(Mexiko-Stadt, 9. November 2019, desinformémonos).- Seit Jahren nimmt der Feminismus an der UNAM mit seinen unterschiedlichen Strömungen in der Fakultät für Philosophie und Geisteswissenschaften FFyL an Fahrt auf. Zwar hatte es schon vorher etablierte feministische Gruppen gegeben, der erste feministische Streik und die feministische Versammlung stellten jedoch einen Wendepunkt dar. Seither wächst die Bewegung mit jedem Tag und gewinnt immer mehr an Stärke.
Auslöser war der Femizid an Alí Cuevas Castrejón, die 2009 von ihrem Ex-Partner ermordet wurde. Alí war Studentin der Fakultät. Zu ihrem Gedenken gründeten Kommilitoninnen und Professorinnen das Kollektiv „Alí Somos Todas“ (Wir alle sind Alí). Seither fordern sie von den staatlichen und universitären Behörden Gerechtigkeit, eine angemessene Strafverfolgung und die nötige Aufklärung in Fällen von machistischer Gewalt gegen Frauen.
2016
Der erste feministische Streik im November 2016 hob den Deckel von der sexistischen Kloake im Innersten der FFyL und in der Wissenschaft im Allgemeinen. Zum ersten Mal schlossen sich Feministinnen zusammen, um innerhalb des universitären Kontexts aktiv zu werden. Eine so genannte politische Wäscheleine wurde gespannt, um anonyme Anzeigen gegen Täter aufzuhängen, es gab Protestaktionen und feministische Versammlungen. Im Zusammenhang mit der Demo zum Internationalen Tag gegen Gewalt gegen Frauen wurden verschiedene Einrichtungen besetzt.
Die ewigen Kerle
Auf der Liste der Angreifer, Komplizen, Vergewaltiger und Sexisten standen Namen von Direktoren, administrativem Personal, Dozenten und Studenten der Fakultätsgemeinschaft. Edgar Chías, Alberto del León Leal und José Francisco Mendoza sind einige der Professoren, deren Namen seit diesem Jahr in Kontext von Übergriffen und Frauenhass genannt wurden und bisher noch keine Strafe erhalten haben. Seitdem gab es kein Zurück mehr. Die Studentinnen entdeckten ihre kollektive Macht, indem sie ihre Stimme erhoben: „Wenn sie eine angrapschen, reagieren wir alle.“
Ich kenne keine einzige Frau innerhalb der Fakultät, die noch nie sexistische Aggression oder Kommentare erlebt oder mitbekommen hätte. Da sind die Kommilitonen, die mansplainen, die Professoren, die Frauen von der Klasse erniedrigen oder Kommentare bringen wie „Warum studiert ihr, wenn ihr doch eh heiraten werdet?“, „Ihr werdet nie Schriftstellerinnen werden“ oder „Eine Frau, die Latein kann, kriegt im Leben keinen Mann“, da sind die Steine, die sie uns auf dem Weg zum Abschluss oder bei akademischen Formalitäten in den Weg legen, und da sind die verschiedenen Formen der Machtausnutzung: Vertrauensmissbrauch, physische, sexuelle und psychische Gewalt.
„Feminazis“
Die Einstellungen zum Feminismus an der UNAM und der FFyL waren unterschiedlich und zum Teil wirr: Die Reaktion auf den Streik reichte von massiver Ablehnung (wir wurden als „Feminazis“ beschimpft, und es wurde gedroht, die Streikenden zu verprügeln) über Kritik (wir seien ausgrenzend, weil wir Männer ausschlossen) bis zu Sympathie. Feministische Ideale: ja, und einige hätten sich uns gern angeschlossen, wussten aber nicht, wie sie uns unterstützen konnten oder befürchteten, Probleme zu bekommen. Sich als Feministin zu verstehen ist ein komplexer Prozess. Sich gegen die Seite des Stärkeren, des Unterdrückers zu stellen ist ein politischer und revolutionärer Akt, der viel Arbeit und Mühe bedeutet.
