(Rosario, 25. April 2022, cosecharoja).- Rosario ist bekannt als die Stadt, in der Che Guevara, Lionel Messi und der rock nacional geboren wurden. In den letzten Jahren ist die „Wiege der Landesfahne“ Cuna de la Bandera als die gewalttätigste Stadt Argentiniens zu trauriger Berühmtheit gelangt: Gewalt ist zu einer alltäglichen Erscheinung geworden. Die Mordrate ist viermal so hoch wie der Landesdurchschnitt, in allen Teilen der Stadt werden Menschen ermordet, und die Zahlen der Statistiken verweisen auf den Tod all‘ derer, die es künftig noch treffen wird, denn nichts deutet darauf hin, dass sich die Situation in Zukunft ändert.
Warum Rosario?
Diese Frage stellen sich Bewohner*innen und Außenstehende. Die Beobachtungsstelle für Kriminalpolitik Observatorio de Política Criminal porteño (OPC) hat das Phänomen untersucht und ist zu dem Schluss gekommen, dass das Tragen und der Einsatz von Schusswaffen nicht mehr ausschließlich der Polizei vorbehalten ist. Diese ist bereits vor langer Zeit dazu übergegangen, ihre Macht mit den Protagonisten des organisierten Verbrechens zu teilen. Laut dem Bericht mit dem Titel „Rosario: ein Traum vom Frieden“ war die Veränderung vor etwa zehn Jahren aufgetreten. Die Macht über Leben und Tod teilten sich von nun an Polizei und kriminelle Banden. Der Autor Ariel Larroude nennt drei Dinge, die seiner Ansicht nach diesen Wandel wesentlich begünstigt haben: der Paradigmenwechsel beim Konsum und der Kommerzialisierung von Drogen, die Konsolidierung einer klandestinen und gewalttätigen Wirtschaftsordnung und die Atomisierung der territorialen Kontrolle durch die Polizei. Der Jurist schlägt daher unter anderem die Änderung des argentinischen Drogengesetzes, die Verringerung der Waffendichte in der Zivilgesellschaft und die Einrichtung eines Krisenstabs vor.
Tod als Geschäft
Dem Bericht zufolge wurden zwischen 2013 und 2021 in allen Stadtvierteln vorsätzliche Tötungsdelikte begangen, insbesondere jedoch in den „Randbezirken“, wo seit einigen Jahrzehnten eine zunehmende Ausbreitung der Armut zu beobachten ist. Die sozialen Einrichtungen, die zuvor die bestehenden Konflikte aufgegriffen und bearbeitet hatten, existieren nicht mehr. In den letzten 30 Jahren wurde es mehr und mehr Aufgabe der Polizei, einzuschreiten und zu sanktionieren. „Dadurch gelang es den uniformierten Beamten, aber auch der organisierten Kriminalität, eine exorbitante Macht anzuhäufen und das Gewaltpotenzial der ärmsten Viertel zu verwalten und wirtschaftlich zu nutzen. Straffreiheit oder die Aussetzung geltenden Rechts – alles wurde zu einer käuflichen Ware.“
Wie die Untersuchung nachweisen konnte, steht hinter der Mehrzahl der Morde nicht „gewöhnliche“ Kriminalität, sondern organisierte Kriminalität und insbesondere Drogenkriminalität. Über 75 Prozent der Morde wurden sorgfältig geplant. In 85 Prozent der Fälle kamen Schusswaffen zum Einsatz. „Die meisten Opfer waren männlich und zwischen 15 und 29 Jahre alt. Fast alle wurden in der Öffentlichkeit getötet“, erklärt Larroude; das heißt, die Konflikte werden auf offener Straße und vor den Augen der Polizei ausgetragen. Das wiederum lässt vermuten, dass die Polizei offenbar (freiwillig oder unfreiwillig) einen Teil ihrer Macht an kriminelle Banden abgetreten hat. „ So gerät die Lösung gesellschaftlicher Konflikte mehr und mehr in die Hände der organisierten Kriminalität, die häufig mit Gewalt und außerhalb des Gesetzes agiert“, warnt er. Eine Besonderheit in Rosario sei, dass die Polizei nicht im Verbund agiere, so der Forscher. Die Behörde sei zersplittert und unfähig, organisiert zu handeln, das erkläre die Vielzahl der Bluttaten und das uneffektive Vorgehen gegen soziale Gewalt.
Neuer Absatzmarkt für Drogen
Durch die Ausweitung des lokalen Drogenmarkts sei die Mordrate schließlich auf ein dermaßen alarmierendes Niveau angestiegen. Argentinien ist nicht nur Transitland für den Export nach Europa, sondern auch Konsument und Produzent. In Rosario entstanden mehrere Labors zur Herstellung von Kokainpaste und mehrere Bunker zur Lagerung der Drogen. Der Wandel im Drogenbusiness, der Ende der 1990er Jahre begann und sich Anfang fortsetzte, ist somit keine direkte Folge der sozialen Verelendung, sondern geht auf andere Faktoren zurück, zum Beispiel die Zunahme des Konsums, die illegale staatliche Regulierung als Form der Verbrechensbekämpfung und die politische Steuerung der öffentlichen Sicherheit.
Klandestine Parallelgesellschaft
Aus der Veränderung am Absatzmarkt und der Atomisierung der Polizei sei letztendlich eine klandestine Parallelgesellschaft entstanden, in der Mord und Gewaltverbrechen einen festen Platz haben: Gewalt dient als Mittel der Konfliktlösung; Erlöse aus illegalen Aktivitäten werden als wichtige ökonomische Triebfeder betrachtet. In Rosario sei die Situation deshalb so zugespitzt, weil der Drogenhandel hohe Gewinne einbringt und die staatlichen Sicherheitsbehörden die Gewalt auf der Straße nicht eindämmen, sondern fördern und für ihre Zwecke nutzen, so der Anwalt. Während der zersplitterte Polizeiapparat sich um die Gewinne streitet, kann die organisierte Kriminalität in aller Ruhe das Geschäft mit der Straffreiheit stärken und ausbauen, die ein wichtiger Bestandteil der klandestinen Parallelgesellschaft ist. Für die Ausweitung ihrer Strukturen macht sich das organisierte Verbrechen die Sehnsüchte der jungen Menschen aus den sozial schwachen Vierten zunutze, die sich vor allem schnelles Geld, Identität und Respekt wünschen.
Gewaltstrukturen bedrohen auch Kinder
Hinsichtlich der Ausübung von Gewalt bestehen scheinbar weder Grenzen noch Tabus. Angesichts der immer brutaleren Übergriffe verliert sich die Fähigkeit, Wut, Angst, Schrecken oder wenigstens Erstaunen zu empfinden, so als wäre es das Normalste auf der Welt, ein Baby zu erschießen. Alle 31 Stunden wird in Rosario ein Mensch getötet. Die Hälfte sind Jugendliche. Tendenz steigend. Der Verlust von Menschenleben, ausgedrückt in einer gesichtslosen Zahl erzeugt die Lücke, in der die Gefühle verschwinden, obwohl die Zahl immer größer wird, Tag für Tag und Monat für Monat, und obwohl ein weiteres Tabu gebrochen wurde, irreparabel, unwiederbringlich. Ende Januar starben ein Ehepaar und ihr Baby im Kugelhagel. Sie kamen von einer Hochzeit. Letzte Woche: Vier bewaffnete Männer steigen aus einem Lieferwagen und beginnen zu schießen, zwei auf die Windschutzscheibe, zwei auf das Fenster, genau wie im Film. Das Baby macht ihnen keine Angst, und es hält sie nicht ab. Sie töten einfach. Drogenkriminalität ist das Stichwort, das die passende Erklärung liefert. Ein riesiger Teppich legt sich über die Stadt und lässt ihren Schmutz verschwinden. Noch ein Baby wurde umgebracht. Keine Frage: Selbst Kinder sind in dieser Stadt nicht sicher. Das Tabu war bereits gebrochen. Die Verwunderung verflüchtigt sich. Das Sterben, das Töten wird zur Selbstverständlichkeit. Als wäre es normal, ein Baby zu töten.
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[…] Von Ana Laura Píccolo (cosecha roja / NPLA) […]