(Santa Barbara, 25. September 2024, open democracy).- Wenn sich das Flugzeug dem Flughafen Alfonso Bonilla Aragón nähert, wird die grüne Wüste der Zuckerrohrplantagen sichtbar. Wo früher ein Fluss war, ist heute ein ausgetrocknetes Flussbett oder eine Lagune mit fauligem Wasser zu sehen. Ein paar Bäume stehen inmitten des erdrückenden Grüns der Monokulturen, aber nicht genug, um die einheimische Fauna zu unterstützen.
Von oben betrachtet, eingezwängt zwischen Stadt und Zuckermühlen, wirkt der Flughafentower wie ein Monument des Raubtierkapitalismus, der in der agroindustriellen Zuckerwirtschaft des Südostens Kolumbiens keine Grenzen kennt. Das Flugzeug landet, und man wird von einer unerträglichen Hitze empfangen. Beim Verlassen des Flughafens warnt ein freundlicher Taxifahrer, dass der Ascheregen, der vom Himmel fällt, von den brennenden Zuckerfeldern stammt. Es ist Erntezeit. Willkommen in Cali, der selbsternannten Hauptstadt des kolumbianischen Pazifikhinterlandes, der Hauptstadt der Salsa, der Filiale des Himmels.
Mit 2,4 Millionen Einwohner*innen ist Cali die drittgrößte Stadt Kolumbiens und hat soeben Tausende von Besucher*innen aus der ganzen Welt zu empfangen, die am UN-Gipfel über die biologische Vielfalt COP 16 (20. Oktober bis 1. November 2024) teilgenommen haben. Die Wahl von Cali als Gastgeberstadt für die COP 16 ist nicht nur auf die lebendige Kulturlandschaft und das Nachtleben zurückzuführen, die die Stadt international bekannt gemacht haben, sondern auch auf die Komplexität der Stadt, die von einem gesegneten Ökosystem aus feuchten Ebenen, den Anden und sieben Flüssen umgeben ist.
Von Exporten und Vertreibungen geprägte Stadt
Cali ist auch ein strategisches landwirtschaftliches Zentrum für die kolumbianischen Exporte sowie das Hauptziel von Tausenden von Binnenvertriebenen (hauptsächlich Schwarze und Indigene), die vor einem vielschichtigen bewaffneten Konflikt fliehen, der seit mehr als sechzig Jahren andauert. Die Vertreibung der Afrokolumbianer*innen ist sicherlich in erster Linie auf den von den USA unterstützten Krieg gegen die Drogen zurückzuführen, der wegen seiner humanitären Katastrophe von einigen als Öko-Ethnozid angeprangert wird: Die Ausbringung von Glyphosat aus der Luft zerstört Wälder, vergiftet Flüsse und macht Ackerland unfruchtbar.
Dieser komplizierte Kontext, ein „gelobtes Land“ für die Enterbten der Erde zu sein, eine Bastion der Eingliederung Kolumbiens in die Weltwirtschaft durch eine Politik der Vertreibung und des Todes, veranschaulicht die Herausforderungen und Möglichkeiten, über historische Wiedergutmachung, Klimagerechtigkeit und das Recht auf Stadt in einer intersektionalen und kohärenten Weise nachzudenken.
Die anthropozäne Stadt
Cali vereint alle Herausforderungen einer Welt, die in Flammen steht. Mindestens 30 Prozent der Einwohner*innen leben in Armut oder extremer Armut, neun Prozent sind arbeitslos und 49 Prozent arbeiten informell, wobei Frauen und afrokolumbianische Bevölkerungsgruppen die Hauptlast der wirtschaftlichen Gewalt tragen.
Die Ärmsten der Armen leben im überwiegend schwarzen Ostteil der Stadt, wo auch die Arbeitslosigkeit und die Zahl der Morde am höchsten sind. Obwohl die Mordrate in der Stadt stetig zurückgegangen ist, gehört sie immer noch zu den höchsten des Landes (52,9 pro 100.000 gegenüber einem nationalen Durchschnitt von 26 pro 100.000), wobei sich die Morde überproportional auf schwarze Jugendliche konzentrieren.
