen Platz in der Welt ein; leider ist dieser Platz für meisten Fotograf*innen in der Regel ein privilegierter.Wir können uns irren. Wir können Fehler machen, weil wir aus unseren Fehlern lernen. Uns gegenseitig zu lynchen dient nur dazu, gegen andere die Gewalt zu richten, von der wir befürchten, dass sie gegen uns ausgeübt wird. Aber wenn die Antwort auf Kritik Komplizenschaft zwischen Männern ist, liegt das Problem viel tiefer, sie dringt in das Bild ein und zerlegt es. Ich wiederhole es noch einmal: Es geht um Männer (wahrscheinlich weiß, wahrscheinlich aus der Mittelschicht, wahrscheinlich in prekären Verhältnissen lebend, aber mit Arbeit), die Frauen fotografieren (die nicht weiß sind, die nicht zur Mittelschicht gehören und deren wahrscheinlich informelle Arbeit in ihrer Prekarität durch die Quarantäne bedroht ist), die von der Polizei angegangen werden. Andere Männer preisen diese Arbeit und verteidigen sie mit den abgedroschenen Phrasen der „Meinungsfreiheit“ und des „Rechts auf Information“, um „die Realität zu zeigen“. Warum glauben manche immer noch, dass ihr Recht auf Information über dem Leben der Menschen auf ihren Bildern steht? Lassen wir nicht nach: „Die Realität zu zeigen“, ohne zu analysieren, was wir zeigen, kann dazu beitragen, furchteinflößende Realitäten zu legitimieren.
Analia Cid ist Fotografin, Soziologin und feministische Aktivistin
Übersetzung: David Graaff
Gefängnisse, Repression und feministische Kritik: Jedes Bild zählt? von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
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