von Thomas Guthmann und Ana Salazar Tórrez
(Berlin, 23. März 2013, npl).- Im Stadtzentrum von Boliviens Metropole La Paz sitzt Guillermo auf einem Schemel, seine Skimütze ist über das Gesicht gestülpt. Seit einiger Zeit arbeitet der Dreizehnjährige als Schuhputzer. Das Geld, das er verdient, trägt zum familiären Einkommen bei: „Für die normale Reinigung verlange ich einen Boliviano (ca. zehn Eurocent), wenn die Schuhe sehr schmutzig sind, verlange ich 1,50“ meint der schmächtige Junge mit den dunklen Gesichtszügen.
Manchmal stecken ihm die Kunden mehr Geld zu, „so habe ich auch schon mal 80 Bolivianos verdient. Normal sind aber 30 Bolivianos am Tag“. Für das Geld, das er verdiene, so erklärt Guillermo, „kaufe ich Dinge, die ich fürs Leben benötige, Kleidung oder Materialien fürs Lernen“. Guillermo lernt gerne und geht auch gerne zur Schule. Für einen regelmäßigen Besuch fehlt ihm allerdings beim Schuhe putzen die Zeit; er arbeitet von morgens bis abends.
So wie Guillermo arbeiten in Bolivien viele Kinder. Genaue Zahlen gibt es keine, aber Schätzungen rechnen mit mindestens 300.000 Kindern, die arbeiten; andere Quellen sprechen sogar von bis zu einer Million. Das ist eine ganze Menge. Zehn Millionen Menschen leben in Bolivien, rund vier Millionen davon sind Kinder, davon arbeitet jedes vierte. Arbeitende Kinder sind kein zeitgenössisches Phänomen in der bolivianischen Gesellschaft. Zwar hat sich die Zahl der in extremer Armut lebenden Bolivianer*innen seit dem Amtsantritt von Evo Morales um ein Drittel verringert; dennoch müssen immer noch 25 Prozent der Bevölkerung mit einem Euro am Tag auskommen. Daher ist es oft notwendig, dass Kinder anpacken, um das Überleben der Familie zu garantieren. Das gilt insbesondere für die indigene Bevölkerung des Landes, die überdurchschnittlich hoch von Armut betroffen ist.
Arbeitende Kinder in Bolivien überall sichtbar
Überall arbeiten Kinder im öffentlichen Leben von La Paz. Sie stehen an den Ecken der großen Verkehrsadern und bieten an Ampeln den vorbeifahrenden Autos Kaugummis oder Taschentücher an. Andere arbeiten als Voceros (als Ansager) der Minibusse, sagen die Haltestellen an und kassieren die Fahrgäste ab. In touristischen Gegenden sieht man sie als Souvenirhändler. Auch hinter den Kulissen arbeiten Kinder. Sie waschen dreckiges Geschirr in Restaurants, reinigen Hotelzimmer oder sind in Haushalten tätig. Manche verrichten auch schwere und gefährliche Arbeiten. In stillgelegten Minen des Hochlands zwängen sich bereits Elfjährige durch altersschwache Gänge und Stollen um aus den hintersten Ecken den letzten Rest Silber, Zinn oder Zink herauszuholen.
Nachdem Guillermo einer Kundin die Schuhe geputzt hat, trifft er sich mit anderen Kindern von Alpach. So nennt sich seine gewerkschaftliche Gruppe, in der er sich mit Eintritt in seine Schuhputzertätigkeit organisiert hat. Die Jungs stecken die Köpfe zusammen und besprechen sich. In den vergangenen Jahren haben, international für Furore gesorgt. In verschiedenen Medien nahmen die Leute in Europa und Nordamerika staunend wahr, was in Bolivien alltäglich ist. Die Kinder sind hier nicht mehr ohne Stimme. Die NATS (Niños/as y Adolescentes Trabajadores), wie Guillermo und seine Kumpels von den Großen genannt werden, organisieren sich in ihrem Arbeitsumfeld, in kleinen Gruppen, die Namen, wie Los Hards, Club de Leones oder eben Alpach tragen, und sie haben eine klare Botschaft: Verbietet uns nicht das Arbeiten, sondern unterstützt uns in unserem Kampf für würdige Arbeitsbedingungen.
