Nachhaltige Entwicklungsziele, Coronapandemie und indigene Perspektiven

(Lima, 10. Mai 2020, Servindi).- In einem Webinar „Coronavirus und Agenda 2030“ haben Vertreter*innen von indigenen Organisationen, Fridays for Future Peru, dem peruanischen Umweltministerium u.a. indigene Perspektiven auf die Herausforderungen der Agenda 2030 vor dem Hintergrund der Coronapandemie diskutiert. Organisiert wurde das Webinar am 22. April von der peruanischen Organisation Indigener Frauen der Anden und des Amazonas in Peru (ONAMIAP). Deutlich wurden dabei Forderungen nach einer wirksamen Umsetzung der Nachhaltigen Entwicklungsziele und nach Berücksichtigung indigener Lebensrealitäten in Anbetracht der Maßnahmen zur Bewältigung der Coronapandemie.

Die Nachhaltigen Entwicklungsziele (SDGs) der Agenda 2030 sind politische Zielsetzungen, die weltweit der Sicherung einer nachhaltigen Entwicklung auf ökonomischer, sozialer sowie ökologischer Ebene dienen sollen. Sie wurden 2015 von allen Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen verabschiedet. Alle Regierungen der Länder haben sich dazu verpflichtet, Strategien zu entwickeln, um die 17 Ziele (u.a. Armut beenden; Ernährung, Wasser, Gesundheit und Bildung für alle gewährleisten; nachhaltiges Wirtschaftswachstum und menschenwürdige Arbeit; Klimawandel und seine Auswirkungen bekämpfen) bis zum Jahr 2030 zu erreichen. Die Umsetzung drängt.

Coronaviren durchkreuzen indes den ganzen Planeten und streuen viele Ungewissheiten. Nur eins scheint noch klar: Nichts wird so sein wie zuvor. Und denkt man dies weiter, wird auch klar: Vieles wird sich ändern müssen. Durch die Maßnahmen zur Eindämmung des Virus sind nach einer Analyse von Greenpeace Spanien die Werte der Umweltverschmutzung in Spanien auf einen historischen Tiefstand gesunken, wie die Zeitung El País berichtet. Damit wird deutlich, dass wir Teil des Problems sind, aber auch, dass wir Teil seiner Lösung sein können. Für indigene Bevölkerungsgruppen, die sich um den direkten Schutz von Mutter Erde bemühen, ist das allerdings keine neue Erkenntnis.

Herausforderungen, Lösungsansätze und Forderungen

Die Coronakrise zeigt, dass die von uns eingeschlagene und vorangetriebene zerstörerische wirtschaftliche Entwicklung nicht der richtige Weg war und ist. Es ist daher an der Zeit, der indigenen Bevölkerung, die sich dem Vormarsch dieser Entwicklung widersetzt, zuzuhören. Die bedeutendsten Herausforderungen, Lösungsansätze und Forderungen, die im Webinar zur Sprache kamen, sind im Folgenden zusammengefasst.

1. Auf- und Ausbau von Gesundheitssystemen und sanitären Einrichtungen

Das Händewaschen kann vor der Infektion mit dem Coronavirus und auch vor vielen anderen Krankheiten schützen. Doch weltweit haben etwa drei Milliarden Menschen keinen Zugang zu sauberem Wasser. Indigene Bevölkerungsgruppen gehören dazu. Viele von ihnen haben sich bereits mit Covid-19 angesteckt und es zeigt sich, dass ihnen nicht ausreichend und nicht ausreichend ausgestattete Krankenhäuser zur Verfügung stehen. Allein in Peru haben 67 Prozent der indigenen Gemeinden keine Krankenhausversorgung in der Nähe; der Andenstaat finanziert den Gesundheitssektor lediglich mit 2,2 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts. Die indigenen Gemeinden benötigen und fordern deshalb den Auf- und Ausbau von Gesundheitseinrichtungen, und zwar von solchen, die sich an ihren Lebensrealitäten ausrichten. Verschiedene Verbände haben dies bereits zum Ausdruck gebracht, doch bisher blieb die Politik tatenlos.

2. Überwindung von Rassismus und Diskriminierung

Aufgrund der Kolonialgeschichte des lateinamerikanischen Kontinents wurde immer wieder gelehrt und vermittelt, dass indigene Menschen weniger wert oder minderwertige Wesen seien. Dieses koloniale Erbe muss überwunden werden. Es muss damit begonnen werden, indigene Identitäten anzuerkennen und zu stärken. Dazu bedarf es kulturpolitisch engagierter Institutionen und Behörden, die dem Wohl der indigenen Bevölkerung Vorrang vor wirtschaftlichen Interessen geben.

3. Einstellen des Bergbaus bei Gesundheitsrisiken

Obwohl sich in Peru immer mehr Menschen bei der Arbeit im Bergbau mit dem Coronavirus infizieren, wird diese nicht eingestellt. Nicht einmal der Todesfall eines am Virus verstorben Arbeiters führte dazu. Der Bergbau birgt ein sehr hohes Ansteckungs- und Verbreitungsrisiko, weil sich die Minen in den indigenen Gebieten oder direkt in ihrer Nähe befinden. Der Staat bringt die Verbreitung des Virus innerhalb legaler Minen nicht unter Kontrolle und da er in vielen Regionen gar nicht präsent ist und tatenlos bleibt, nehmen auch illegale Aktivitäten wie der illegale Holzeinschlag weiter zu. Das Recht der indigenen Gemeinden auf eine sogenannte vorherige, freie und informierte Konsultation, die die Anhörung der betroffenen indigenen Gemeinschaften sowie ihre Teilhabe an Entscheidungen im Bezug auf ökonomische Maßnahmen garantieren soll, wird somit nicht eingehalten. Wieder einmal zeigt sich, dass dieses Recht nur auf dem Papier zu existieren scheint.

