Schon wer sich nur mit einem gebrochenen Fuß in Costa Ricas Hauptstadt San José fortbewegen will, merkt schnell, wieviele Hindernisse der öffentliche Raum so bereit hält: Bürgersteige warten mit steilen Treppen auf; wo einst Gullydeckel waren, tun sich metertiefe Löcher auf; mal springt ein Haus bis zur Straße vor oder eine halb metertiefe Abwasserrinne kreuzt den Weg. Busse haben mehrere hohe Stufen und um Hauptverkehrsstraßen zu queren, müssen erst lange steile Treppen erklommen werden, um auf die enge Fußgängerbrücke zu kommen.
Carlos Barrantes ist Rollstuhlfahrer und Mitglied des Centro Morpho, einer Organisation, die sich in Costa Rica für die Rechte von Menschen mit Behinderungen einsetzt und ihnen ein unabhängiges, autonomes Leben ermöglichen will. Obwohl es in Costa Rica schon seit zwanzig Jahren ein Gesetz gibt, dass die Rechte von Menschen mit Behinderungen definiert und obwohl das zentralamerikanische Land die UN-Behindertenrechtskonvention in nationales Recht überführt hat – das Leben von Menschen mit Behinderungen habe sich kaum gebessert: „Costa Rica ist ein Land voller Barrieren!“, so Barrantes, ein Land, dass zwar viele Gesetze zu Gunsten von Menschen mit Behinderungen beschlossen habe, dass aber diese Gesetze in der Praxis kaum umsetze.
In der Praxis bleibe das Leben für Menschen mit Behinderungen in Costa Rica extrem schwierig, so Jesús Fallas, ein junger Sozialarbeiter, der im nationalen Rat für Rehabilitation und Sondererziehung arbeitet. Gerade im Bildungsbereich gebe es riesige Schwächen: „Es gibt kaum Initiativen für integrative Schulen und wenn, dann ist das reines Make-up“. Menschen mit und ohne Behinderungen würden de facto getrennt, Schülerinnen und Schüler ohne Rücksicht auf die Art ihrer Behinderung gleich unterrichtet. Da bekomme ein gehörloser Junge dieselbe Förderung, wie ein Kind mit Down Syndrom, obwohl dieser Junge nur eine Gebärdendolmetscherin gebraucht hätte, um dem Unterricht der Nicht-Behinderten ganz normal zu folgen. Nach vielen Jahren sogenannten Spezialunterrichts habe der Junge nie richtig lesen und schreiben gelernt. Für Fallas eine Menschenrechtsverletzung, die heute kaum noch gut zu machen sei.
Kaum Bildungsangebote, keine Arbeit
Noch weiter entfernt von der Erfüllung der Forderungen der UN-Behindertenrechtskonvention ist Costa Rica, wenn es um das Recht von Menschen mit Behinderungen geht, den eigenen Lebensunterhalt verdienen zu können. Denn die Arbeitslosigkeit, so Fallas, liege unter Menschen mit Behinderungen bei extremen 66 Prozent! Ein Gesetz zur Inklusion in der Arbeitswelt bezehe sich nur auf den öffentlichen Sektor und es beziehe sich auch nur auf die Besetzung vakanter Stellen, nicht auf die Stellen insgesamt. Da es in vielen Institutionen seit Jahren Einstellungsstopps gebe, bringe diese Regelung praktisch gar nichts. In der Privatwirtschaft gilt ohnehin nur die Freiwilligkeit. So stellten manche Firmen Menschen mit Behinderungen aufgrund persönlichen Engagements oder aus Imagegründen ein. Aber es gibt keine Sanktionen, wenn eine Firma nicht einstellt, die gibt es nicht. Die hohen Arbeitslosenzahlen verwundern so nicht.
Auch im Norden Zentralamerikas, in Guatemala, ist die Situation nicht besser. Dort setzt sich Silvia Quan seit vielen Jahren für die Rechte von Menschen mit Behinderungen ein: Als Ombudsfrau für die Rechte von Menschen mit Behinderungen, oder als Mitbegründerin der kleinen Organisation „Colectivo Vida Independiente de Guatemala“. Silvia ist selbst blind und lebt – in ihrem eigenen Häuschen mit ein paar Katzen – ein sehr unabhängiges Leben, was in Guatemala als Mensch mit Behinderung alles andere als leicht ist. UN-Konvention hin oder her, Menschen in Guatemala würden nach wie vor als Objekte für karitative Projekte und des Mitleids gesehen. Deswegen sei es so wichtig, dass Guatemala die Konvention endlich in der Praxis umsetze, damit Menschen mit Behinderungen sich selbst bemächtigen und ihr Leben und ihre Zukunft selbst bestimmen können.
Integrationsbeispiele in ländliche Gemeinden
Mag in Guatemala und gerade auf dem Land die Situation für Menschen mit Behinderungen mindestens so katastrophal sein, wie in Costa Rica – es gibt auch Beispiele, die Hoffnung machen, vorbildlich sind: Die Gemeindebasierte Rehabilitation, („RBC“, in spanischer, „CBR“ in englischer Abkürzung), habe in einigen Dörfern wunderbares bewirkt. Über medizinische Betreuung, Rehabilitation, und Mobilitätshilfen hinaus beinhaltet es berufliche Schulungen und Weiterbildung. Die Gemeinden haben es sich zum Ziel gesetzt, Menschen mit Behinderung in die Gesellschaft einzubeziehen, sie teilhaben zu lassen, zu einem gleichwertigen Teil der Gesellschaft zu machen. Das Dorf Santiago am Atitlán-See zum Beispiel praktiziert dieses Modell bereits seit zwanzig Jahren und Silvia ist begeistert: „Wenn Du Dich dort umschaust, dann siehst Du, dass Menschen mit Behinderungen hier tatsächlich einbezogen werden, in den Schulen, ins Berufsleben. Und die Familienangehörigen empfinden hier keine Scham, ein behindertes Familienmitglied zu haben.“
Diese Projekte gemeindebasierter Rehabilitation sind ein Fokus der internationalen Entwicklungszusammenarbeit. Japan ist da Vorreiter, aber auch das deutsche Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit fördert punktuell den Aufbau und die Begleitung von Gemeinden. Bislang sind das aber nur Modellprojekte, eine landesweite Umsetzung müssten Guatemalas oder Costa Ricas Regierungen vorantreiben. Dafür fehlen offiziell aber die Mittel, trotz vieler Sonntagsreden aber wohl auch die Bereitschaft, die Rechte von Menschen mit Behinderungen zu garantieren.
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