Kinder sehen sich nicht als Opfer
Denn als Opfer oder ausgebeutete Objekte sehen sie sich nicht. „Wenn der Lohn und die Arbeitszeiten stimmen“ erklärt Manuel, „arbeite ich gerne“. Manuel, der seit seinem zehnten Lebensjahr arbeitet ist der Vorsitzende der Hards: „Die Gewerkschaft unterstützt dich in vielem“ meint Manuel, der in einer Pension die Zimmer putzt, „sie ist wie eine Familie, wir helfen uns gegenseitig und haben zugleich die Möglichkeit in die Öffentlichkeit zu gehen und auf unsere Situation aufmerksam zu machen“.
Gewerkschaftliche Mitgliedschaft ist in Bolivien nichts Außergewöhnliches. Im informellen Sektor ist fast jeder in einem Sindicato organisiert. Die Sammeltaxifahrer einer Route oder die Müllsammler eines Stadtteils. Das Sindicato kümmert sich nicht nur um die Verbesserung der Arbeitsbedingungen, sondern organisiert Schutz und macht so das unsichere informellen Arbeitsleben berechenbarer. Früher machten Kinder in den Sindicatos der Erwachsenen mit. Über Väter, Mütter, Tanten oder größere Brüder wuchsen sie in die Strukturen hinein.
Organisierung von Kindern seit den 90ern
In den 1990er Jahren schließlich begannen Nichtregierungsorganisationen wie Sarantañani, Arco Iris oder Chasqui die ersten Gruppen arbeitender Kinder zu organisieren. Die älteste Gruppe soll jene aus Potosí sein. Hier in den alten Bergwerken des Silberbergs, wo die Bedingungen am Härtesten waren, begannen die Kinder und Jugendlichen sich zuerst zu organisieren. Es ging zunächst nicht darum, höhere Löhne zu fordern, sondern sich in der Gruppe ihrer Lebenssituation bewusst zu werden: Welche Rechte habe ich als Kind? besteht die Möglichkeit, gesundheitliche Fürsorge zu verlangen, wenn ich krank bin? Kann ich zur Schule gehen? Solche Fragen gehen im harten Alltag der arbeitenden Kinder bis heute oft unter.
2000 wuchsen die verschiedenen Gruppen zusammen und die Dachorganisation UNATSBO entstand. 2009 errangen die jungen Arbeiter*innen einen wichtigen politischen Erfolg. Die verfassungsgebende Versammlung erkannte an, dass auch Kinder das Recht haben zu arbeiten. In der neuen Verfassung Boliviens wird, weltweit einzigartig, nicht die Arbeit von Kindern verboten, sondern die Ausbeutung von Kindern unter Strafe gestellt, ein Erfolg der Lobbyarbeit der Kinder.
Mitarbeit an Arbeitsgesetzen
Die gewerkschaftliche Organisation erleichtert den Kindern vor allem ihren Alltag. „Für mich ist es gut, sich zu organisieren“ meint Maria, die ebenfalls Schuhe putzt, „so kennt man seine Rechte und bekommt eine Stimme“. Manuel erzählt von einem Fall, den seine Gruppe selbst löste. „Einmal kam zu uns ein Mädchen, die in einem Restaurant arbeitete, und zu viel arbeiten musste. Die Chefin weigerte sich die Überstunden zu bezahlen. Wir sind gemeinsam mit ihr dort hingegangen. Zunächst hat sich die Restaurantbesitzerin geweigert und das Mädchen beschimpft. Wir bestanden jedoch darauf, dass sie die Überstunden bezahlen müsse“ so der junge Gewerkschafter und fährt fort: „Es gibt viele solcher Fälle von Ausbeutung. Die Gewerkschaft hilft den Kindern ihre Rechte wahrzunehmen“.
Auf einem Kongress der Kindergewerkschafter*innen in La Paz im April versuchten die Delegierten, die Vorgaben der Verfassung in nationale Gesetze und Normen zu gießen und verbindliche Regeln für Kinderarbeit im Arbeitsgesetz zu schaffen. Manuel, Guillermo und Maria sind darauf stolz, dass sie die ersten Kinder sind, die an einem Arbeitsgesetz mitarbeiten.
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