Ihre prekäre Position in der städtischen Ökonomie, etwa permanent arbeitslos zu sein oder oder auf den die östlichen Stadtteile umgebenden Zuckerrohrfeldern ermordet zu werden, steht in direktem Zusammenhang mit der strukturellen kolonialen Gewalt, die ihre Vorgängergenerationen erlitten haben – als Versklavte, Zuckerrohrarbeiter*innen, Opfer des bewaffneten Konflikts oder Stadtbewohner*innen, die in vom Staat aufgegebenen Gebieten leben und Überschwemmungen und Hitzewellen ausgesetzt sind.
Das bedeutet auch, dass die Debatten über die Rolle der Stadt bei der Eindämmung des Klimawandels ernsthaft mit der grundlegenden Frage nach den Eigentumsverhältnissen (wessen Stadt?) und der Zeitlichkeit (wessen Anthropozän?) des Urbanen verknüpft werden müssen. Das Anthropozän wird als geologischer Zustand verstanden, in dem alle Bewohner*innen der Erde gleichermaßen für die irreparablen Auswirkungen auf die Erde und alle seine Ökosysteme verantwortlich sind.
In diesem geologischen Zeitalter gelten Städte zu Recht als die konkreteste Manifestation der menschlichen Vorherrschaft über alle anderen irdischen Wesen und ihre Lebensräume. Zweifellos warnt die Asche, die die Besucher*innen am Flughafen begrüßt, vor den globalen Zusammenhängen einer Klima-„Krise“, die in den Städten ihre extremste Ausprägung hat.
In der Tat warnt die UNO, dass die Städte die Hauptursache für den Klimawandel (sie sind für 70 Prozent der CO2-Emissionen verantwortlich) und die Hauptquelle für ökologische Notfälle sind. Der Anstieg des CO2-Gehalts in der Atmosphäre wird dazu führen, dass Stürme, Erdrutsche, Überschwemmungen, Dürren und tropische Katastrophen in den Städten der Welt häufiger auftreten.
Dies ist eine Realität, die die gesamte Bevölkerung von Cali tagtäglich erträgt, auch wenn sie aufgrund des Rassismus ungleich verteilt ist. Das Anthropozän von Cali ist ein Szenario rassistischer Unterwerfung, in dem der „vollwertige“ Caleño die südlichen und nordöstlichen Teile der Stadt bewohnt, wo Luftqualität, Konzentration von Grünflächen, räumliche Mobilität und urbane Sicherheit dialektisch garantiert sind, im Gegensatz zum „weniger wertigen“ schwarzen und indigenen Menschen, der die vernachlässigten Gebiete bewohnt und der in der schwarzen Frau des so genannten Aguablanca-Viertels seinen extremen Bezugspunkt räumlicher Ungleichheit und Unterdrückung hat.
Bombastische Namen und leere Versprechungen
Es ist diese rassistische Strukturierung dieser verletzlichen Stadt, die im Zentrum der Diskussionen über Nachhaltigkeit und Klimagerechtigkeit hätte stehen müssen, wenn die COP 16 mehr sein sollte als ein weiteres seltsames Akronym in einer langen Liste bombastischer Namen und leerer Versprechungen.
Bewacht von elftausend Soldaten der kolumbianischen Armee und viertausend Polizist*innen sowie einer intensiven Kampagne, um die Obdachlosen von den Straßen zu vertreiben, war Cali vorbereitet auf eine „sterile“ und „sichere“ Debatte über die Zukunft des Planeten – eine Debatte, die, so war zu hoffen, nicht nur ein Aufguss früherer weißer Klagen sein sollte, trotz starker schwarzer Proteste. Leider wird uns eine „sichere“ und „sterile“ Debatte nicht sehr weit bringen.
Auf der COP 16 sollten die auf der COP 15 in Kunming-Montreal festgelegten Ziele für 2022 überprüft und überarbeitet werden. Damals hatten die Vertreter*innen der Regierungen und der Zivilgesellschaft einen globalen Biodiversitätsrahmen (GBF) von 23 Punkten festgelegt. Damit sollten unter anderem der Schutz und die Wiederherstellung von aquatischen, küstennahen und ozeanischen Ökosystemen um mindestens 30 Prozent erhöht, die Zahl der weltweiten Schutzgebiete erhöht, die Entwaldung auf nahezu Null reduziert, der Einsatz von Pestiziden in der Landwirtschaft verringert und ein internationaler Biodiversitätsfonds in Höhe von 200 Milliarden US-Dollar eingerichtet werden. Obwohl das Zieljahr des GBF 2030 ist, gab es allen Grund zur Annahme, dass dies ein weiterer Plan sein würde, der durch die Untätigkeit der Regierungen und die Gier des globalen Kapitalismus zunichte gemacht wurde.
