Ein Großteil der Bevölkerung ist Risikogruppe

(Mexiko-Stadt, 21. April 2020, npla).- Die Corona-Pandemie ist längst in Lateinamerika angekommen, auch in Mexiko. Infektionsherd Nummer Eins scheint das US-amerikanische Skiparadies Vail zu sein, wo auch in diesem Jahr Mexikos Wirtschaftselite dem Après-Ski frönte. Der Chef der mexikanischen Börse, auch bei Wedeln in Vail dabei, ist mittlerweile an Covid-19 gestorben, viele seine Mitreisenden erkrankt. Seitdem breitet sich Corona in Mexiko immer schneller aus. Abgesehen von den Superreichen sind in Mexiko 80 Prozent der Bevölkerung arm, das öffentliche Gesundheitssystem ist schlecht und kaum auf eine Epidemie vorbereitet. Wie will ein Land wie Mexiko die Bevölkerung unter diesen Bedingungen vor Corona schützen?

Werktags, früher Abend. Ich fahre mit dem Taxi die Calzada de Tlalpan in Richtung Süden. Die Stadtautobahn mit 5 Spuren in jeder Richtung und einer Metro-Linie in der Mitte ist sonst zu dieser Zeit gerammelt voll, heute herrscht kaum Verkehr. In der Metro gibt es sogar Sitzplätze und in den Peseros, den sonst übervollen Stadtbussen, fährt gerade mal eine Handvoll Personen mit. Die Luft ist dagegen ungewöhnlich sauber, über der Stadt lärmen kaum noch Flugzeuge. Corona hat längst auch Mexiko-Stadt im Griff.

Dagegen dröhnen die Sirenen der Rettungswagen in diesen Tagen rund um die Uhr durch die Stadt. In Mexiko sind nicht nur ältere Personen besonders gefährdet, an Covid-19 zu erkranken. Ein Großteil der Bevölkerung ist Risikogruppe, wie Hugo López Gatell, Mexikos oberster Epidemiologe, recht offen beschreibt. Patienten mit Übergewicht, Diabetes, Bluthochdruck, Herzproblemen hätten ein deutlich erhöhtes Risiko, an Covid-19 schwer zu erkranken. All diese Krankheiten seien vor allem Folge zu salz-, fett-, und zuckerhaltiger, vor allem denaturierter Lebensmittel. Und nun treffe eine durch schlechte Ernährung geschwächte Bevölkerung auf die Corona-Epidemie.

 

Hat auch Mexikos Regierung zu spät reagiert?

Der Epidemiologe ist spät zu großer Form aufgelaufen. Noch Mitte März durfte in Mexiko-Stadt ein Open-Air-Festival mit zehntausenden Besucher*innen stattfinden, obwohl Corona auch in Mexiko nachweislich längst angekommen war. In vielen Ländern der Welt herrschten zu diesem Zeitpunkt bereits Social Distancing oder sogar Ausgangssperren. Seit Anfang April hat auch Mexikos Regierung den Ernst der Lage erkannt, rät dazu, Abstand zu halten und wenn möglich, zu Hause zu bleiben. Doch dieser Richtungswechsel komme zu spät, finden viele.

Eine Krankenschwester setzte letzte Woche einen dramatischen Tweet ab, in dem sie López Gatell vorwirft, mit seinem Physical Distancing-Aufruf mindestens zwei Wochen zu spät dran zu sein. In den Krankenhäusern reiche schon jetzt die Schutzausrüstung kaum und immer noch würden viel zu viele Menschen draußen herum rennen, als sei nichts geschehen. Einer der schlecht bezahlten Ärzt*innen, die überall in der Stadt direkt in den Apotheken in winzigen Kabinen Patient*innen empfangen, erzählt mir heute, dass er in den letzten zwei Wochen zahllose Verdachtsfälle gesehen habe. Aber auch er könne keine Tests organisieren, sondern nur seine Patient*innen aufzufordern, die Notaufnahme anzusteuern, sobald Atembeschwerden hinzukommen.

 

Gesundheitssystem mit Corona überfordert

Auch Angehörige von Covid-19 Patient*innen sind zunehmend verzweifelt. Viele harren seit Tagen vor den Krankenhäusern der Stadt aus. Ein junger Mann, dessen Schwester im Krankenhaus La Raza im Norden der Stadt an der Beatmungsmaschine liegt, wartet immer noch auf ein Testergebnis; für seine Schwester, wie für die Familie. Die Labore seien zur Zeit überlastet, wird er vom Personal vertröstet. Aber auch schon vor Eintritt der Epidemie in Phase 3 wurde selbst bei schweren Symptomen nur getestet, wer zuvor in stark betroffenen Regionen wie Italien war oder wer einen diagnostizierten Corona-Fall im direkten Umfeld hatte. Letzteres betraf kaum jemanden, weil so gut wie niemand getestet wurde.