2017
Wenige Monate nach dem Streik, am 3. Mai 2017, wurde Lesvy Berlín Osorio auf dem Campus der Universität getötet. Ihre Ermordung betraf alle Mitglieder der Universität. Ein Ort, den wir als „sicher“ angesehen hatten, entpuppte sich als feindselig und gefährlich. Es gab keinen Raum mehr, an den man sich vor der Gewalt zurückziehen konnte. Wir begriffen, dass unser Leben überall in Gefahr war und, schlimmer noch, dass unser Leben und unsere Sicherheit der Leitung der „wichtigsten Lehranstalt“ egal waren. Staatsanwaltschaft, Uni, Gesellschaft und Behörden – alle verlegten sich im Fall von Lesvy auf das Victim Blaming. Diese Ereignisse haben uns geprägt und unser weiteres politisches und gesellschaftliches Handeln gestärkt.
Die Care- und Begleitungsnetzwerke von und für Frauen boten für viele die Möglichkeit, einander zu begegnen und sich frei zu fühlen. So entstand zum Beispiel auch die Gruppe Oleaje, die den Aufbau von Frauen*netzwerken unterstützt und begleitet. Aus Protest gegen Victim Blaming wurde der Hashtag #SíMeMatan ins Leben gerufen, der in den Fokus rückte, wovon die ganze Zeit abgelenkt werden soll: Sie bringen uns um, weil wir Frauen sind.
Lesvy
Nach Lesvys Ermordung forderten die Mitglieder der Gemeinschaft der Fakultät Gerechtigkeit, Aufklärung der Vorfälle innerhalb der Institution, öffentliche Entschuldigungen, Begleitung und Beratung für Lesvys Familie, und organisierten eine Demonstration, die zu der Telefonzelle führte, wo Lesvys Körper gefunden worden war. Parolen wie „Kein Selbstmord sondern Femizid“ und „Lesvy ist nicht tot, Lesvy sind wir alle“ waren ebenso präsent wie Tränen der Trauer und Wut, dazu Schilder, die Übergriffe innerhalb der Uni anprangerten. Dieses Mal schloss sich die gesamte Universitätsgemeinschaft den Forderungen an: Angesichts eines Femizids innerhalb der Institution konnte man nicht einfach untätig bleiben. Überall wurde darüber geredet, was passiert war. Die Universität als Institution zeigte sich jedoch unfähig, den Familienangehörigen Unterstützung anzubieten oder die nötigen Mittel für eine Untersuchung bereitzustellen.
Imagegefährdung durch feministischen Protest
Anlässlich des Internationalen Tags gegen Gewalt gegen Frauen wurde am 25. November in der Fakultät abermals ein Streik organisiert. Innerhalb von einem Jahr war die Liste der mutmaßlichen Täter länger geworden, und sie wuchs weiter. Die Wäscheleinen mit den Anklagen und die Wände der Frauentoiletten der Fakultät dienten den Mitgliedern der Gemeinschaft für Anzeigen, Selbsthilfe und Prävention. Oftmals teilen wir uns Räume mit Tätern, ohne es zu wissen, und wenn wir es wissen, tun die Behörden selten etwas.
Während die Frauenzusammenhänge und die Kampfbereitschaft weiter wuchsen, waren Arbeiter und männliche Studenten wild entschlossen, die Tatsachen zu verheimlichen und alles zu entfernen, was „ein negatives Bild vermitteln“ konnte.
2018
Unmittelbar nach den Aktivitäten zum Internationalen Frauen*tag am 8. März versammelten sich die organisierten Student*innen der Fakultät erneut wegen eines konkreten Falls.
