Krisen, Proteste und so gar kein olympischer Elan: Rio de Janeiro ist pleite und die Stimmung miserabel

Von Andreas Behn, Rio de Janeiro

(Rio de Janeiro-Berlin, 25. Juli 2016, npl).- „Die beiden Hubschrauber dort drüben? Die kreisen hier schon die ganze Woche, wohl wegen dieser Olympiade“, sagt eine Frau an einer Bushaltestelle im Rio de Janeiro. „Stimmt, das ist ja bald. Wird ein einziges Chaos werden“, stimmt ihre Begleiterin zu und schüttelt heftig den Kopf: „Diese Stadt ist einfach nicht für solch eine Veranstaltung gemacht. Alles wird drunter und drüber gehen, der Verkehr stillstehen und die Polizei hat ja jetzt schon nichts mehr unter Kontrolle!“

Ermüdung und Katerstimmung

Wären nicht die vielen Plakatwände, Werbetafeln allerorten und Spots im Fernsehen, wäre Vielen in Rio kaum bewusst, dass am 5. August die Olympischen Spiele beginnen. Dass das ganze Stadtgebiet mit Verkehrsbaustellen gespickt ist und überall neue Gebäude entstehen, ist bereits eine Routine, die lange vor der Fußball-WM 2014 begann. Es herrscht Ermüdung, Katerstimmung.

Die Brasilianer*innen sind mit anderen Dingen beschäftigt: Mit der Wirtschaftskrise, die das Bruttoinlandsprodukt seit zwei Jahren deutlich schrumpfen ließ und die Arbeitslosigkeit verdoppelt hat. Und mit der politischen Krise: Präsidentin Dilma Rousseff ist aus fadenscheinigen Gründen vorübergehend abgesetzt worden und ihr bisheriger Vize führt eine Übergangsregierung, die in Windeseile einen radikalen Rechtsruck durchboxt. Ein riesiger Korruptionsskandal, der Spitzenpolitiker*innen aller Parteien ins Gefängnis bringen könnte, bestimmt die Schlagzeilen. Rousseff, Gewerkschaften und soziale Bewegungen sprechen von einem Putsch. Sicher ist nur, dass Interimspräsident Michel Temer die Spiele eröffnen wird, aber Rousseff auch im Stadion sein wird. Sprechen werden wohl beide nicht, denn Temer ist ähnlich unbeliebt wie Rousseff und würde bestimmt gnadenlos ausgepfiffen werden.

Bundesstaat musste finanziellen Notstand ausrufen

Olympische Stimmung in Rio und Brasilien – Fehlanzeige! Höchstens unter den Sportler*innen, freiwilligen Helfer*innen und Funktionär*innen. Sogar Bürgermeister Eduaro Paes, der gebetsmühlenartig eine großartige, perfekt organisierte Feier voraussagt, lässt erste Zweifel erkennen. Letzte Woche sprach er von einer „vergebenen Chance“, da das Land just jetzt Krise und Chaos durchmache. Ganz anders als beim Zuschlag in Jahr 2009, als die Wirtschaft florierte und Brasilien weltweit als hoffnungsvoller Global Player gelobt wurde. Die Stimmung in der Stadt ist schon so lange so schlecht, dass einige inzwischen glauben, dass eine Art Galgenhumor dann doch ein grandioses Fest bescheren wird.

Ende Juni musste der Bundesstaat Rio sogar den finanziellen Notstand ausrufen. Angesichts leerer Kassen drohe ein „Chaos bei Sicherheit, im Gesundheitsbereich und im Verkehr während der Spiele“, erklärte der Gouverneur. Auch das wichtigste Verkehrsprojekt, die U-Bahnanbindung des Olympia-Stadtteils Barra an das Zentrum, sei gefährdet. Alarmiert bewilligte die Bundesregierung innerhalb weniger Tage eine Finanzspritze von umgerechnet knapp einer Milliarde Euro.

„Willkommen in der Hölle“

Werbewirksam hatte die Polizei deutlich gemacht, dass der korrupte Moloch Rio de Janeiro mehr Geld brauche. „Welcome to hell – Willkommen in der Hölle“ stand auf Transparenten, mit denen Beamt*innen und Feuerwehrleute an einigen Tage die Einreisenden am internationalen Flughafen von Rio begrüßten. Da die Löhne seit Wochen nicht mehr gezahlt wurden, könne niemand die Sicherheit von Sportler*innen und Publikum garantieren. Auch die Lehrer*innen vieler öffentlicher Schulen streiken. In Krankenhäusern werden Patient*innen abgewiesen, weil es an Personal und Betten mangelt.

Obwohl Paes, der Gouverneur und die Bundesregierung, die alle der rechtsliberalen Regierungspartei PMDB angehören, sich die Schuld an den Zuständen gegenseitig in die Schuhe schieben, zweifelt niemand daran, dass das Sportspektakel mit einigen Improvisationen gut über die Bühne gebracht wird. Zumal den Schulen Zwangsferien verordnet wurden, damit sich die Stadt leert.

Zusammenbruch sehr wahrscheinlich

„Doch danach ein Zusammenbruch ist sehr wahrscheinlich, uns stehen chaotische Zeiten bevor“, erklärt der Jurist Enrique Souza. Die immensen Ausgaben – insgesamt sollen die Spiele rund zehn Milliarden Euro kosten, wovon die öffentliche Hand weit über die Hälfte beisteuert – und Missmanagement machten einen Bankrott unumgänglich. „Die Frage ist nur, ob es vor oder nach den Paralympics passiert“, prophezeit Souza. Vom 7. bis 18. September werden Athletinnen und Athleten mit Behinderung in Rio um Medaillen wetteifern. Doch die meisten politisch Verantwortlichen denken nur bis zum 21. August, wenn die ersten Olympischen Spielen in Südamerika vorüber und ein Großteil der internationalen Presse abgereist sein werden.

Der August wird auch der Monat der Demonstrationen und Proteste werden. Neue politische Plattformen wie „Frente Brasil Popular“ oder „Povo sem Medo – Volk ohne Angst“, die zahlreiche Bewegungen und linke Parteien vereinen, werden die internationale Aufmerksamkeit für Aktionen gegen den Staatsstreich nutzen. Gewerkschafter*innen, Lehrer*innen und viele öffentliche Angestellte kündigten Demonstrationen gegen die Sparpolitik und den rechten Rollback an.

Protest: Jogos da exclusão – Spiele der Exklusion

Auch das olympiakritische „Comitê Popular” plant Aktionen. Die ersten fünf Augusttage wird es ”Jogos da exclusão – Spiele der Exklusion“ geben, mit Mahnwachen, Veranstaltungen und einer Großdemonstration zum Auftakt. Thema sind Menschenrechtsverletzungen durch Megaevents, wie etwa die Räumung Tausender Familien und die Privatisierung öffentlicher Räume.

CC BY-SA 4.0 Krisen, Proteste und so gar kein olympischer Elan: Rio de Janeiro ist pleite und die Stimmung miserabel von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert