25. Mai 1810 – 25. Mai 2010: Was hat sich in 200 Jahren Unabhängigkeit geändert?

von Andrés Capelán

(Montevideo, 14. April 2010, comcosur).- Der US-amerikanische Autor und Aktivist Walter Mosley stellt in seinem Buch „Workin’ on the chain gang” (*) folgende Überlegungen an: „Es hat mich immer schon befremdet, welche Bedeutung den Jahrestagen beigemessen wird. Besonders misstrauisch machen mich Gedenkfeiern, die anlässlich eines vollen Jahrzehnts arrangiert werden. (…) Der 200. Jahrestag der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung bot der Nation den Anlass, die Feierlichkeiten auf mindestens zwei Jahre auszudehnen, und das, obwohl die schwarze Bevölkerung des Landes ein volles Jahrhundert länger auf ihre Befreiung warten musste und Frauen, völlig egal, ob schwarz oder weiß, erst im 20. Jahrhundert das Wahlrecht bekamen.“

Da sein Buch im Jahr 2000 erschien, sinnierte Mosley über das Millennium: „Wenn wir unbedingt der Jahrtausendwende gedenken wollen, so erscheint mir ein Trauerzug schon passender. 1000 Jahre sind vergangen, und immer noch werden Genozide verübt. Auch nach 1000 Jahren verhungern noch immer Kinder. Es gibt genug Gründe, unser Scheitern zu beklagen aber kaum einen Anlass, unser Vorankommen zu feiern. (…) Für einen Menschen, der im Begriff ist zu verhungern, hat ein Jahrestag in der Geschichte des Menschengeschlechts keine große Bedeutung.“

Dass ich dieses Buch genau jetzt lese, ist reiner Zufall, noch dazu ein glücklicher, denn die Überlegungen, die Mosley über Feiern anlässlich von Jahrestagen anstellt, sind im 200. Jahr nach der Rebellion Lateinamerikas gegen die spanische Krone hochaktuell. Und es fällt mir schwer, diesen 25. Mai, an dem der berühmte Cabildo Abierto, die offene Bürgerrechtsversammlung, abgehalten wurde, als Jahrestag der Unabhängigkeitsrevolution zu feiern. Denn auch, wenn das Volk vor 200 Jahren forderte, „zu erfahren, was los ist“, verharren die Länder Lateinamerikas (bis auf einige Ausnahmen) in denselben Abhängigkeitsverhältnissen. Auch heute weiß das Volk noch nicht, was los ist: dass sich nämlich heute wie damals alles darum dreht, die Bevölkerung zu unterjochen, damit sie weiterhin widerspruchslos den Reichtum der Reichen und Mächtigen vermehren hilft.

Inspiriert durch die Ideen der Aufklärung und angestachelt durch die Briten, lehnten sich vor 200 Jahren die Patriarchen gegen die spanischen Vizekönige auf, und zwar in erster Linie, um gegen das spanische Handelsmonopol zu rebellieren. Mit dem Scheitern von José Artigas, Mariano Moreno und der anderen wenigen wahren Revolutionären verlief sich auch die Hoffnung auf soziale Gerechtigkeit im Sande, und was als Unabhängigkeitsrevolution begonnen hatte, mündete in einem groß angelegten Täuschungsmanöver, hinter dem sich kaum mehr verbarg als ein paar halbherzige Reformen.

An die Stelle der spanischen Oligarchen aus Europa traten Oligarchen spanischer Abstammung, und statt mit Cádiz handelte man von nun an mit Southhampton. Die Armen blieben weiter arm, die Schwarzen blieben weiter Sklaven, und die indigene Bevölkerung fiel weiterhin den gleichen brutalen, wenn nicht sogar noch brutaleren Massakern zum Opfer. Die Charrúas und die Pampas wurden nicht etwa von den Spaniern ausgerottet. Es waren vielmehr die Verräter Artigas’ und die Mörder Mariano Morenos, die den Völkermord begingen. Und als man die Sklaven nicht mehr brauchte, waren es Männer mit Namen wie Mitre und Flores, die befreite Sklaven gewaltsam rekrutierten und sie zum Töten und zum Sterben nach Paraguay schickten, wo sie, nicht zuletzt auf Geheiß der Briten, gegen das einzige freie Land kämpfen sollten, das in der Geschichte dieses Kontinents jemals existiert hat.

200 Jahre danach ist nicht nur die Befreiung von ausländischem Kapital missglückt. Schlimmer noch: Wir reisen selbst gen Norden und bitten darum, dass man in unseren Ländern Fabriken und Banken einrichtet und Minen in unseren zollfreien Gebieten öffnet, als wäre das die einzige Möglichkeit, die Lebensbedingungen unserer Völker zu verbessern – ganz so, als hätte sich nicht hinreichend gezeigt, dass das ausländische Kapital niemals in unsere Länder gepumpt wird, um das Leben der Menschen hier zu verbessern, sondern nur, um in möglichst kurzer Zeit möglichst hohe Profite zu machen.

Natürlich ist es nicht einfach, aus diesem Teufelskreis herauszukommen, zum einen, weil sich keine Alternative abzeichnet, zum anderen weil der Kapitalismus ein System ist, das in sich recht gut funktioniert. Und dies sage ich trotz der gegenwärtigen Wirtschaftskrise in den USA und in Europa, denn ich bin nicht der Meinung, dass diese Krise auf Fehler im kapitalistischen System zurückzuführen sind, sondern dass diese vermeintlichen Fehler zum System gehören. Die vermeintlichen Krisen sind vielmehr beabsichtigte Phasen der Selbstreinigung, aus denen das System mit neuer Kraft hervorgeht wie nach einer Entlausungskur. Der Kapitalismus funktioniert auf der Grundlage eines wirtschaftlichen Darwinismus: In regelmäßigen Abständen werden die Schwachen ausgesiebt, damit die Starken noch stärker werden können. Übertragen wir dieses Bild auf die Wirtschaft, können wir feststellen, dass zwar die Gründung und der Untergang von Unternehmen zum Kapitalismus gehört, die Reichen jedoch trotzdem immer die selben bleiben.

In vielen Ländern Lateinamerikas gehörten die Menschen, die heute die Oberschicht bilden, schon zur Zeit der Unabhängigkeit, teilweise gar in der Kolonialzeit der Oligarchie an. Hier in Uruguay lässt sich gut nachverfolgen, dass bestimmte Nachnamen über Generationen in den so genannten besseren Kreisen vertreten sind, und es würde mich wundern, wenn das in den übrigen Ländern des Kontinents anders wäre.

Deshalb teile ich Mosleys Position und finde, anlässlich dieses zweihundertsten Jahrestages wäre ein ehrliches und umfassendes Sündenbekenntnis fällig. Wir sollten um Verzeihung bitten, denn noch immer gibt es Menschen, die auf der Straße leben und sich von Abfällen ernähren, und noch immer ist es nicht gelungen, den Traum Artigas’ zu erfüllen und die „Unglücklichsten unserer Gesellschaft zu den Privilegiertesten zu machen“. Wir sollten um Verzeihung bitten, weil auch nach 200 Jahren die Verhältnisse fast dieselben sind.

(*) Walter Mosley – Workin’ on the chain gang” (The University of Michigan Press – 2000)

– Der uruguayische Autor des Artikels ist Schriftsteller und Journalist

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