Einige Monate zuvor hatten einige Kommiliton*innen ihren Angreifer und Vergewaltiger, einen Studenten der Lateinamerikastudien, angezeigt. Der Prozess wurde jedoch durch den Anwalt der Fakultät, Jesús E. Juárez González, torpediert, der die Beschwerden der Student*innen ignorierte und dazu kaltschnäuzig mitteilen ließ, dass sie der Uni verwiesen würden; der Angreifer habe außerdem Gegenklage erhoben. Kommiliton*innen und Freund*innen warfen der Rechtsabteilung Ungerechtigkeit, Machtmissbrauch, Misogynie, fehlende Logik und Ethik vor. Durch den Frauen*streik konnte die Exmatrikulierung letztlich verhindert werden.
Die damalige Anwältin der Genderkommission Socorro Damian Escobar, die die Organisierung der Frauen* und ihre Forderungen unterstützte, wurde von der Direktion, vor allem durch den Fakultätsdirektor Jorge Linares Salgado unter Druck gesetzt, ihr Gehalt nicht ausgezahlt und sie selbst von ihrer Tätigkeit freigestellt. In den folgenden Monaten musste Socorro aufgrund von Schikanen und Mobbing durch die UNAM-Behörden zurücktreten.
Trauer, Wut und Solidarität
Im März waren Graciela María de la Luz Gómez und ihre Tochter Graziella Sol Cifuentes in ihrem Haus ermordet und verbrannt worden, Graciela war als Dozentin an der UNAM tätig gewesen, ihre Tochter hatte dort studiert. Eine Stellungnahme der Universität zu dem Vorfall ließ wie üblich auf sich warten. Die Proteste wurden von allen weiterführenden Bildungsstufen von Schüler*innen der Sekundarstufe bis zu Doktorandinnen getragen. Immer mehr Erfahrungen mit misogyner Gewaltwurden öffentlich gemacht.
Im April 2019 verschwand die FFyL-Studentin Mariela Vanessa Díaz Valverde. Die Hochschulleitung verhielt sich auch dieses Mal unfähig, hielt Informationen unter Verschluss, weigerte sich, mit der Familie zu sprechen oder die Ermittlungen zu unterstützen. Nur auf Druck der Presse und der Student*innen sagte die Leitung schließlich zu, der Familie Díaz Valverde Beistand anzubieten. Es blieb jedoch bei dem Versprechen.
Zum 1. Jahrestag der Ermordung von Lesvy Berlín Osorio veranstalteten Frauen* der feministischen Student*innenbewegung einen kleinen Gedenkmarsch auf dem Universitätsgelände, an dem Lesvys Mutter und andere Menschen, die Familienmitglieder durch Femizide verloren hatten, teilnahmen.
Interuniversitäre Frauen*-Vollversammlung.
Der Protest gegen alltägliche sexistische Gewalt, politische Wäscheleinen, Graffitis, Buttons, Mahnwachen und Gesprächsrunden im akademischen Kontext hatte Feministinnen verschiedener Strömungen zusammengebracht. Nach der Ermordung der Dozentin Graciella und ihrer Tochter kam die Idee auf, eine feministische Gesamtstruktur aufzubauen. Die erste Interuniversitäre Frauen*-VV (Asamblea Inter Universitaria de Mujeres, kurz: ASIUM) brachte im Auditorium Ho Chi Mihn der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät verschiedene autonome Frauen*gruppen zusammen. Insgesamt kamen über 800Frauen*: Schüler*innen, Student*innen, Akademiker*innen und Arbeiter*innen. Themen waren vor allem die gewalttätigen Übergriffe in Bildungsinstitutionen und die Entwicklung einer feministischen Etikette.
Angriff von Schlägertrupps
Am 2. September wurde die 18jährige UNAM-Schülerin Miranda Mendoza Flores entführt und ermordet. Am folgenden Tag forderten Schüler*innen des Geistes- und Naturwissenschaftlichen Instituts im Rahmen einer Demo Aufklärung des Verbrechens und bessere Sicherheitsvorkehrungen. Sie beschwerten sich außerdem über mangelnde Transparenz hinsichtlich der Verteilung des Finanzetats. Die Frauen*gruppen unterstützten die Forderung nach mehr Sicherheit, zumal die von der Unileitung eingesetzten Sicherheitstrupps mehr für Einschüchterung sorgen als für Sicherheit. Ein anschließendes Treffen der Demonstrant*innen auf dem Campus wurde von einem Schlägertrupp, auch bekannt als Porros, aufgemischt. Die Angreifer stehen in engem Kontakt mit Teilen der Universitätsleitung.