4. Berücksichtigung indigener Lebensrealitäten

Jede von der Regierung geplante und umgesetzte Maßnahme muss die kulturellen Lebensrealitäten der indigenen Gemeinschaften berücksichtigen. Nur so kann sie ihre Ausgrenzung vermeiden. Die Regierung muss sich fragen, wie eine Ausgangssperre für Familien funktionieren soll, die ihre für das Überleben notwendigen Lebensmittel aus entfernten Orten herbeischaffen müssen. Wie kann das untereinander Abstandhalten gelingen, wenn die indigenen Gemeinden auf ein Leben in Gemeinschaft ausgerichtet sind? Und wie kann die indigene Bevölkerung die Eindämmungsmaßnahmen verstehen und nachvollziehen, wenn ihre Sprachen und Weltanschauungen in den Informationen der Behörden keine Berücksichtigung finden?

5. Wiederbelebung der lokalen Wirtschaft

Die Globalisierung darf nicht dazu führen, lokale Wirtschaftszweige zu vernachlässigen, von denen Menschen abhängig sind. Zurzeit wird mehr denn je die Abhängigkeit von der Landwirtschaft deutlich. Und es wird deutlich, dass sie ein vernachlässigter Sektor ist, der gestärkt werden muss, damit die von ihm abhängigen Menschen nicht sich selbst überlassen sind. Ein Webinarteilnehmer betonte und kritisierte diesbezüglich eine Unvereinbarkeit von globalisierter Wirtschaft und Nachhaltigkeit. Die wirtschaftliche Entwicklung, sagte er, ließe sich mit einer nachhaltigen Entwicklung nicht in Einklang bringen, ohne dass dabei Menschen zu Schaden kämen.

6. Anerkennung der traditionellen Medizin

Die traditionelle Medizin der indigenen Gemeinschaften leistet einen wichtigen Gesundheitsbeitrag. Indigene Gemeinden nutzen seit jeher das von ihren Vorfahr*innen vermittelte Wissen über die Natur. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat das Potenzial der traditionellen Medizin in verschiedenen Regionen der Erde bereits anerkannt. Doch die Länder selbst müssen Strategien entwickeln, um dieses Wissen nutzbar zu machen und die moderne Medizin mit diesem zu ergänzen.

7. Verbesserung des Bildungswesens unter Einbeziehung von Umweltfragen

Die Fortführung des Schulunterrichts während der Ausgangsbeschränkungen hat auf der Agenda politischer Entscheidungsträger*innen hohe Priorität. Die Einführung von virtuellem Unterricht hat jedoch die Situation der vielen Kinder nicht im Blick, die keinen Internetzugang haben. Und auch wenn der Unterricht über Radio oder Fernsehen gehalten wird, berücksichtigt das nicht die Lebensrealitäten indigener Gemeinden. Bildung muss sich nach dem soziokulturellen Kontext der Kinder richten. Zudem muss sie Umweltfragen einbeziehen und dabei die Wichtigkeit von Natur- und Umweltschutz unterstreichen.

8. Zivilgesellschaftliche Überwachung der Justiz

In Ländern mit korrupten Regierungen kann die Erlaubnis zur Einäscherung von am Coronavirus verstorbenen Menschen und ihre Bestattung in Massengräbern zum Freifahrtschein werden, Todesursachen nicht rechtmäßig zu untersuchen. Die Umweltschützer*innen, die bspw. gegen den illegalen Holzeinschlag vorgehen, befinden sich dadurch in noch größerer Lebensgefahr. Trotz der Ausgangsbeschränkungen während der Coronapandemie muss es deshalb unbedingt eine Überwachung durch die Zivilgesellschaft geben, damit Verfahren rechtmäßig und transparent durchgeführt werden. In Ländern mit schwachen Demokratien ist die Kontrolle der Justiz und des staatlichen Handelns generell durch eine Aufsicht zivilgesellschaftlicher Initiativen unabdingbar, um Amtsmissbrauch zu unterbinden.

Die Nachhaltigen Entwicklungsziele müssen, vor allem vor dem Hintergrund der Coronakrise, mit Dringlichkeit umgesetzt werden. Erforderlich sind dafür aber klare Strategien der Politik. Indigene Organisationen wie die ONAMIAP oder auch die Koordinierungsstelle der indigenen Organisationen des Amazonasbeckens (COICA) wissen das nur zu genau. Deshalb organisieren sie sich und drängen auf wirksame Antworten, in denen die indigenen Lebensrealitäten Berücksichtigung finden. COICA hat sogar einen Nothilfefonds für das Amazonasgebiet eingerichtet, um die dort lebende indigene Bevölkerung vor einem drohenden Ethnozid zu schützen. Es ist dringend nötig, ihnen jetzt zuzuhören. Oder wollen wir damit etwa bis zur nächsten Pandemie warten?

Übersetzung und Ergänzungen: Katharina Greff

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