Stadt der Hoffnung
Die Umweltsituation der schwarzen und indigenen Gemeinschaften am Stadtrand von Cali (die ihrerseits in ungleicher Weise den Verwundbarkeiten ausgesetzt sind, die die vor fünf Jahrhunderten von der Kolonialherrschaft eingeführten „Ismen“ weltweit hervorgebracht haben) bietet die Gelegenheit zu einem brutalen Realitätscheck, zumindest für die Teilnehmer*innen der COP 16.
Kann die Geografie von Leben und Tod in Cali eine politische Landkarte sein, um den Planeten zu lesen? Obwohl die Rekordtemperaturen (bis zu 38 Grad Celsius im August 2024 im Stadtgebiet) die Besucher*innen an eine unausweichliche planetarische Bedingung erinnern, werden sie sich vielleicht in den oberen Vierteln der Stadt wohler fühlen, wo die Konzentration von Parks und Bäumen die Temperaturen erträglicher macht als im vergessenen östlichen Teil von Aguablanca, wo der Mangel an Grünflächen und die höhere Bevölkerungsdichte ihn zum heißesten Teil der Stadt machen.
Brutaler Realitätscheck für Konferenzteilnehmer*innen
Außerdem sind sie nicht von Erdrutschen bedroht, wie die überwiegend indigene Bevölkerung des Viertels Siloé in den Andenausläufern. Und wenn sie schließlich das Glück haben, die Regenfälle einer immer unberechenbareren Regenzeit zu erwischen, werden die Überschwemmungen in den Armenvierteln am Erdwall (Jarillón) des sterbenden Cauca-Flusses wohl unbemerkt bleiben.
Obwohl Cali als anthropogene Stadt betrachtet werden kann, mit seiner dystopischen Urbanität, umgeben von grüner Wüste, sterbenden Flüssen und akuter rassistischer Gewalt, ist sie auch eine Stadt der Hoffnung.
Von der Geschichte des antikolonialen Kampfes der indigenen Völker über die von Afrokolumbianer*innen, die vor dem rassistischen Terror vertrieben wurden, errichteten Stadtviertel bis hin zu den jüngsten Protestwellen gegen die perverse Logik des städtischen Kapitalismus (verkörpert durch den sechzigtägigen landesweiten Streik von 2021, der eine Steuerreform rückgängig machte und soziale und ethnische Gerechtigkeit forderte), Cali, das zum Epizentrum einer kollektiven Bewegung wurde, die Francia Márquez an die Macht brachte, die erste schwarze Vizepräsidentin des Landes, verkörpert wie keine andere Stadt den Geist einer neuen Ära, in der „niemand frei ist, solange nicht alle frei sind“, wie es die Stimmen der Jugendlichen während des sozialen Aufstands von 2021 zum Ausdruck brachten.
Als Menschen, die besessen, verkauft und vertrieben wurden (von der Menschheit und aus der Stadt) sind die schwarzen Gemeinschaften gut positioniert, um den Weg aus dem Anthropozän zu weisen und Antworten auf die drängenden Herausforderungen zu geben. Die grundlegendste Lektion ist, dass Klimagerechtigkeit nicht von lokaler und globaler rassistischer Wiedergutmachung getrennt werden kann. Die Menschheit muss eine historische Schuld gegenüber dem schwarzen und indigenen Teil des Planeten begleichen, dem die Rechnung für die ökologische „Katastrophe“ nicht aufgebürdet werden kann.
Die Besucher*innen hätten also gut daran getan, ihre klimatisierten Kongresszentren zu verlassen und in den marginalisierten Vierteln die Kunst zu erlernen, die anthropogene Stadt zu bewohnen und neu zu erfinden, was immer das auch bedeuten mag. Die Ablehnung der geologischen Epoche der weißen Männer und das permanente Leiden der schwarzen und indigenen Gemeinschaften unter Umwelteinflüssen verdeutlichen, dass die Stadt am Fuß der Anden ein Zentrum ständiger Rebellion gegen die Zuckeraristokratie ist. Diese Gemeinschaften, die gegen deren anhaltende Kontrolle über das Land kämpfen, bieten der Welt wertvolle Lektionen über eine radikale schwarze Ethik für ein gemeinsames Schicksal.
Übersetzung: Deborah Schmiedel
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