Sexismus und Misogynie innerhalb der Bewegung
Ein altbekanntes Muster, aber eine immer neu gefühlte Enttäuschung: Ein Macho, der sich als Linker oder organisierter Student ausgibt, bleibt trotzdem ein Macho. Ein Typ kann mit einer Frau befreundet sein, und trotzdem wird er im Leben einer anderen zum Täter. In den Räumen, in denen sich die Studierenden organisierten, übernahmen die Männer das Wort, versuchten, die Arbeit der Genossinnen kleinzureden und sie mundtot zu machen. Selbsternannte „linke“ Gruppen reagierten mit Rempeleien, geringschätzigen Gesten, Ausbuhen, Drohungen und körperlichen Angriffen auf die Präsenz der Feministinnen. Auf den VVs wurde den eigenen Genoss*innen das Wort entzogen. Zeit für die nächste ASIUM, bei der genderspezifische Forderungen für den allgemeinen Forderungskatalog gesammelt werden sollten. Die ASIUM fand am 12. September in den Räumen der Hochschule für Anthropologie und Geschichte statt. Bei der allgemeinen Interuniversitären VV wurde den Frauen* jedoch wieder das Wort entzogen; wie vor hundert Jahren wurde darüber abgestimmt, ob Frauen* überhaupt Rederecht innerhalb der Studierendenorganisierung haben sollten. Nach drei Monaten Streiterei innerhalb der gemischten Studierendenorganisierung, bei der neben „Porros raus“ nun auch „Machos raus“ als permanente Forderung im Raum steht, wurde die diesjährige Demo gegen Gewalt gegen Frauen zum 25.11. von und für Separatistinnen organisiert.
Die Anzeigen wegen Gewalt in der FFyL nahmen weiter zu, neben Dozenten und Verwaltungsangestellten wurden auch mehrere Aktivisten der Studierendenorganisierung als Täter beschuldigt. Selbst die eigenen politischen Zusammenhänge müssen gegen die Ausbreitung vor frauen*feindlichen Auswüchsen geschützt werden. So entstand ein unabhängiges feministisches Handlungskonzept für die Sicherheit vor Gewalt, das die Erfahrungen seit 2016 zugrundelegt: Wir schützen uns gegenseitig, zusammen besiegen wir die Angst, wenn sie eine angrapschen, reagieren wir alle, wir brauchen sichere Frauen*räume ohne Täter.
Anmerkung der Redaktion:
Aufgrund der Länge des Berichts haben wir beschlossen, zwei Teile daraus zu machen, um der Situation an der FFyL der UNAM gerecht zu werden. Liebe Leser*innen, Teil 2 folgt.
Bei Redaktionsschluss am 8. November 13 Uhr wurde Enrique Graue als UNAM-Direktor wiedergewählt. Das heißt, an der sexistischen Gewalt innerhalb der UNI wird sich vermutlich nichts ändern. Werden das Gender-Programm und das Beschwerdebüro für Übergriffe weitergeführt? Stimmt es, dass sie nur als Alibi dienen, um den Eindruck zu erwecken, man stünde hinter UNO-Programmen wie He for She, und nicht das leisten, wofür sie eigentlich eingerichtet wurden, nämlich die Sicherheit von Frauen* zu verbessern?
Oleaje unterstützt den Kampf der Genossinnen, die sich getraut haben, ihre Stimme zu erheben und Gerechtigkeit zu fordern.
Erschienen bei Colectiva Oleaje
Eine Geschichte des Feminismus an der UNAM von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
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