Corona trifft in Mexiko auf ein kaputt gespartes staatliches Gesundheitssystem. Es fehlt an Schutzkleidung, Medikamenten, Personal, Geräten und Intensivbetten. Mexiko gibt nur fünf Prozent seines Bruttoinlandsprodukts für Gesundheit aus, deutlich weniger als zum Beispiel Brasilien oder Chile. Daneben existiert ein überteuertes privates Gesundheitssystem für Mittel- und Oberschicht. Dieses – immerhin – öffnet nun endlich die Notaufnahmen auch für wirtschaftlich schlechter Betuchte. Und am 8. April hat Mexiko endlich eine Flugzeugladung Masken, Handschuhe und sonstige Schutzkleidung gegen Corona aus China erhalten, weitere sollen folgen.

Doch auch nach dem Richtungswechsel macht die Regierung unter Präsident Andrés Manuel López Obrador, kurz AMLO, in der Krise keine gute Figur. Einerseits gilt für den gesamten Monat April landesweit der Gesundheitsnotstand und alle nicht wesentlichen Wirtschaftsaktivitäten sind suspendiert. Für Mexiko-Stadt und andere schwer betroffene Regionen Mexikos ist das Confinamiento gerade bis Ende Mai verlängert worden.

Aber staatliche Hilfsprogramme? Fast Fehlanzeige. Denn, so der Präsident, gelte zuallererst, keine neuen Schulden zu machen, die „republikanische Austeritätspolitik“ durchzuhalten. Geld für die Konjunktur, für Schutzausrüstung und Einnahmeausfälle könne aus Sonderfonds abgezogen und durch Streichen des Weihnachtsgeldes für höhere Beamt*innen freigemacht werden. Zweifel sind angebracht, ob die Strategie bei offiziell gut 8.300 Infizierten und schon fast 700 Toten ausreicht (Stand 21.4.). Es dürften, das räumt selbst Regierungsepidemiologe López Gatell ein, bis zu zehnmal mehr sein, denn es wird viel zu wenig getestet.

Wirtschaftliche und soziale Folgen

Andererseits: So mau die Maßnahmen zur Eindämmung von Corona auch sind, einigen geht auch das schon viel zu weit. Dem Großunternehmer Ricardo Salinas Pliego und seinem Sprachrohr TV Azteca zum Beispiel. Hier wird gewaltig Stimmung gegen López Gatell gemacht. Pikant dabei: Eigentlich sind der Unternehmer und Präsident AMLO Verbündete. Salinas Pliegos Firmenimperium zählt zu seiner Kundschaft vor allem ärmere Mexikaner*innen, die Hauptwählergruppe AMLOs. Das zeigt zumindest eines: Zwischen mehr Quarantäne und sofortiger Wiederbelebung der Wirtschaft brodelt es auch in Mexiko, zwischen den Bundesstaaten, und wohl auch innerhalb der Regierung.

Und nun sind die meisten kleinen Läden dicht, mit heftigen Einnahmeausfällen. Viele Firmen haben Personal entlassen. Die Regierung geht offiziell vom Verlust von etwa 350.000 Jobs aus, das wären etwa soviel, wie im gesamten Jahr 2019 geschaffen werden konnten. Es dürften allerdings weitaus mehr sein und bis Ende des Monats noch erheblich mehr werden. Immerhin bekommen Rentner*innen seit AMLO ein kleine Pension, das hilft schon mal. Aber allein in Mexiko-Stadt arbeiten 1,3 Millionen Menschen informell: auf dem Bau, als Taxifahrer, Hausangestellte, Tamales-Verkäufer*innen, Drehorgelspieler. „Ich lebe von Tag zu Tag. Gestern habe ich alles, was ich verdient habe, für Essen ausgegeben. Wenn ich nicht arbeiten gehe, wovon soll ich dann leben?“ Diese Frage stellt sich derzeit in Mexiko nicht nur dieser Straßenverkäufer. Und so sind immer noch tausende Menschen täglich unterwegs, um zu arbeiten.

Auf den Tianguis, den Straßenmärkten der Stadt, ist seit einigen Wochen erheblich weniger los, oder sie sind ganz geschlossen. In Coyoacán, im Süden, wo ich wohne, scheint meine Avocadoverkäuferin zwar so vergnügt wie immer, trägt aber mittlerweile Maske und einmal-Handschuhe. Auch sie klagt über Umsatzrückgänge: Mehrere Bezirke haben die Straßenmärkte verboten, und wo sie noch geöffnet seien, hätten viele Kund*innen mittlerweile Angst, das Haus zu verlassen. Immerhin: Die Markthallen der Stadt sind nach wie vor geöffnet und, da Restaurants und auch die meisten Fressstände geschlossen sind, mittlerweile rammelvoll.

Auf dem Rückweg nach Hause komme ich an einer Baustelle vorbei, wo ein Einfamilienhaus entstehen soll. Zwei Dutzend Bauarbeiter schuften dort wie eh und je und halten sich bei Laune. Es geht halt nicht anders.

Unseren Podcast zum Artikel könnt ihr hier hören.

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